Urteil
Pflegeversicherung - Schwerstpflegebedürftigkeit - Begriff - nächtlicher Hilfebedarf - Berücksichtigung - pflegevermeidender oder pflegebedarfsmindernder Maßnahmen

Gericht:

LSG Darmstadt 14. Senat


Aktenzeichen:

L 14 P 540/97


Urteil vom:

17.06.1999


Grundlage:

  • SGB 11 § 14 Abs 4 |
  • SGB 11 § 15 Abs 1 S 1 Nr 3 |
  • SGB 11 § 15 Abs 3 Nr 3 |
  • SGB 11 § 2 Abs 1

Orientierungssatz:

1. Zum Begriff des nächtlichen Hilfebedarfs iS von § 15 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 11.

2. Ist ein krankheits- oder behinderungsbedingtes Funktionsdefizit durch Hilfsmittel - und dazu sind auch Inkontinenzartikel zu zählen - voll oder teilweise kompensiert, so beseitigt bzw mindert dies den tatsächlich bestehenden Hilfebedarf für die Verrichtungen des § 14 Abs 4 SGB 11, der allein maßgebend ist.

3. Die Berücksichtigung pflegevermeidender oder pflegebedarfsmindernder Maßnahmen wird indes durch den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Selbstbestimmung begrenzt, dh, diese Maßnahmen sind danach nur zu berücksichtigen, wenn sie dem Pflegebedürftigen auch zuzumuten sind.

Rechtsweg:

SG Darmstadt Urteil vom 13.02.1997 - S 10 P 490/96
BSG - B 3 P 16/99 R

Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Die am 1914 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung unter Zuordnung der Pflegestufe III ab dem 1. April 1995 nach den Vorschriften des Elften Buches Sozialgesetzbuch -- Soziale Pflegeversicherung -- (SGB XI).

Die Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Es besteht bei ihr der Zustand nach einem im Jahre 1988 erlittenen Schlaganfall mit einer armbetonten Hemiparese links, der Verschleiß der großen Gelenke, ein medikamentös eingestelltes Krampfleiden sowie eine Harninkontinenz und gelegentliche Stuhlinkontinenz. Die Klägerin lebt in einer eigenen Wohnung im gleichen Haus wie ihr Sohn, der sie zusammen mit der Schwiegertochter versorgt. Weitere Unterstützung hat die Klägerin durch einen ambulanten Pflegedienst. Seit Februar 1996 wird sie zudem an zwei Tagen der Woche, seit Anfang des Jahres 1997 an drei Tagen der Woche, in der Zeit von 9:00 bis 16:00 Uhr in einer Tagespflegestation betreut.

Aufgrund des Antrages der Klägerin auf Leistungen der Pflegeversicherung von September 1994 ließ die Beklagte die Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) durch Dr. K in der häuslichen Umgebung begutachten. Der Arzt gab in seinem Gutachten vom 16. März 1995 unter anderem an, daß die Klägerin aufgrund der bei ihr vorliegenden Streßinkontinenz mit Einlagen versorgt sei. Bei Diarrhöe bestehe Stuhlinkontinenz. Nachts sei die Klägerin mit Windeln versorgt. Die Klägerin werde zwischen 22:00 und 23:00 Uhr ins Bett gebracht. Morgens werde sie zwischen 7:00 und 8:00 Uhr zur Toilette gebracht. Eine zunächst installierte Klingel sei wieder entfernt worden, da die Klägerin nachts immer ohne Anlaß geklingelt habe. Dr. K kam zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin ein Hilfebedarf in einem Ausmaß vorliege, der einen Zeitaufwand von mindestens drei Stunden täglich erfordere und damit der Pflegestufe II entspreche.

