I. Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Mai 2018 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte zu Recht verurteilt wurde, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung (
GdB) von 50 festzustellen.
Der 1975 geborene Kläger stellte erstmals am 20. April 2016 einen Antrag auf Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung, mit dem er als Gesundheitsstörungen einen Diabetes mellitus Typ 1 und Bluthochdruck geltend machte. Er fügte einen Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin
Dr. C. vom 11. August 2014 bei. Des Weiteren reichte er ein Attest des
Dr. D., Facharzt für Allgemeinmedizin-Diabetologie sowie einen Befundbericht vom 4. Februar 2016 ein, wonach ein insulinbedürftiger Diabetes mellitus Typ 1 vorliege und die letzten 12 Monaten keine fremdhilfebedürftigen Unterzuckerungen bekannt geworden seien. Anderweitige Kollapszustände seien im letzten Jahr, soweit bekannt, nicht aufgetreten. Der Arzt E. bestätigte dem Arbeitgeber im Attest vom 4. März 2016 einen Diabetes mellitus Typ 1 und führte ergänzend aus, dass der Kläger seit mehreren Monaten gut eingestellt sei, und es seit längerer Zeit zu keiner Hypoglykämie gekommen sei. Auch die HbA1c-Werte lägen in einem sehr guten Bereich zwischen 7.0 und 7,5%.
Dr. D. bestätigte unter dem 19. April 2016 einen HbA1c-Wert von 7,8%.
Der Beklagte stellte bei dem Kläger mit Bescheid vom 13. Mai 2016 einen
GdB von 20 fest und berücksichtigte die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen:
1. Diabetes mellitus (Einzel-
GdB 20)
2. Sehbehinderung links (Einzel-
GdB 10).
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 1. Juni 2016 Widerspruch ein und führte zur Begründung
u. a. aus, er spritze jeden Tag bis zu 6mal Novorapid, das
ca. 3 Stunden wirke. Um 21 Uhr spritze er jeden Tag Basis Insulin Toujeo 30 Einheiten, die 24 Stunden wirkten. Seinen Blutzucker messe er mehrere Male am Tag. Er reichte ein Blutzucker-Tagebuch über den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 30. Mai 2016 ein.
Der Beklagte half dem Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 2. August 2016 teilweise dahingehend ab, dass er bei dem Kläger einen
GdB von 40 feststellte. Er berücksichtigte dabei die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen:
1. Diabetes mellitus (Einzel-
GdB 40)
2. Sehbehinderung links (Einzel-
GdB 10).
Im Übrigen wies er den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 29. August 2016 Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) mit dem Ziel der Feststellung eines
GdB von mindestens 50 erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, seine Erkrankung habe in der Vergangenheit zu Ohnmachtsanfällen geführt, die zur Folge gehabt hätten, dass er seinen Führerschein verloren habe. Von einer "normalen" Diabeteserkrankung mit gutem Behandlungsverlauf sei nicht auszugehen.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des
Dr. D. vom 28. Oktober 2016 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, in den letzten 24 Monaten seien keine fremdhilfebedürftigen Unterzuckerungen bekannt geworden. Der Kläger sei in der Lage, Unterzuckerungen rechtzeitig zu erkennen und adäquat zu reagieren. Hierzu trügen die regelmäßigen Blutzuckerkontrollen (mindestens 4 Werte/Tag) bei. Anderweitige Kollapszustände seien in den letzten beiden Jahren, soweit bekannt, nicht aufgetreten. Ferner ist ein Attest des
Dr. D. vom 25. Juli 2017 zu den Akten gereicht worden, wonach bis zu 8 Blutzuckermessungen und mehrfache Insulingaben erforderlich seien. Bedingt durch die Tätigkeit des Klägers, die mit regelmäßigen
Kfz-Fahrten verbunden sei, erhöhe sich diese Frequenz noch. Die sehr häufigen Messungen und Injektionen stellten eine erhebliche Einschränkung des Tagesablaufs dar und führten zu psychischen Beeinträchtigungen.
Der Kläger hat überdies ein MPU-Gutachten der
Dr. F., G.
