Die Klage ist zulässig.
Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (
LTA) in Form von Leistungen im Eingangsverfahren in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen.
Gemäß § 9
Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (
SGB VI) erbringt die Rentenversicherung unter anderem berufsfördernde
LTA. Die Klägerin erfüllt, was auch zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10
SGB VI und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 11
SGB VI. Die Beklagte ist auch gemäß § 16
SGB VI i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 63 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX zuständiger Rehabilitationsträger für die Erbringung von Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer anerkannten WfbM und gemäß § 63
Abs. 3
SGB IX für
LTA bei einem anderen Leistungsanbieter. Rechtsgrundlage für den Anspruch behinderter Menschen auf
LTA ist
§ 49 Abs. 1 und 3 SGB IX i.V.m. § 56 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2018 gültigen und hier anwendbaren Fassung. Danach werden
LTA in anerkannten WfbM erbracht, um die Erwerbsfähigkeit der Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohten Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern. Die
LTA in den WfbM sollen auf das Ziel eines selbstbestimmten Lebens in der Gesellschaft vorbereiten. Die WfbM umfasst drei Leistungsbereiche: das Eingangsverfahren, den Berufsbildungs- und den Arbeitsbereich (
§§ 57,
58 SGB IX).
Die Klägerin hat Anspruch auf Leistungen im Eingangsverfahren einer WfbM. Gemäß § 57
Abs. 1
Nr. 1
SGB IX erhalten Menschen mit Behinderungen im Eingangsverfahren Leistungen zur Feststellung, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung für die Teilhabe des Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben ist sowie welche Bereiche der Werkstatt und welche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für die Menschen mit Behinderungen in Betracht kommen, und um einen Eingliederungsplan zu erstellen, nach
Nr. 2 im Berufsbildungsbereich, wenn die Leistungen erforderlich sind, um die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit des Menschen mit Behinderungen soweit wie möglich zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen und erwartet werden kann, dass der Mensch mit Behinderungen nach Teilnahme an diesen Leistungen in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des
§ 219 SGB IX zu erbringen. Gemäß § 57
Abs. 2
SGB IX werden Leistungen im Eingangsverfahren in der Regel für drei Monate erbracht, wobei die Leistungsdauer auf bis zu vier Wochen verkürzt werden kann, die Leistungen im Berufsbildungsbereich gemäß
Abs. 3 der Vorschrift für zwei Jahre, wobei diese in der Regel zunächst für ein Jahr bewilligt werden (Satz 2). Es besteht ein Stufenverhältnis im Rahmen der Leistungserbringung. Ein Eingangsverfahren muss immer durchgeführt werden. Ohne die Durchführung des Eingangsverfahrens kommen Leistungen im Berufsbildungs- und im Arbeitsbereich nicht in Betracht.
Die Klägerin erfüllt die persönlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in eine WfbM (sog. Werkstattfähigkeit). Gemäß § 219
Abs. 1 Satz 2
SGB IX ist die WfbM einer Einrichtung zur Teilhabe für diejenigen behinderten Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können. Diesen steht sie unabhängig von Art oder Schwere der Behinderung offen, sofern erwartet werden kann, dass sie spätestens nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden (
Abs. 2 Satz 1) § 219
Abs. 2 Satz 1
SGB IX.
Die Prognose, ob der behinderte Mensch nach Teilnahme an den Leistungen im Berufsbildungsbereich in der Lage sein wird, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des
§ 136 SGB IX zu erbringen, ist erst auf der Grundlage der während des Eingangsverfahrens erlangten Erkenntnisse zu treffen, nicht aber bereits im Verfahren des Leistungsträgers über den Antrag auf Gewährung von Leistungen im Eingangsverfahren (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. September 2017 -
L 27 R 240/17 -, Rn. 18 - 19, juris).
Die Klägerin leidet unter Erkrankungen vor allem auf nervenärztlichem und internistischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben, so dass sie nicht mehr wettbewerbsfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen tätig sein kann. Auf die in dem Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen.
Die Kammer folgt auch den Feststellungen des Gutachters
Dr. B., dass die Klägerin nur noch Arbeiten unter 3 Stunden täglich, in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltungen, Hebe- und Bückarbeiten und nicht auf Leitern und Gerüsten verrichten könne und die Durchhaltefähigkeit fehle, ein durchgehendes leidensgerechtes Leistungsniveau vergleichbar mit einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erbringen. Die Kammer hat keine Zweifel, dass der Sachverständige die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen hat. Diese Schlussfolgerungen entsprechen auch den allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben und stimmen zudem mit dem persönlichen Eindruck überein, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat.