Aufgrund dieses Gutachtens bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 4. Mai 1995 Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach der Pflegestufe II. Die Klägerin erhob Widerspruch mit der Begründung, ihre Erachtens seien die Voraussetzungen für eine Einstufung in die Pflegestufe III gegeben. Die Beklagte veranlaßte daraufhin nochmals eine Untersuchung in der häuslichen Umgebung durch den MDK, und zwar durch Dr. H Dieser Arzt bestätigte im wesentlichen das Vorgutachten von Dr. K und führte aus, ein Pflegeaufwand von regelmäßig fünf Stunden täglich werde nicht erreicht. Es bestehe auch kein nächtlicher Pflegebedarf, so daß die medizinischen Voraussetzungen für die Pflegestufe III nach dem SGB XI nicht vorliegen würden. Mit Bescheid vom 3. November 1995 und einer Berichtigung vom 10. November 1995 lehnte die Beklagte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach der Pflegestufe III ab. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, der tägliche Zeitaufwand der für sie erforderlichen Pflege übersteige fünf Stunden. Auch nächtlichen Hilfebedarf könne man angesichts der Tatsache, daß sie sich nicht selbst helfen könne, nicht ausschließen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 1996, der Klägerin mit Postzustellungsurkunde zugestellt am 22. Februar 1996, wies die Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, die Feststellungen des Medizinischen Dienstes hätten ergeben, daß die vom Gesetz geforderte Rund-um-die-Uhr-Versorgung für die Zuordnung der Pflegestufe III nicht gegeben sei.

Die Klägerin hat am 20. März 1996 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben und vorgetragen, mittlerweile sei ihr Tageslauf so gestaltet und organisiert, daß eine einigermaßen zufriedenstellende Versorgung gesichert sei. Optimal sei dies jedoch nicht, an sich wäre es erforderlich, daß ihre Betreuungspersonen nachts nicht nur für etwaige Notfälle im gleichen Haus wohnen würden, sondern sie auch ein- bis zweimal zur Toilette führen würden. In der ersten Zeit nach ihrer Erkrankung hätten ihre Angehörigen dies versucht, hätten jedoch erkennen müssen, daß sich die Rundumpflege der Klägerin nicht gewährleisten lasse, wenn die Nachtruhe ständig gestört werde. In einem -- für alle Beteiligten mühsamen -- Lernprozeß sei ihre Versorgung so umgestellt worden, daß ihre Angehörigen, von Ausnahmen abgesehen, wenigstens in der Zeit von 23:00/24:00 Uhr bis 7:00 Uhr eine ungestörte Nachtruhe hätten. Ihre schlechte körperliche Verfassung und der deswegen erforderliche Versorgungsbedarf rechtfertigten es, ihr Leistungen der Pflegeversicherung unter Zuordnung der Pflegestufe III zu bewilligen.

Das Sozialgericht hat zur Ermittlung des Pflegeaufwandes der Klägerin einen Befundbericht der behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. M vom 24. Mai 1996 eingeholt und von den Pflegepersonen der Klägerin ein Pflegetagebuch über den Zeitraum vom 29. April 1996 bis zum 15. Juni 1996 erstellen lassen.

Mit Urteil vom 13. Februar 1997 hat das Sozialgericht Darmstadt die Klage abgewiesen und zur Begründung in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Leistungen der häuslichen Pflege nach der Pflegestufe III, da zur Überzeugung des Gerichts die Notwendigkeit nächtlicher Pflege nicht gegeben sei. Bei der Definition des Begriffs der Nacht sei von den individuellen Schlafgewohnheiten des Pflegebedürftigen auszugehen. Vorliegend ist daher zu Grunde zu legen, daß die Klägerin nach den Angaben im Pflegetagebuch zwischen 22:00 und 23:00 Uhr zu Bett gehe und in der Zeit zwischen 7:00 und 9:00 Uhr morgens aufstehe. In dem Aufzeichnungszeitraum im Pflegetagebuch sei konkret nur in vier Nächten ein Hilfebedarf bei der Klägerin aufgetreten. Dies reiche für die Annahme einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung nicht aus. Die Klägerin selbst habe vorgetragen, daß ihre Pflege nunmehr dergestalt geregelt worden sei, daß nachts üblicherweise Hilfeleistungen nicht mehr anfielen. Aus der Tatsache, daß eine ursprünglich installierte Rufanlage wieder entfernt worden sei, sei zu schlußfolgern, daß eine begründete Gefahr für die Klägerin nicht bestehe. Aufgrund ihrer Versorgung mit Windeln sei auch gewährleistet, daß Hilfen bei der Blasen- und Darmentleerung in der Nacht nicht anfielen. Es sei insoweit gerichtsbekannt, daß die Versorgung in Pflegeheimen in dieser Art üblicherweise durchgeführt werde. Die wenigen Male, bei denen der Klägerin während der Nacht ein Getränk gereicht worden sei, könnten eine andere Sichtweise nicht begründen; deshalb allein bedürfe es nicht des ständigen Bereitstehens einer Pflegeperson.