GmbH, vom 7. April 2015 zu den Akten gereicht. Danach hatte er bei der Begutachtung einen Entlassungsbericht des Diabetes-Zentrums H-Stadt vom 28. November und 11. Dezember 2014 vorgelegt, in dem
u. a. ein dysregulativer Diabetes mellitus Typ 1, arterielle Hypertonie und Z. n. rezidivierenden Kollapszuständen bei Exsikkose diagnostiziert worden waren. Überdies hatte er einen Entlassungsbericht der Medizinischen Klinik des Nordwest-Krankenhauses Frankfurt am Main vom 9. Oktober 2014 vorgelegt, indem
u. a. als Diagnosen rezidivierende Kollapszustände bei Exsikkose, der Ausschluss einer kardiogenen Synkope, der Ausschluss einer Narkolepsie und der Ausschluss einer atembezogenen Schlafstörung angegeben waren. Die Gutachterin führte aus, dass der Kläger nach den Testverfahren die Anforderungen hinsichtlich Belastbarkeit, Orientierungsleistung, Konzentrationsleistung, Aufmerksamkeitsleistung und Reaktionsfähigkeit nur für Fahrzeuge der Gruppe 1 erfülle. Der Blutzucker sei nur befriedigend eingestellt, eine ausreichende Behandlungszuverlässigkeit liege nicht vor. Eine akute Gefahr von Stoffwechselentgleisungen sei nicht sicher auszuschließen, die Blutzucker-Werte zeigten starke Schwankungen. Der Kläger könne wegen der Diabetes mellitus-Erkrankung keine Fahrzeuge der Klassen B, BE, C1, C1E, CE, M, L T, S und der Anlage 4 sicher führen.
Mit Gerichtsbescheid vom 23. Mai 2018 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger einen
GdB von 50 festzustellen. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei dem Kläger sei ein
GdB von 50 gerechtfertigt. Ein höherer
GdB kommt nur bei zusätzlichen erheblichen Einschnitten und gravierender Beeinträchtigung in der Lebensführung in Betracht. Hierzu habe das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 16. Dezember 2014 -
B 9 SB 2/13 R - dargelegt, dass Einschränkungen bei privaten oder zwingenden dienstlichen Reisen, beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen und bei der Nahrungsaufnahme nicht nur eine signifikante sondern eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung bedeuten könnten. Sie müssten damit aber nicht das Ausmaß einer darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung erreichen. Für die Feststellung eines
GdB von 50 für den Diabetes mellitus müssen erfüllt sein täglich mindestens vier lnsulininjektionen, eine selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Das Bundessozialgericht habe in der vorgenannten Entscheidung dargelegt, dass bei der Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen lasse. Allein die mit der Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte seien nicht geeignet, eine zusätzliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig sei nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender besonderer Therapieaufwand. Daneben könne ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich seien auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte der Lebensführung zu beachten. Ausweislich des MPU-Gutachtens vom 7. April 2015 sei dem Kläger die Fahrerlaubnis für die vorgenannten Klassen entzogen
bzw. festgestellt worden, dass er nicht zum Führen von Fahrzeugen der genannten Fahrerlaubnisklassen berechtigt sei. Dies bedinge nach Überzeugung des Sozialgerichts nicht nur eine berufliche Einschränkung. Die krankheitsbedingte Unmöglichkeit, ein PKW zu führen, stelle einen zusätzlichen erheblichen Einschnitt in der Lebensführung dar, der gravierend sei. Die allgemeine Mobilität im Alltag, sei es zur Gestaltung der Freizeit, zur Sicherung der notwendigen Einkäufe oder auch zur Erhaltung von Kommunikation, sei ein wesentlicher Bestandteil von Lebensqualität, bezüglich derer der Kläger nun erheblich eingeschränkt sei und zwar so gravierend, dass ihm der
GdB von 50 zuzuerkennen sei.
Gegen den ihm am 25. Mai 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 20. Juni 2018 Berufung eingelegt und zur Begründung
u. a. ausgeführt, der Kläger habe bislang keine behördliche Entscheidung über den Entzug der Fahrerlaubnis vorgelegt. Das ärztliche Attest des
Dr. D. vom 25. Juli 2017 dokumentiere, dass die Diabetesbehandlung durch die regelmäßigen
Kfz-Fahrten beeinflusst gewesen sei. Daraus ergebe sich, dass der Kläger über eine wirksame Fahrerlaubnis verfügte. Das Sozialgericht habe es unterlassen, den aktuellen Gesundheitszustand in Bezug auf die Eignung zum Fahrzeugführen zu überprüfen. Im Gutachten der G-
GmbH werde vor allem auf ältere Befunde aus 2014 eingegangen, nicht auf neuere Befunde aus 2015, was zumindest Zweifel an der Aussagekraft des Gutachtens zur Fahrtüchtigkeit wecke. Zumindest ab 2016 sei der gut eingestellte Kläger fahrtüchtig gewesen. Da dieser es bisher unterlassen habe, auf eine Wiedererteilung der Fahrerlaubnis hinzuwirken, begründe dies keinen bei der Festsetzung des
GdB zu berücksichtigenden Umstand.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Mai 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hat einen Bescheid des Main-Kinzig-Kreises (MKK) vom 13. August 2015 über den Entzug der Fahrerlaubnis sowie den angenommenen Vergleichsvorschlag des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 2016 vorgelegt. Nach diesem Vergleich wurde der Bescheid des MKK vom 13. August 2015 bestandskräftig, nachdem der Kläger kein positives Eignungsgutachten bis 30. April 2016 beigebracht hatte (
vgl. Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 1. März 2019).
