Urteil
Kostenübernahme für einen Blindenführhund aus der Schweiz

Gericht:

LSG Bayern


Aktenzeichen:

L 4 KR 56/96


Urteil vom:

17.06.1998


Tenor:

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. März 1996 aufgehoben und der zugrundeliegende Bescheid der Beklagten vom 22. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 1994 dahin abgeändert, daß die Beklagte der Klägerin die vollständigen Beschaffungskosten für den Blindenführerhund "Kay von Happy Paradise" zu erstatten hat.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, in vollem Umfang die Kosten zu erstatten, die der Klägerin für die Neuversorgung mit einem Blindenführhund entstanden sind.

Die am ...1949 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie ist infolge pränataler Rubella (Röteln) vollständig blind.
Nachdem der Blindenführhund "Bella", den die Beklagte ihr als Sachleistung zur Verfügung gestellt hatte, im Mai 1993 erkrankt war, erkundigte sich die Klägerin nach ihren Angaben bei deutschen Führhundschulen wegen eines geeigneten Nachfolgers. Von den drei oder vier von ihr kontaktierten Schulen habe sie die Auskunft erhalten, daß vor April 1994 nicht mit der Lieferung eines Hundes gerechnet werden könne. Nachdem die Klägerin erfahren hatte, daß vom Verein für Blindenhunde und Mobilitätshilfen (VBM) in der Schweiz sofort ein Blindenführhund (Kay von Happy Paradise) zur Verfügung gestellt werden könne, wandte sie sich am 13.09.1993 an die Beklagte und beantragte die Neuversorgung mit einem Blindenführhund bzw. die Kostenübernahme. Dem Antrag beigefügt waren ein Gutachten der Medizinischen Tierklinik der Universität München vom 08.09. 1993 zum Gesundheitszustand der vorhandenen Führhündin Bella, ein ärztliches Attest des behandelnden Arztes der Klägerin zur Notwendigkeit der Versorgung mit einem Blindenführhund, eine Stellungnahme des Orientierungs- und Mobilitätslehrers ... , ein Gutachten des Dr ... über die Eignung des angebotenen Hundes "Kay von Happy Paradise" als Blindenführhund und schließlich ein Kostenvoranschlag für diesen Hund (39.460,00 Schweizer Franken).

Die Beklagte teilte daraufhin der Klägerin "der Eile wegen" mit Fax vom 22.09.1993 mit, sie werde sich an den Kosten des von ihr gewünschten Blindenführhundes aus der Schweiz nicht beteiligen. Eine Versorgung mit einem Blindenführhund sei in Deutschland sichergestellt. Am 24.09.1993 informierte die Beklagte dann die Klägerin, sie sei bemüht, Alternativangebote von inländischen Führhundschulen einzuholen, um ihr den beantragten Blindenführhund als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Kosten in Höhe von ca. 45.360,00 DM für einen Blindenführhund aus der Schweiz könnten unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes nicht anerkannt werden. Sofern die Klägerin auf der Versorgung in der von ihr gewünschten Form bestehe, fielen die Mehrkosten in den eigenverantwortlichen Bereich. In welcher Höhe eine Kostenbeteiligung möglich sei, werde mitgeteilt, sobald entsprechende Angebote vorlägen.

Laut Akten der Beklagten gingen dort von deutschen Blindenführhundschulen zwei Angebote ein, und zwar am 24.09. und am 01. 10.1993. Es wurden Kosten von 15.700,00 DM und 26.675,00 DM veranschlagt, die Lieferzeit sollte jeweils ein Jahr betragen.
Nachdem sie am 27.09.1993 den Einführungslehrgang mit dem Blindenführhund aus der Schweiz begonnen hatte, beantragte die Klägerin am 29.09.1993 beim Sozialgericht München, die Beklagte zu verpflichten, vorläufig die Kosten für diesen Hund zu übernehmen.