Gegen das ihr am 18. März 1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem am 17. April 1997 beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingegangenen Schreiben Berufung eingelegt. Sie hat geltend gemacht, sie sei aufgrund ihrer geschädigten gesundheitlichen Verfassung seit 1990 außer Stande, ihren Alltag zu bewältigen und für ihre persönlichen Bedürfnisse zu sorgen. Besonders belastend sei für sie, daß sie die Toilette nicht mehr selbständig aufsuchen könne. Während des Tagesablaufes lasse sich das Problem schlecht und recht dadurch in den Griff bekommen, daß sie regelmäßig und häufig zur Toilette geführt werde. Nachts sei sie zwar mit Windeln versorgt, die indes nicht verhindern könnten, daß sie das Gefühl der Nässe habe. Die Tatsache, daß sie die geschilderten Einschränkungen in Kauf nehme, um die Belastbarkeit ihrer Angehörigen nicht über das verkraftbare Maß hinaus zu strapazieren, rechtfertige es nicht, davon auszugehen, sie habe keinen nächtlichen Pflegebedarf.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Februar 1997 aufzuheben
und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 4. Mai 1995 und unter
Aufhebung der Bescheide vom 3. November 1995 und vom 10. November 1995 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 1996 zu
verurteilen, ihr Leistungen bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe III
ab dem 1. April 1995 zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das abweisende Urteil des Sozialgerichts Darmstadt sei zutreffend. Regelmäßiger nächtlicher Hilfebedarf liege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur dann vor, wenn die Pflegeperson nahezu jede Nacht Hilfe bei einer der im Gesetzeskatalog angeführten Verrichtungen leisten müsse, wobei die ständige Bereitschaft dazu nicht ausreiche. Ein konkreter nächtlicher Hilfebedarf sei von der Klägerin nicht darlegt worden. Diese berufe sich vielmehr auf einen fiktiven nächtlichen Pflegebedarf, der durch die Pflegeperson nicht realisiert werde. Maßgeblich sei für die Zuordnung einer Pflegestufe indes allein der medizinisch indizierte Pflegeaufwand. Die Versorgung der Klägerin nachts mit Inkontinenzartikeln erscheine als ausreichend, da in den gutachtlichen Stellungnahmen des MDK Hautentzündungen und Dekubitusgeschwüre nicht beschrieben worden seien und solche Pflegedefizite auch von der Klägerin nicht vorgetragen worden seien.

Der Senat hat zur Ermittlung des Pflegeaufwandes, insbesondere des nächtlichen Pflegebedarfs, von den Pflegepersonen der Klägerin erneut ein Pflegetagebuch erstellen lassen, und zwar für den Zeitraum vom 18. Mai 1998 bis zum 31. Mai 1998.

Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand, insbesondere hinsichtlich des Inhalts der Pflegetagebücher, wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte mit Anlagen sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -- SGG --).

In der Sache ist die Berufung nicht begründet. Das Sozialgericht Darmstadt hat die Klage durch Urteil vom 13. Februar 1997 zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat nach dem Pflegeversicherungsgesetz keinen Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe III. Die angegriffenen Verwaltungsentscheidungen der Beklagten sind nicht zu beanstanden.

Leistungen bei häuslicher Pflege erhalten durch Pflegesachleistung (§ 36 SGB XI), durch Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (§ 37 SGB XI) oder als Kombinationsleistung (§ 38 SGB XI) Pflegebedürftige.

Pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes sind nach § 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Nach § 14 Abs. 4 SGB XI sind dabei gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1 der Vorschrift im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung (Nr. 1), im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung (Nr. 2) sowie im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Nr. 3). Neben diesen drei Bereichen der sogenannten Grundpflege gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen (§ 14 Abs. 4 SGB XI). Die Hilfe zu diesen Verrichtungen besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen (§ 14 Abs. 3 SGB XI). Für die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz sind pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Dabei unterscheidet § 15 SGB XI Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI) sowie Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI) sowie Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI).

Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (1. SGB XI-
Änderungsgesetz) vom 14. Juni 1996 (BGBl. I, Seite 830) -
- mit Wirkung ab dem 25. Juni 1996 -- sind nunmehr auch Zeitparameter für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit aufgestellt worden. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI neuer Fassung (n.F.) muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesschnitt (gemeint: täglich im Wochendurchschnitt) in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI), in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen mit einem Anteil der Grundpflege von mindestens zwei Stunden (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI) und in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden mit einem Anteil der Grundpflege von mindestens vier Stunden (§ 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI). Dabei sind die Zeitvorgaben in § 15 Abs. 3 SGB XI n. F. den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien vom 7. November 1994 (siehe dort Ziffer 4.1) entnommen worden. Auch für Versicherungsfälle, die vor Inkrafttreten der Neuregelung des § 15 Abs. 3 SGB XI eingetreten sind, ist eine Orientierung an dieser gesetzlichen Konkretisierung damit zutreffend, weil sie die Vorstellung des Gesetzgebers wiedergibt (siehe Wilde, in: Hauck/Wilde, Sozialgesetzbuch, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. August 1997, § 15 Rdnr. 16; BT-Drucksache 12/5262 zu § 12 zu Abs. 4, Seite 97; BSG, Urteile vom 19. Februar 1998 -- B 3 P 6/97 R -- und vom 6. August 1998 -- B 3 P 9/97 R --).

Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, daß die Klägerin nicht schwerstpflegebedürftig ist und damit nicht der Pflegestufe III zugeordnet werden kann, da sie nicht im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI im Bereich der Grundpflege täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf.

In § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI selbst ist nicht definiert, wann die Voraussetzung "rund um die Uhr, auch nachts" anzunehmen ist. In der betreffenden Vorschrift ist weder erläutert, wann der Begriff der Nacht erfüllt ist, das heißt, wann die Nachtpflege beginnt und endet, noch enthält die Vorschrift Vorgaben, ob in dieser Zeit überhaupt Hilfebedarf anfallen muß oder aber bereits die Möglichkeit eines Hilfebedarfs ausreichend sein kann.

Bei dem Begriff der Nacht im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 3 SGB XI sehen die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-
Richtlinien) vom 21. März 1997 eine generelle Zeitbegrenzung der Nacht auf die Zeit von 22:00 bis 6:00 Uhr vor. Das in § 2 Abs. 1 SGB XI normierte Selbstbestimmungsrecht spricht indes dafür, auf die Schlafgewohnheiten des Pflegebedürftigen abzustellen (siehe dazu Urteil des Senats vom 19. Februar 1998 -- L 14/1 P 732/97 --). Bei beiden Lösungen läßt sich nicht ausschließen, daß der Leistungsberechtigte letztlich über die Leistungshöhe bestimmt. Bei der generellen Zeitbestimmung hätte es der Pflegebedürftige z. B. in der Hand, allein durch ein Zu-Bett-Gehen nach 22:00 Uhr oder ein Aufstehen vor 6:00 Uhr die Voraussetzung des nächtlichen Hilfebedarfs herbeizuführen (siehe dazu die Entscheidung des BSG vom 18. März 1999 -- B 3 P 3/98 R --
; in der eine generelle Zeitbegrenzung für sachgerecht gehalten wird). Der Senat hält es für sachgerecht, die individuellen Lebensgewohnheiten (auch) bei der Nachtruhe zu berücksichtigen, indes mit der Einschränkung (insoweit modifiziert der Senat seine Entscheidung vom 19. Februar 1998 -- a.a.O. --), daß sie sich innerhalb der Bandbreite der gesellschaftlich allgemein akzeptierten Verhaltensnormen halten müssen (siehe auch Wilde, in: Hauck/Wilde, Sozialgesetzbuch, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. Februar 1999, § 15 Rdnr. 8a). Sofern die Schlafgewohnheiten des Pflegebedürftigen nicht mehr als üblich im Sinne eines gesellschaftlich allgemein anerkannten Tag- und Nachtrhythmus' anzusehen sind, hält auch der Senat eine Orientierung an der generellen Zeitbegrenzung in den Begutachtungs-
Richtlinien für geboten, um eine Ungleichbehandlung der Pflegebedürftigen bei der Zuordnung der Pflegestufe III zu vermeiden. Vorliegend kann als Nachtzeit die üblicherweise von der Klägerin eingehaltene Nachtruhe zwischen dem Zu-Bett-Gehen (zwischen 22:00 Uhr und 23:00 Uhr) und dem Aufstehen (zwischen 7:00 Uhr und 9:00 Uhr) zugrunde gelegt werden, die sich aus den beiden dem Senat vorliegenden Pflegetagebüchern ergibt. Die übliche Nachtruhe der Klägerin liegt im Rahmen dessen, was gesellschaftlich als übliche Schlafphase angesehen werden kann, und weicht im übrigen nicht wesentlich von der generellen Zeitbegrenzung in den Begutachtungs-
Richtlinien ab.

