Sowohl die Berufung der Beklagten als auch die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch ansonsten zulässig. Die Berufungen sind jedoch nicht begründet, da das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 22.02.2010 der Sach- und Rechtslage entspricht. Verletztengeld gemäß §§ 45, 46 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) ist bis 16.10.2007, Verletztenrente gemäß § 56
SGB VII im Anschluss bis 01.04.2009 zu zahlen.
Beim Kläger liegt eine erlebnisreaktive Störung mit sozialer Phobie (Vermeidung von Bahnanlagen) vor. Diese Störung ist wesentlich verursacht durch das Ereignis vom 01.04.2007. Die
MdE ist bis zum Ablauf des zweiten Jahres nach dem Unfall mit einer
MdE von 20 v.H. einzuschätzen.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 04.10.2007 erkannte die Beklagte als Unfallfolge eine akute Belastungsreaktion ("Schock") an. Diese Reaktion erfolgte auf eine außergewöhnliche psychische Belastung, nämlich auf die Erkenntnis, einen Menschen mit dem Zug tödlich verletzt zu haben. Auch wenn der Kläger erst später darüber informiert wurde, dass sein Zug einen Selbstmörder überrollt hat, wurde dieser Schock von der Beklagten zu Recht anerkannt. Erschwerend kommt insoweit hinzu, dass der Kläger die Person, wenn auch nur flüchtig, kannte.
Eine solche Reaktion auf eine außergewöhnliche psychische Belastung klingt in der Regel innerhalb von Tagen, höchstens nach vier Wochen, ab.
Es kann jedoch auch zu einer Anpassungsstörung (früher psychogene Reaktion, reaktive Depression) kommen. Im Vordergrund stehen depressive Symptome, anhaltende somatoforme Schmerzstörungen oder Angstzustände. (
vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Auflage,
S. 143). Ursächlich sind psychosoziale Belastungen in einem außergewöhnlichen Ausmaß. Betroffen sind selbstunsichere Persönlichkeiten, die nicht zureichend in der Lage sind, auf das äußere Ereignis und damit verbundene Kränkungen in differenzierter Weise zu reagieren. Der Beginn der Symptome liegt innerhalb eines Zeitraumes von einem Monat nach dem belastenden Ereignis und hält selten länger als sechs Monate an, abgesehen von den depressiven Reaktionen, die in der Regel nicht länger als zwei Jahre dauern. Bleiben sie bestehen, verstärken sie sich gar oder treten sie bei geringfügigen Traumen auf, deutet dies auf eine besondere Disposition: Die Frage der Wesentlichkeit der Krankheitsanlage im Vergleich zum Unfallereignis stellt sich.
Die Wahrnehmung des traumatischen Ereignisses steht mit einer versicherten Tätigkeit im inneren Zusammenhang beim Opferstatus und beim Beobachterstatus. Bei letzterem wird der Versicherte Augenzeuge eines Unglücksfalls,
z.B. Erleben eines schweren Verkehrsunfalls mit tödlichen Folgen auf versichertem Weg. Ein solcher Beobachterstatus ist beim Kläger zu bejahen. Zwar hat er den Selbstmörder nicht auf den Schienen gesehen und hat ihn sozusagen nicht "Auge in Auge" überfahren. Trotzdem hat er den Unfall bemerkt und von Anfang an die Vermutung gehabt, dass es sich um einen Zusammenstoß mit einem Menschen handeln könnte. Dies hat ihn auch nachgewiesen sofort beschäftigt. Erschwerend kommt hinzu, dass er das Opfer zumindest flüchtig kannte.
Entgegen der Einschätzung des Sachverständigen
Dr. E. ist in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen
Dr. M. davon auszugehen, dass der Kläger von Anfang an sozial-phobische Symptome (Vermeidung von Bahnanlagen
bzw. erhebliche Probleme bei der Benutzung der Bahn) zeigte, so dass eine unfallabhängige erlebnisreaktive Störung mit sozialer Phobie zu bejahen ist. Wegen dieser nachgewiesenen Unfallfolge ist Arbeitsunfähigkeit bis 16.10.2007, dem Ende der Behandlung in der Klinik Bad M., zu bejahen. Von dort wurde der Kläger arbeitsfähig entlassen für Verweisungstätigkeiten, die nicht mit dem Bahnbetrieb zusammenhingen. Bis zu diesem Datum ist damit Verletztengeld zu zahlen.
Nach Ablauf von zwei Jahren ist ein Unfallzusammenhang mit den weiteren psychischen Störungen des Klägers jedoch zu verneinen. Auch in diesem Punkt ist dem Sachverständigen
Dr. M. zu folgen. Die psychischen Auffälligkeiten sind ab diesem Zeitpunkt in einem anderen Zusammenhang zu sehen (finale Ausrichtung) und bedingen keine überdauernde
MdE. Es liegt eine "Begehrenshaltung" vor, wenn auch überwiegend bewusstseinsfern. Der Kläger verlangt nach Gerechtigkeit und einer Entschädigung. Diese Begehrenshaltung ist als unfallfremd anzusehen, da das Verhalten der Beklagten hierzu nicht wesentlich beigetragen hat. Dem Kläger wurde von seinem Arbeitgeber psychologische Unterstützung von Anfang an gewährt. Auch erhielt er über den Zeitraum von 78 Wochen von seiner Krankenkasse Krankengeld. Sein darüber hinaus gehendes Begehren, auf Dauer eine Verletztenrente zu erhalten, entspricht sicher seinem subjektiven Empfinden, dass ihm diese "zustehe". Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass er tatsächlich über den 01.04.2009 hinaus Verletztenrente erhält.