Der Antrag wurde zurückgenommen, nachdem sich die Beklagte mit Bescheid vom 22.11.1993 ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs bereit erklärt hatte, einen Zuschuß in Höhe von 25.000,00 DM zu den Aufwendungen des von der Klägerin selbst beschafften Blindenführhundes aus der Schweiz zu leisten. Sie habe inzwischen ermitteln können, daß eine Versorgung mit einem Blindenführhund aus deutschen Blindenführhundschulen zu diesem Preis möglich sei. Die Notwendigkeit der Versorgung mit einem Blindenführhund werde grundsätzlich anerkannt.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 24.01.1994 zurückgewiesen. Ein Blindenführhund sei ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Der von der Klägerin beantragte Blindenführhund aus der Schweiz zum Preis von ca. 45.000,00 DM übersteige unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten das Maß des Notwendigen. Die Ermittlungen der Kasse hätten ergeben, daß eine Versorgung mit einem Blindenführhund im Inland zum Preis von ca. 25.000,00 DM sichergestellt sei. Der Zuschuß der Kasse begrenze sich daher auf die Kosten, die für die Bereitstellung eines Blindenführhundes im Inland angefallen wären.

Mit der hiergegen zum Sozialgericht München erhobenen Klage machte die Klägerin erneut geltend, ihr Anspruch auf Erstattung der vollen Kosten gründe sich auf § 13 Abs.3 SGB V. Die Neuversorgung mit einem Führhund sei notwendig gewesen, die unaufschiebbare Sachleistung sei von der Beklagten nicht erbracht werden. Die Beklagte habe der Klägerin auf ihren Antrag keine Versorgungsalternative zu benennen vermocht. Auch konkrete Wartezeiten seien nicht genannt worden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 27.03.1996 abgewiesen. Der Anspruch auf volle Kostenerstattung könne nicht auf § 13 Abs.3 SGB V gestützt werden. Bei der Versorgung handele es sich nicht um eine unaufschiebbare Leistung. Es sei weder eine Versorgungslücke noch eine Systemstörung gegeben, wenn die Beklagte die nahtlose Neuversorgung mit einem Blindenführhund ohne Wartezeit nicht erbringen könne. Außerdem habe sich die Klägerin ein aufwendigeres Hilfsmittel als notwendig selbst verschafft, für das sie die Mehrkosten selbst zu tragen habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung, mit der die Klägerin unter anderem geltend macht, die Krankenkassen seien ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen, durch Abschluß von Verträgen mit Blindenführhundschulen dafür zu sorgen, der Sicherstellung ihrer Versorgungspflichten mit Blindenführhunden als Sachleistung systematisch und zuverlässig, auch im dringlichen Einzelfall nachzukommen. Es bestehe eine Systemstörung bzw. Versorgungslücke.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.03.1996 aufzuheben und den Bescheid vom 22.11.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.1994 dahin abzuändern, daß die Beklagte auch die restlichen Anschaffungskosten für den Blindenführhund "Kay von Happy Paradise" übernimmt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, daß die Klägerin ihr innerhalb einer angemessenen Frist keine Möglichkeit gegeben habe, einen Blindenführhund als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Das Vorgehen der Klägerin habe keine Zweifel daran gelassen, daß sie den beantragen Hund aus der Schweiz in Anspruch nehmen wollte.

Im übrigen wird hinsichtlich der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG München Urteil vom 27.03.1996 - S 3 KR 70/94

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 143 SGG statthafte Berufung, die wegen der Höhe des Beschwerdewertes nicht der Zulassung nach § 144 SGG bedarf und außerdem form- und fristgerecht eingelegt wurde (§ 151 SGG), ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten erweisen sich insoweit als rechtswidrig, als sie die Erstattung der der Klägerin entstandenen Kosten in vollem Umfang ablehnen. Die fehlerhaften Verwaltungsentscheidungen sind abzuändern und das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben.

Der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin ergibt sich aus § 13 Abs.3 SGB V. Danach hat eine Krankenkasse Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war und sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine Ausnahmeregelung des § 2 Abs.2 Satz 1 SGB V, wonach die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen erhalten.

Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, daß die Klägerin gemäß § 33 Abs.1 SGB V einen Anspruch auf einen Blindenführhund als Sachleistung hatte. Dementsprechend wurde der Klägerin bereits ihr erster Blindenführhund "Bella" als Sachleistung zur Verfügung gestellt, ebenso richtet sich ihr Antrag vom 13.09.1993 nicht etwa nur, wie die Beklagte im Fax vom 22.09.1993 schreibt, auf Kostenübernahme für einen Blindenführhund aus der Schweiz, sondern auf Neuversorgung mit einem Blindenführhund, also auf die Sachleistung. Die Klägerin hat diesen Antrag auch gestellt, bevor sie das Training mit "Kay von Happy Paradise" begonnen, sich also die Leistung selbst verschafft hat.