Den Begriff "nächtlicher Hilfebedarf" hat das Bundessozialgericht in seinen inzwischen dazu ergangenen Entscheidungen (siehe Urteile vom 19. Februar 1998 -- B 3 P 2/97 R -- und -- B 3 P 6/97 R --) restriktiv in dem Sinne ausgelegt, daß auch nachts regelmäßig Hilfe bei den Verrichtungen der Grundpflege anfallen müsse und eine gelegentlich anfallende Hilfe während der Nacht auch dann nicht ausreiche, wenn zusätzlich eine ständige Einsatzbereitschaft einer Hilfsperson erforderlich sei. Für diese enge Auslegung, wie sie auch die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien) vom 21. März 1997 vorsehen, spricht nach Auffassung des Bundessozialgerichts unter anderem, daß § 14 Abs. 3 SGB XI unter dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI verwendeten Begriff "Hilfe" nur bestimmte Maßnahmen verstehe, nämlich Unterstützung, teilweise oder vollständige Übernahme der Verrichtungen sowie Beaufsichtigung und Anleitung. Die Verfügbarkeit bzw. Einsatzbereitschaft stelle demgegenüber nur eine Voraussetzung für die Möglichkeit der Hilfeleistung dar, die lediglich eine gewisse zeitliche und örtliche Gebundenheit der Pflegeperson mit sich bringe, ihr aber erlaube, daneben noch andere Dinge zu verrichten oder zu schlafen. Sie unterscheide sich damit deutlich von der Beaufsichtigung und Anleitung, die die Pflegeperson zeitlich und örtlich binden, und erst Recht von der körperlichen Unterstützung der Verrichtungen, die die Pflegeperson zudem noch physisch belasten.

Bisher hat das Bundessozialgericht offen gelassen, ob diese nächtliche Hilfe täglich, das heißt 365 Tage im Jahr, anfallen muß, um eine Zuordnung zur Pflegestufe III zu rechtfertigen, oder ob, und gegebenenfalls wie häufig, es an einem nächtlichen Hilfeerfordernis auch fehlen darf. Ausreichend soll es jedenfalls nicht sein (siehe BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 -- B 3 P 2/97 R --), wenn die Zahl der Nächte, in denen keine Hilfe erforderlich ist, überwiegt (nach der Entscheidung des BSG vom 6. August 1998 -- B 3 P 9/97 R -- ist bei einem nur an jedem zweiten Tag auftretenden Hilfebedarf jedenfalls ein "täglicher" Hilfebedarf zu verneinen).