Dem Gutachten des
Dr. F. kann nicht gefolgt werden. Dieser bejaht eine posttraumatische Belastungsstörung. Er geht von einer
MdE von 60 v.H. aus. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bei
Dr. F. die Albträume abgewandelt zum Vortrag bei
Dr. M. dargestellt hat. Diese Albträume haben keinen Bezug zu dem eigentlichen Unfallereignis, wobei nachdrücklich anzumerken ist, dass der Kläger das Unfallereignis nicht selbst erlebt hat. Auffallend im Gutachten des
Dr. F. ist, dass der Sachverständige trotz der ihm vorliegenden Unterlagen die Hinweise auf eine frühe reaktive Depression nicht hinterfragt hat.
Dr. F. hat deshalb den Sachverhalt nicht vollständig in seine Beurteilung miteinbezogen. Dem Gutachten ist nicht zu folgen.
Dr. M. weist weiter darauf hin, dass die neuropsychologische Zusatzuntersuchung nicht als Beweis für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung genannt werden kann. Der Kläger liegt hier auffälligerweise mit seinen Angaben über den Referenzwerten für traumatisierte Personen. Zutreffend hat daher das Sozialgericht unter Einbezug der herrschenden Fachliteratur (zitiert nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.
S. 144, 157 f) das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung abgelehnt. Auf die Ausführungen des Sozialgerichts wird verwiesen (§ 153
Abs. 2
SGG).
Auch die von
Dr. F. gestellte Diagnose einer schweren klinischen behandlungsbedürftigen Depression beim Kläger ist nach Überzeugung des
Dr. M. nicht bewiesen. Er verweist hierzu auf die eingenommene Medikation und die fehlende engmaschige Behandlung bei einem Nervenarzt. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung im Gutachten von
Dr. F. nicht nachzuvollziehen.
Dr. F. hat sich ausschließlich auf die subjektiven Angaben des Klägers gestützt.
Für den Zeitraum der ersten zwei Jahre nach dem Unfallereignis ist die Anpassungsstörung als unfallbedingt anzusehen, wie bereits oben ausgeführt wurde. Zwar kann sich
Dr. M. im Wesentlichen auch nur auf die Angaben des Klägers stützen, es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Kläger unter Leidensdruck stand, da er immerhin sofort eine psychologische Betreuung aufgesucht hat und auch stationär behandelt wurde.
Trotz der Tatsache, dass der Kläger nicht Augenzeuge des tödlichen Unfalles war, ist beim Kläger eine Anpassungsstörung als Unfallfolge deshalb anzuerkennen. Die
MdE ist mit 20 v.H. richtig eingeschätzt.
Dr. M. weist darauf hin, dass unter Zugrundelegung einer posttraumatischen Belastungsstörung eine
MdE bis 30 v.H. gerechtfertigt wäre, wobei eine
MdE von 50 v.H. gekennzeichnet wäre durch massive Schlafstörungen mit Albträumen, häufigen Erinnerungszuständen, Angstzuständen, die auch tagsüber auftreten können und ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Dieser psychopathologische Befund geht aus dem neurologischen Gutachten von
Dr. S. ebenso wenig hervor, wie aus dem Bericht der Reha-Klinik M. und der Einschätzung der Leistungsfähigkeit am Ende der Reha-Behandlung.
Schönberger/Mehrtens/Valentin, (a.a.O.,
S.143), gibt für die Bemessung der
MdE folgende Anhaltswerte:
- Abnorme Persönlichkeitsentwicklungen, akute Belastungsreaktionen, Anpassungsbeeinträchtigungen, psychoreaktive Störungen mit finaler Ausrichtung, sogenannte leichtere neurotische Störungen (oft mit vegetativer Symptomatik verbunden):
MdE 0 bis 10 v.H.
- Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (manche Phobien, pathologische Entwicklungsstörungen)
MdE 20 bis 40 v.H.
Dr. M. kommt in seinem Gutachten aufgrund der Angaben des Klägers unter Zugrundelegung dieser Fachliteratur zu einer
MdE von 20 v.H. Dieser Ansicht ist zu folgen.
Dies gilt nicht für das Gutachten des
Dr. S., dessen Einschätzung einer
MdE von 100 v.H. von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht getragen wird. Die
MdE von 20 v.H. ist befundangemessen für die Dauer von zwei Jahren.
Die Berufung des Klägers und der Beklagten ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193
SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160
Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG liegen nicht vor.