Urteil
Betriebliches Eingliederungsmanagement als Suchprozess
Gericht:
LAG Niedersachsen
Aktenzeichen:
6 Sa 180/18
Urteil vom:
13.09.2018
LAG Niedersachsen
6 Sa 180/18
13.09.2018
Kurzfassung:
Das pflichtwidrige Unterlassen eines BEM führt im Streitfall dazu, dass die Kündigung unverhältnismäßig ist und somit unwirksam ist. Dem Arbeitgeber obliegt die Darlegungslast, dass ein nicht durchgeführtes BEM eine krankheitsbedingte Kündigung nicht hätte verhindern können, weil ein BEM objektiv nutzlos gewesen wäre. Allein die Erklärung des Arbeitnehmers, dass seine Fehlzeiten keine betrieblichen Ursachen hätten, ist kein Beleg für die Nutzlosigkeit des BEM.
Der Kläger ist im Produktionsbetrieb der Beklagten als Sitzefertiger tätig. In den letzten Jahren hatte er deutliche Arbeitsunfähigkeitszeiten aufzuweisen, die den Zeitraum von sechs Wochen im Jahr deutlich überschritten. Die Beklagte führte daher im Jahr 2016 mit ihm ein Fehlzeitengespräch sowie ein Krankenrückkehrgespräch durch. Bereits in diesem Gespräch hatte der Kläger offengelegt, dass er einerseits Gelenkprobleme und Beschwerden im Bewegungsapparat habe, dass aber zum anderen auch psychische Probleme bestehen und er sich deswegen in psychotherapeutischer Behandlung befinde. Als die AU-Zeiten nicht zurückgingen, wurde der Kläger am 4. April 2017 zur Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) eingeladen. Eine Woche später fand ein Informationsgespräch statt; der Kläger erklärte, dass er bereit sei am BEM teilzunehmen. Die Beklagte hat dann jedoch das Verfahren abgebrochen und stattdessen im Mai 2017 eine personenbedingte Kündigung erklärt, weil auch in Zukunft mit überdurchschnittlichen Krankheitszeiten zu rechnen seien, die zu betrieblichen Störungen führen. Die Kündigung beruhe auf den überdurchschnittlichen Fehlzeiten wegen psychischer Probleme. Für diese sei ein BEM nicht geboten, weil sie keine betrieblichen Ursachen hätten. Das BEM hätte daher an den psychischen Problemen nichts ändern können, so dass es für die Kündigung ohne Bedeutung sei, dass sie das BEM nicht durchgeführt habe.
Der Kläger sah dies anders. Ein BEM hätte seine Gelenkprobleme und die darauf beruhenden AU-Zeiten reduzieren können, denn die Arbeitsorganisation im Betrieb sei gesundheitswidrig. Er werde an Einzelarbeitsplätzen beschäftigt, in denen es zu monotonen, wiederkehrenden Handbewegungen komme, die seine Gelenke äußerst stark belasten. Zwar sehe die ergonomische Arbeitsplanung bei der Beklagten im Rahmen der "Sitzefertigung" eine Rotation bis zu einer Sequenz von jeweils zwei Stunden am Tag vor; tatsächlich werde sie allerdings nicht durchgeführt. Dies hätte in einem BEM geklärt werden können.
Diese Arbeitsorganisation sei auch für seine psychischen Probleme nachteilig, weil ihn die Monotonie der Arbeit deutlich belaste. Er bestreite, dass er 2016 im Fehlzeitengespräch erklärt habe, dass seine psychischen Probleme nicht in einem Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation stünden.
Das Landesarbeitsgericht entschied, dass die Kündigung unwirksam ist. Ausgangspunkt war der Abbruch des BEM, den die Beklagte zu verantworten hatte. Dazu stellte das Gericht zunächst fest, dass die Rechtspflicht zu einem BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX - heute § 167 Abs. 2 SGB IX - allein an die AU-Zeiten anknüpfe, die mehr als sechs Wochen innerhalb eines Jahres betragen müsse. Solche Zeiten hatten unstreitig vorgelegen. Daher war die Beklagte verpflichtet das BEM durchzuführen.
In der Rechtsprechung der letzten zehn Jahre ist geklärt worden, dass nur in Ausnahmefällen eine Kündigung auch ohne BEM ausgesprochen werden könne, allerdings müsse der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass ein BEM "objektiv nutzlos" und dass der vorgeschrieben Suchprozess nicht zu einer Veränderung der Situation habe beitragen können. An dieser Beweislast scheitern Arbeitgeber in den meisten Fällen; im vorliegenden Fall zeigt sich dies anschaulich. Eindeutig ist dies bei den Beschwerden im Bewegungsapparat. Angesichts der konkreten Hinweise des Klägers sei es denkbar, dass durch innerbetriebliche Anpassungsmaßnahmen die AU-Zeiten hätten verringert werden können. Sowohl Hilfsmittel als auch eine Abwechslung am Arbeitsplatz seien mögliche Maßnahmen, auf die man hätte eingehen müssen. Ebenso seien Rehabilitationsmaßnahmen zur Stärkung seiner Gesundheit denkbar; auch dies hätte in einem ordnungsgemäßen BEM-Verfahren geklärt werden müssen.
Ebenso war für das Gericht die Erklärung der Beklagten nicht ausreichend, dass die psychischen Probleme nicht auf die betriebliche Tätigkeit zurückzuführen seien. Zum ersten sei dies nicht unbestritten; zur Klärung sei hier zunächst eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen nach §§ 4, 5 ArbSchG erforderlich. Eine solche Beurteilung habe die Beklagte nicht vorlegen können. Dies sei vorrangig und hätte im BEM-Verfahren geklärt werden müssen.
Auch wenn die psychischen Probleme nicht auf die betriebliche Tätigkeit zurückzuführen seien, sei ein BEM-Verfahren nicht nutzlos. In diesen Verfahren solle externer Sachverstand herangezogen werden, um festzustellen, ob geeignete Maßnahmen der Psychotherapie bzw. der Rehabilitation möglich sind. Genau dies gehöre nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu den zu prüfenden Fragen im BEM-Verfahren. Die Beklagte habe es zu vertreten, dass das Verfahren vorzeitig abgebrochen worden ist, so dass der Suchprozess nicht hätte durchgeführt werden können.
Daher gab das Berufungsgericht der Klage statt und ließ die Revision nicht zu, weil die Grundsatzfragen bereits durch das BAG geklärt sind.
Einen Fachbeitrag zum Urteil finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
https://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Di...
Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.
Diskussionsforum der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR)
R/R8269
Informationsstand: 27.11.2019