Für die vorliegende Entscheidung kommt es letztlich nicht auf die Frage an, wie häufig ein konkreter Pflegeeinsatz durch Pflegepersonen in der Nacht anfallen muß, um die Voraussetzung der Pflege rund um die Uhr, auch nachts im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI zu erfüllen. Nach ihrem eigenen Vortrag hat die Klägerin nämlich nur gelegentlich Bedarf an aktiver Hilfe im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI durch Angehörige während der Zeit ihrer üblichen Nachtruhe. Dies ergibt sich aus den Eintragungen in den im Klage- und Berufungsverfahren jeweils durch die Pflegepersonen der Klägerin erstellten Pflegetagebüchern, wobei nach den Angaben der Klägerin in diesem Zeitraum keine Veränderungen im Bereich der Pflege aufgetreten sind. In dem Pflegetagebuch über den Zeitraum vom 29. April 1996 bis zum 15. Juni 1996 sind Hilfeleistungen in vier Nächten dokumentiert. Dabei ist die Klägerin in einer dieser Nächte zur Toilette geführt worden und es sind die Windeln gewechselt worden; in den übrigen drei Nächten (vom 10. auf den 11. Juni, vom 14. auf den 15. Juni und vom 15. auf den 16. Juni) sind ihr Getränke gereicht worden. Darüber hinaus läßt sich dem Pflegetagebuch entnehmen, daß in fünf weiteren Nächten eine der Pflegepersonen kontrolliert hat (gegen 24:00 Uhr), ob die Klägerin schläft. In dem Pflegetagebuch über den Zeitraum vom 18. Mai 1998 bis zum 31. Mai 1998 sind in fünf Fällen nächtliche Hilfeleistungen dokumentiert. In einem Fall (Nacht vom 27. auf den 28. Mai) ist der Klägerin ein Getränk gereicht worden. In den vier übrigen Nächten (vom 20. auf den 21. Mai, vom 21. auf den 22. Mai, vom 22. auf den 23. Mai und vom 23. auf den 24. Mai) wurde die Klägerin zur Toilette geführt und die Windel gewechselt. Für vier weitere Nächte enthält auch dieses Tagebuch wieder Aufzeichnungen darüber, daß eine Pflegeperson nach dem Zu-Bett-Gehen der Klägerin nachgesehen hat, ob sie schläft. Der dokumentierte Umfang an nächtlichen Hilfeleistungen genügt den Anforderungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI für eine Zuordnung der Stufe III nicht. Die Klägerin trägt indes auch nicht vor, daß die derzeit in der Nacht tatsächlich geleistete Pflege durch ihre Angehörigen die Voraussetzung der Pflege rund um die Uhr, auch nachts erfüllt. Vielmehr macht sie geltend, durch Organisation, das heißt spätes Zu-Bett-Gehen nach vorherigem Toilettengang und Benutzung von Inkontinenzartikeln in der Nachtzeit, sei eine Belastung ihrer Pflegepersonen nachts zwar nicht (mehr) erforderlich; sie könne indes nicht schlechter stehen, als der Pflegebedürftige, der sich solchen organisatorischen bzw. pflegeerleichternden Maßnahmen nicht unterziehe. Ein solcher fiktiver nächtlicher Bedarf an Hilfe kann indes bei der im vorliegenden Fall konkret gegebenen Pflegesituation keine Berücksichtigung finden.

Inhaltlich stellen die §§ 14 und 15 SGB XI bei der Definition der Pflegebedürftigkeit auf den konkreten Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens im häuslichen Bereich ab und messen diesen aufgrund der Pflegezeit einer nicht professionellen Pflegeperson (Wilde, in: Hauck/Wilde, a.a.O., § 14 Rdnr. 21). Zu berücksichtigen ist hiernach der individuell erforderliche objektive Hilfebedarf, der durch Art und Schwere der krankheits- und behinderungsbedingten Funktionseinbußen bestimmt wird. Neben dem konkreten häuslichen Umfeld (Wohnsituation) sind außerdem die individuellen Lebensgewohnheiten des Pflegebedürftigen insoweit zu berücksichtigen, als sie sich innerhalb der Bandbreite der gesellschaftlichen allgemein akzeptierten Verhaltensnormen halten (siehe auch oben zum "Begriff der Nacht" Wilde, in: Hauck/ Wilde, a.a.O., § 15 Rdnr. 8a). Ist ein krankheits- oder behinderungsbedingtes Funktionsdefizit durch Hilfsmittel -- und dazu sind auch Inkontinenzartikel zu zählen (siehe Begutachtungs-
Richtlinien D 5.0 III 1.) -- voll oder teilweise kompensiert, so beseitigt bzw. mindert dies den tatsächlich bestehenden Hilfebedarf für die Verrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI, der allein maßgebend ist (Wilde, in: Hauck/Wilde, a.a.O., § 14 Rdnr. 29). Die Berücksichtigung pflegevermeidender oder pflegebedarfsmindernder Maßnahmen wird indes durch den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Selbstbestimmung (§ 2 Abs. 1 SGB XI) begrenzt, das heißt, diese Maßnahmen sind nur zu berücksichtigen, wenn sie dem Pflegebedürftigen auch zuzumuten sind (Wilde, in: Hauck/Wilde, a.a.O., § 14 Rdnr. 29; Udsching, Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs, VSSR 4/1996, S. 285, 286, 287). Unter diesem Gesichtspunkt sind vorliegend die pflegeerleichternden Maßnahmen, die die Angehörigen der Klägerin hinsichtlich der bei der Klägerin bestehenden Inkontinenz getroffen haben, nicht zu beanstanden. Die Versorgung mit Windeln wird von den Pflegepersonen nicht etwa zur Vermeidung von regelmäßigen Hilfsleistungen im Bereich der Mobilität eingesetzt (s. dazu Begutachtungs-Richtlinien D 5.0 III 1.), denn tagsüber wird die Klägerin von ihren Pflegepersonen regelmäßig zur Toilette geführt. Ein letzter Toilettengang findet nach dem Inhalt der Pflegetagebücher dann nochmals unmittelbar vor dem Zu-Bett-Gehen der Klägerin statt. Die Versorgung mit Windeln während der Zeit ihrer Nachtruhe bis zum Aufstehen ist für die Klägerin indes nicht unzumutbar, zumal sie sich nach eigenem Vortrag mit dieser Versorgung einverstanden erklärt hat.