Die Einwände der Beklagten gegen die Feststellungen des Gutachters vermögen die Kammer nicht zu überzeugen. Die angeführten Argumente sind nicht tragfähig, da sie sich nicht in ausreichendem Maße mit den Feststellungen des Gutachters auseinandersetzen. Im Wesentlichen werden folgende Argumente vorgebracht:
Die Klägerin sei bis 2002 in der Lage gewesen, für die Post als Austrägerin zu arbeiten. Die Klägerin hat sowohl gegenüber dem Gutachter als auch in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass sie seinerzeit aus dem Arbeitsverhältnis gedrängt worden sei, weil sie Schwierigkeiten hatte, die erforderlichen Leistungen zu bringen. Dies weist darauf hin, dass sie möglicherweise schon zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Einschränkung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage war, eine körperlich zumutbare Tätigkeit wettbewerbsfähig auszuführen. Selbst ohne diesen Zweifel ist ein Rekurs auf eine vermutete Leistungsfähigkeit im Jahre 2002 wenig aussagekräftig in Bezug auf das Leistungsvermögen im Jahr 2020.
Ferner verweist die Stellungnahme des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten im Schriftsatz vom 07.03.2019 darauf, dass die Klägerin während einer psychosomatischen Rehabilitation im Jahr 2012 in der Lage gewesen sei, regelmäßig an den verordneten physiotherapeutischen Maßnahmen teilzunehmen. Diesen Hinweis erachtet die Kammer als nicht aussagekräftig und im Ergebnis unverständlich. Der bloße Umstand, an physiotherapeutischen Anwendungen einer Reha-Maßnahme teilnehmen zu können, lässt nach Auffassung der Kammer keinen Rückschluss auf das Leistungsniveau für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu. Ein solcher Rückschluss im Hinblick auf das psychisch kognitive Leistungsniveau, das für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist, ist schon grundsätzlich fragwürdig und im Hinblick auf den Zeitablauf seit 2012 überhaupt nicht nachvollziehbar.
Im Wesentlichen stützt sich die Argumentation des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten jedoch darauf, dass die Klägerin im Juni 2017 eine weitere medizinische Rehabilitationsmaßnahme absolviert habe, bei der ihr die Fähigkeit für eine mindestens 6-stündige Tätigkeit für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit weiteren Einschränkungen zugeschrieben worden sei und eine gravierende Befundverschlechterung nicht erkennbar sei.
Dieses Argument ist jedoch in zweifacher Hinsicht ebenfalls nicht überzeugend. Zum einen bleibt der sozialmedizinische Dienst der Beklagten eine nähere Begründung schuldig, warum eine solche Befundverschlechterung nicht angenommen werden könne. Er trifft hierzu schlicht keine nachprüfbare Aussage. Unklar bleibt bei dieser Bewertung zum Beispiel, was als Befundverschlechterung und was als gravierend erachtet wird. Die vom Gutachter geschilderten Rückzugstendenzen und Schwierigkeiten bei der Tagesstrukturierung werden von dem sozialmedizinischen Dienst der Beklagten nicht in Abrede gestellt, es erfolgt jedoch keine Diskussion, inwieweit hier seit 2017 eine weitere kontinuierliche Verschlechterung stattgefunden haben könnte oder nicht. Ob angesichts der Lebensumstände der Klägerin eine solche nicht auszuschießende Verschlechterung, die sich nicht notwendigerweise in einer neuen
ICD 10 Diagnose niederschlagen muss, von der Beklagten als gravierende Verschlechterung anerkannt würde, bleibt argumentativ offen.
Zum anderen beruht die Argumentation des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten auf der Annahme, dass die Feststellungen des Reha-Entlassungsberichtes aus dem Jahr 2017 hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Klägerin richtig gewesen sind. Der Gutachter
Dr. B. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24.04.2019 für die Kammer überzeugend darauf hingewiesen, dass der Rehaentlassungsbericht insoweit erhebliche Defizite aufwies, als weder eine ausreichende Darstellung der frühkindlichen perinatalen Schädigung erfolgte noch neuropsychologische Untersuchungen durchgeführt wurden, obwohl eine Verlangsamung und Verunsicherung der Klägerin und eine eingeschränkte Belastbarkeit für Alltagsanforderungen gesehen wurden. Aufgrund dieser Defizite war nach Auffassung des Gutachters die Leitungseinschätzung in Bezug auf die psychische Mindestvoraussetzung für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht valide.