Der Senat hat von Amts wegen ein Gutachten des Internisten und Kardiologen
Dr. J. vom 4. April 2019 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass bei dem Kläger ein Diabetes mellitus Typ 1, als nicht entgleist bezeichnet bestehe ohne bekannte diabetische Sekundärerkrankungen sowie eine benigne arterielle Hypertonie. Aktuell unterziehe er sich einer intensivierten Insulintherapie mit mahlzeitenbezogener, mindestens 4mal täglicher subkutaner Injektion eines schnell wirksamen Insulins (Humalog), dessen Dosis an die zugeführte Kohlenhydratmenge und an den Blutzuckerspiegel anzupassen sei. Zusätzlich folge 1mal täglich die subkutane Injektion eines Basisinsulins (Toujeo). Die gegenwärtige Stoffwechseleinstellung verfehle knapp die Zielvorgaben der aktuell gültigen S3-Leitlinie. Dennoch könne die diabetische Einstellung als stabil bezeichnet werden. Hypoglykämien seien seit 3 Jahren nicht mehr dokumentiert und träten seither auch in Eigenmessungen nicht auf. Eine hinreichende Fahreignung des Klägers für Fahrzeuge der Gruppe 1 könne ab dem 4. Februar 2016 als gegeben angesehen werden, nachdem bereits
Dr. F. in den Leistungstests ausreichende Ergebnisse für Gruppe 1 festgesellt habe. Für Gruppe 2 hätten die Leistungstests - unabhängig von der diabetischen Stoffwechselerkrankung - keine ausreichenden Ergebnisse gezeigt. Eine Wiederholung sei nicht durchgeführt worden. Die nichtgegebene Kraftfahreignung durch die Diabetes-Erkrankung insbesondere für Gruppe 2 stelle für den gelernten LKW-Mechaniker und Pannenhelfer eine erhebliche berufliche Teilhabebeeinträchtigung dar. Der
GdB betrage gemäß
VMG Nr. 15.1 50. Ein höherer
GdB sei aufgrund der ausreichenden Stoffwechseleinstellung ohne schwere Entgleisungen oder Endorganschäden nicht begründet. Dies gelte ab April 2016.
Der Beklagte hat eingewandt, dass dem Gutachten des
Dr. J. nicht gefolgt werden könne, nachdem dort die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 ab 14. Februar 2016 als gegeben angesehen worden sei. Nur hinsichtlich der Gruppe 2 hätten die Ergebnisse der Leistungstests nicht die geforderten Resultate gezeigt. Ob und
ggf. seit wann der Kläger wieder im Besitz einer Fahrerlaubnis sei, gehe aus den Unterlagen nicht hervor. Bei der Begutachtung habe der Kläger angegeben, dass er im Besitz der Fahrerlaubnis Klasse CE sei. Der Umstand, dass es der Kläger unterlassen habe, auf eine Wiedererteilung der Fahrerlaubnis hinzuwirken, könne nicht zu einem höheren
GdB führen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19. November 2019 hat der Kläger mitgeteilt, seit 14. Juni 2018 wieder im Besitz eines Führerscheins für die Fahrzeugklassen
AM/A1/A/B/C1/C/BE/C1E/CE/L/T zu sein und diesen dem Gericht vorgelegt. Aufgrund der Diabeteserkrankung entstehe ihm ein erheblicher finanzieller Aufwand dadurch, dass er alle 2 ½ Jahre eine Begutachtung durchführen und jährlich Arztberichte bei der Führerescheinstelle vorlegen müsse (mit den Arztberichten fast 1.500,00
EUR).
Wegen weiterer Einzelheiten sowie des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.