Da wie oben ausgeführt der individuell erforderliche Hilfebedarf maßgeblich ist für die Beurteilung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit, kann es für die Zuordnung zu den Pflegestufen dann nicht auf den tatsächlich geleisteten Umfang an Hilfe ankommen -- insoweit ist der Vortrag der Klägerin zutreffend --, wenn dieser dem Bedarf nicht entspricht. In den Begutachtungs-
Richtlinien vom 21. März 1997 wird der zu berücksichtigende Hilfebedarf -- nach Auffassung des Senats zutreffend -- abgegrenzt nach dem "im Rahmen des medizinisch und pflegerisch Notwendigen". So heißt es in den Richtlinien (siehe dort D 5.0 I), daß das, was das Maß des Notwendigen übersteigt (Überversorgung), nicht berücksichtigt werden könne, ebensowenig wie unzureichende Pflege (Unterversorgung) dem Maß des Notwendigen entspreche; soweit die Pflege, ggf. auch auf Wunsch des Pflegebedürftigen, tatsächlich unzureichend erbracht werde, habe der Gutachter auf das Maß des Notwendigen abzustellen. Bei pflegerischen Defiziten ist nach Auffassung des Senats daher fiktiv von der individuell erforderlichen Hilfe auszugehen (Wilde, in: Hauck/Wilde, a.a.O., § 14 Rdnr. 36). Vorliegend sind indes keine pflegerischen Defizite hinsichtlich der pflegebegründenden Diagnose der Inkontinenz ersichtlich und von der Klägerin auch nicht geltend gemacht worden. Dr. K und Dr. H haben in ihren MDK-Gutachten nicht festgestellt, daß die Klägerin bei der konkret gegebenen Pflegesituation in der Nacht durch Einnässen an Wundsein oder Dekubitus leidet. In den Gutachten ist jeweils die Sicherstellung der häuslichen Pflege mit dem tatsächlich geleisteten Aufwand uneingeschränkt bejaht worden. Aus den Aufzeichnungen in den Pflegetagebüchern ergibt sich auch nicht, daß die Versorgung mit den Inkontinenzartikeln unzureichend ist und die Klägerin morgens regelmäßig in nasser Bettwäsche vorgefunden wird. Vielmehr wird ein Wechseln der Bettwäsche am Morgen wegen Einnässens nur in zwei Fällen (am 24. Mai 1998 um 11:00 Uhr morgens und am 28. Mai 1998 um 7:00 Uhr) berichtet. Die Pflege der Klägerin ist auch nicht etwa deshalb defizitär, weil der Klägerin nachts nicht regelmäßig Getränke gereicht werden. Dr. K und Dr. H haben nicht festgestellt, daß eine solche Versorgung nach dem Zu-
Bett-Gehen bei den vorliegenden Diagnosen medizinisch indiziert sei. Die behandelnde Ärztin Dr. M hat in ihrem Befundbericht an das Sozialgericht vom 24. Mai 1996 einen nächtlichen Hilfebedarf der Klägerin ausdrücklich verneint.

Da die konkret bestehende Pflegesituation -- ohne regelmäßige Hilfeleistungen durch die Pflegepersonen in der Nacht -- dem individuell erforderlichen Hilfebedarf der Klägerin entspricht und dieser auch zumutbar ist, können die Voraussetzungen für eine Zuordnung der Pflegestufe III, das Vorliegen eines Bedarfs rund um die Uhr, auch nachts, im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI nicht angenommen werden. Nach dem zu berücksichtigenden "Ist-Zustand" liegen die Voraussetzungen für eine Zuordnung der Pflegestufe III nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird zugelassen, da die hier angesprochenen Fragen im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG grundsätzlich sind und bisher höchstrichterliche Entscheidungen dazu nicht vorliegen.

Referenznummer:

KSRE063290317


Informationsstand: 06.03.2000