Auf diese nachvollziehbare Kritik geht die Beklagte weder in der weiteren Stellungnahme des sozialmedizinischen Dienstes vom 24.05.2019 noch in der mündlichen Verhandlung ein. Als misslich erachtet es die Kammer im Übrigen, wenn hier in der mündlichen Verhandlung von der Sitzungsvertreterin der Beklagten lediglich auf die Stellungnahmen des sozialmedizinischen Dienstes verwiesen wird und einer inhaltlichen Diskussion mit dem Argument entgegen getreten wird, als Nichtmediziner verfüge man dafür nicht über die ausreichende fachliche Kompetenz.
Im Ergebnis postuliert der sozialmedizinische Dienst eine gesetzliche Vermutungsregel, wonach die medizinischen Ermittlungen und Feststellungen der Beklagten, sei es in Form von Rehaentlassungsberichten, sei es durch Begutachtung im Auftrag der Beklagten, fehlerfrei und zutreffend seien, und deshalb ein Leistungsfall nur bei dem Nachweis einer "gravierenden Verschlechterung" in Betracht komme. Eine solche gesetzliche Vermutungsregel existiert allerdings nicht, vielmehr sind auch die Feststellungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren einer vollen rechtlichen und tatsächlichen Überprüfung durch das Gericht zugänglich. Im Übrigen ist ein uneingeschränktes Vertrauen in die Richtigkeit von Gutachten auf psychiatrischem Fachgebiet kontrafaktisch. Wie die Praxis der Sozialgerichte, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen (Philipp, Med Sach 106 5/2010,
S. 181ff, Meins, Med Sach 106 4/2010,
S. 153 ff) zeigen, gelangen Gutachter in Grenzfällen nicht selten zu unterschiedlichen Leistungseinschätzungen, dies führt in der sozialgerichtlichen Praxis allerdings nicht dazu, dass die Gutachten nicht als geeignetes Beweismittel für einen Vollbeweis angesehen werden, da andernfalls
z.B. der Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankungen und physischer Komorbidität entgegen dem Willen des Gesetzgebers weitgehend leerlaufen würde (SG Nordhausen, Urteil vom 30. April 2015 - S 20 R 1842/13 -, Rn. 55, juris).
Die Argumentation des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten ist jedenfalls dann defizitär, wenn nachvollziehbare Einwände gegen die Richtigkeit vorgebracht werden und der sozialmedizinische Dienst gleichwohl - ohne weitere Argumentation - lediglich auf seiner Position beharrt.
Zu den Grundlagen eines rationalen Diskurses gehört, dass, wer etwas bezweifelt oder kritisiert, auf Verlangen einen Grund für seinen Zweifel oder seine Kritik angeben muss, es sei denn, er kann Gründe dafür anführen, die es rechtfertigen, seine Begründung zu verweigern. Zwar garantiert die Einhaltung der Grundregeln eines rationalen Diskurses nicht die endgültige Gewissheit aller Ergebnisse, sie zeichnet diese jedoch als rational aus. Ein rationaler Diskurs ist jedoch Grundlage des juristischen Diskurses und auch Grundlage gerichtlicher Erkenntnisverfahren (
vgl. hierzu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 9. Auflage, Frankfurt am Main 2019, insbes.
S.222 ff, 238 ff, 434f).
Das kritische Infragestellen einer gutachterlichen Feststellung bedarf vor diesem Hintergrund einer substantiierten Begründung. Wenn diese ihrerseits substantiiert hinterfragt
bzw. widerlegt wird, können diese Gegeneinwände ggfs. durch weitere inhaltliche Begründungen entkräftet werden - allerdings nicht durch die bloße Behauptung der Richtigkeit der eigenen Auffassung.
Im Ergebnis vermögen die Einwände des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten, die insoweit eine Diskussion der Argumente des Gutachters für entbehrlich erachtet, daher keine hinreichenden Zweifel begründen, die der vollen richterlichen Überzeugung der Kammer entgegenstehen, dass der Gutachter das Leistungsvermögen der Klägerin zutreffend eingeschätzt und bewertet hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193
SGG.