Die Beklagte hat die Gewährung der Sachleistung zu Unrecht verweigert. Sie hat sie nicht einmal konkret angeboten. Im Fax vom 22.09.1993 hat sie der Klägerin lediglich mitgeteilt, eine Versorgung mit einem Blindenführhund sei in Deutschland sichergestellt. Woher sie diese Überzeugung nimmt, bleibt offen. Aktenkundig ist jedenfalls, daß ihr bis zu diesem Tag kein Angebot vorlag. Die Klägerin weist auch zutreffend darauf hin, daß es noch keine gemäß § 126 Abs.1 Satz 1 SGB V zugelassenen Leistungserbringer für das Hilfsmittel Blindenführhund gibt und entsprechend auch keine für die Versorgung der Versicherten geltenden Vereinbarungen vorliegen. Es wäre deshalb nach Auffassung des Senats Verpflichtung der Beklagten gewesen, nicht nur, wie sie im Schreiben vom 24.09.1993 mitgeteilt hat, alternativ Angebote einzuholen, sondern der Klägerin konkret mitzuteilen, welchen Führhund sie ihr von welcher Blindenführschule zu welchem Termin als Sachleistung anbieten kann. Dies hat sie weder im Bescheid vom 23.11.1993 noch im Widerspruchsbescheid vom 24.01.1994 getan. Sie geht vielmehr in den streitgegenständlichen Bescheiden unzutreffend davon aus, die Klägerin habe nur die Kostenübernahme für die Versorgung mit dem Blindenführhund "Kay von Happy Paradise" beantragt. Dies entspricht zum einen dem eindeutigen Wortlaut des Antrags vom 13.09.1993, zum anderen hätte die Beklagte den Antrag auch nicht beschränkt auf die Erstattung für die Kosten der Selbstbeschaffung des Hilfsmittels auffassen dürfen. Sie wäre vielmehr verpflichtet gewesen, einen konkreten Weg aufzuzeigen, der zu den gesetzlich möglichen Leistungen führt (BSG vom 28.11.1979, SozR 2200 Nr.57 zu § 182 und vom 12.08. 1982, SozR 2200 § 137 Nr.18). Das heißt, sie hätte einen geeigneten Hund als Sachleistung anbieten müssen, der im Einzelfall durchaus das Tier sein kann, das der betroffene Versicherte schon zuvor als zu ihm passend ausgewählt hat.

Der Senat verkennt nicht, daß die Leistungspflicht der Beklagten im vorliegenden Fall ungleich schwieriger zu realisieren ist, als bei anderen Hilfsmitteln. Das darf aber nicht dazu führen, die Hände in den Schoß zu legen. Die Beklagte hat auf den klägerischen Antrag lediglich bei zwei Hundeschulen angefragt und von dort (neben der Preisangabe) abschlägige Auskünfte hinsichtlich einer aktuellen Lieferungsmöglichkeit erhalten. Danach hat die Beklagte nichts mehr unternommen, um ihrer Leistungspflicht nachzukommen, sondern sich auf die Selbstbeschaffung durch die Klägerin verlassen. Selbst wenn man mit der Beklagten der Auffassung sein sollte, der seinerzeit offensichtlich allein zur Verfügung stehende schweizer Hund sei trotz fehlender Alternativen in der Anschaffung unwirtschaftlich (die dazu von der Beklagten angestellten Ermittlungen sind wenig aussagekräftig für die Tatbestandsprüfung des § 12 Abs.1 SGB V), stünde dies einer Erstattung nicht im Wege. Im Verharren ihrer Untätigkeit hat die Beklagte deutlich zu erkennen gegeben, daß sie es ohne Rechtsgrund ablehnt, die ihr obliegende Leistung zu erbringen (§ 13 Abs.3 2. Alt. SGB V).

Rechtsfolge ist, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten für die selbstbeschaffte Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, d.h., die vollen Kosten für die Beschaffung des Blindenführhundes "Kay von Happy Paradise" zu übernehmen.

Nach Auffassung des Senats kann deshalb offen bleiben, ob nicht bereits eine Systemstörung deshalb vorliegt, weil nach den von den Beteiligten eingeholten Auskünften die Beschaffung eines von der Beklagten als wirtschaftlich angesehenen Führhundes ca. ein Jahr gedauert hätte.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Obsiegen der Klägerin.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG zuzulassen, sind nicht gegeben.

Referenznummer:

R/R2377


Informationsstand: 03.11.2005