Wahl der Rollstuhl-Versorgung für selbständige Fortbewegung

Urteil des Landessozialgericht Niedersachsen vom 13.09.2022
Aktenzeichen: L 16 KR 421/21

Menschen mit Behinderung können ein Wahlrecht bei der Hilfsmittelversorgung haben.

Zum Anspruch auf Versorgung mit einem Husk-E: Ein querschnittsgelähmter Versicherter, der mit einem Aktivrollstuhl nicht mehr ausreichend versorgt ist und Elektrounterstützung benötigt, kann nicht gegen seinen Willen auf einen Elektrorollstuhl verwiesen werden, der ihn zur Passivität bei der Erschließung des Nahbereichs zwingt. Bei der Prüfung des Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V ist bei grundrechtsorientierter Auslegung unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, und dem Recht auf persönliche Mobilität nach der UN-Behindertenrechtskonvention zu berücksichtigen, dass das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden darf in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen ist volle Wirkung zu verschaffen. Die Leistung muss dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lassen und die Selbstbestimmung fördern. Dem Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens dient es, einen behinderten Menschen so lange wie möglich seinen Wünschen entsprechend nicht mit einem von ihm nicht gewünschten Elektrorollstuhl zu versorgen, der ihn zur absoluten Passivität zwingt.

  • Ausführlicher Original-Text des Urteils
  • Original-Gesetzestext
    SGB IX § 168 (vorher geltende Fassung: SGB IX § 85)

Darum geht es im Leitsatz:

Eine Person mit Querschnittslähmung hat Anspruch auf eine Rollstuhl-Versorgung, die eine selbstbestimmte und selbständige Fortbewegung ermöglicht. 

So kam es zum Rechtsstreit

Der Kläger ist in seiner Bewegung körperlich stark eingeschränkt. Mit einem Aktiv-Rollstuhl („Handbike“) konnte er sich trotzdem bisher selbständig fortbewegen.
Weil seine körperlichen Beschwerden zunahmen, beantragte der Kläger eine zusätzliche Elektro-Unterstützung für seinen Aktiv-Rollstuhl: Ein elektrisches Rollstuhl-Zuggerät („Husk-E“). Mit diesem Zusatzgerät könnte er sich ähnlich aktiv und selbstbestimmt bewegen wie bisher.
Aber die Krankenversicherung lehnte die höheren Kosten für das Rollstuhl-Zuggerät ab. Stattdessen bot sie dem Kläger einen Elektro-Rollstuhl an. Der E-Rollstuhl unterstützt den Kläger zwar bei der Fortbewegung. Aber nur passiv und nicht aktiv wie der Aktiv-Rollstuhl mit dem Zuggerät. Im E-Rollstuhl wäre es dem Kläger nicht mehr möglich, sich selbständig mit einer Rest-Aktivität fortzubewegen.

So hat das Gericht entschieden:

Es ist nicht zumutbar, den Kläger gegen seinen Willen mit einem E-Rollstuhl zu versorgen. Denn der E-Rollstuhl hindert den Kläger am Wunsch, weiterhin körperlich aktiv zu sein. Das Wunsch- und Wahlrecht eines Menschen mit Behinderung zu stärken ist ein wichtiges Teilhabe-Ziel.

Daher muss die Krankenversicherung dem Kläger ein Rollstuhl-Zuggerät bezahlen, mit dem er noch körperlich aktiv sein kann.

Hintergrundinformationen

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