Urteil
Kosten für Familienheimfahrten während einer Umschulung - Gebundene Entscheidung - Atypische Fälle - Signifikante Abweichung zum Normalfall

Gericht:

LSG Thüringen 12. Senat


Aktenzeichen:

L 12 R 1304/15


Urteil vom:

09.05.2018


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 23. Juli 2015 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der zu bewilligenden Kosten für Familienheimfahrten anlässlich einer von Ende Juni 2011 bis November 2012 andauernden Umschulung zum Industriekaufmann. Der im Jahre 1960 geborene, alleinstehende Kläger erlernte zunächst den Beruf eines Facharbeiters für Bergbautechnologie und schulte Anfang der 90er Jahre zum Gas- und Wasserinstallateur um. In diesem Beruf war er - unterbrochen durch längere Zeiten der Arbeitslosigkeit - zuletzt im Sommer 2009 beschäftigt.

Schon zuvor - am 12. Juli 2007 - hatte der Kläger bei der Agentur für Arbeit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt, die sich für unzuständig erklärte und den Antrag mit Schreiben vom 17. Juli 2007 an die Beklagte weiterleitete. Diese erklärte sich in der Folge bereit, dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen.

Im Frühjahr 2010 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor hatte er auf Kosten der Beklagten an medizinischen Maßnahmen zur Rehabilitation in B. S. teilgenommen. Die Ärzte diagnostizierten eine Essstörung mit Adipositas, Bluthochdruck und eine Funktionsstörung der rechten Hand nach Karpaltunneloperation. Der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig ausüben. Als Gas- und Wasserinstallateur könne er nicht mehr arbeiten. Nach Antragstellung veranlasste die Beklagte eine chirurgische Begutachtung durch Dr. H. Er hielt den Kläger für fähig, leichte Arbeiten vollschichtig auszuüben, nicht jedoch den Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs. Mit Bescheid vom 9. September 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung bestehe nicht. Der Kläger könne noch sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Er sei auch nicht berufsunfähig. Er könne zwar nicht mehr als Gas- und Wasserinstallateur arbeiten. Er müsse sich aber auf die Tätigkeit eines Lagerverwalters für Elektromaterial verweisen lassen.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG Nordhausen - S 20 R 9176/10 nahm der Kläger auf Kosten der Beklagten vom 21. Februar bis 4. März 2011 an einer Arbeitserprobung / Berufsfindungsmaßnahme im Berufsförderungswerk F. am M. teil. Dort sprach man sich u. a. für eine Qualifizierung zum Industriekaufmann aus. In der Erprobung habe der Kläger überdurchschnittliche bis gut durchschnittliche Ergebnisse erzielt. Der Beklagte bewilligte sodann mit Bescheid vom 28. Juni 2011 eine von 29. Juni 2011 bis 28. Juni 2013 dauernde Umschulung zum Industriekaufmann im Berufsförderungswerk in Se.

Mit weiterem Bescheid vom 25. Juli 2011 gewährte der Beklagte dem Kläger Fahrtkostenerstattung dem Grunde nach. Pro Zeitmonat werde dem Kläger grundsätzlich für zwei Familienheimfahrten Kostenerstattung gewährt. Betrage die Dauer der Maßnahme weniger als einen Zeitmonat, aber mehr als zwei Wochen werden Kosten für eine Familienheimfahrt übernommen. Die Wegstrecke zwischen dem Wohnort So. und dem Ort der Maßnahme Se. betrage 227 Kilometer. Der gefahrene Kilometer werde bei Nutzung eines PKW mit einer Pauschale von 0,20 Euro pro Kilometer der einfachen Wegstrecke abgegolten. Für die Reisen nutze der Kläger seinen PKW.

Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2012 hat er Klage zum SG Altenburg wegen Untätigkeit erhoben und beantragt, über seinen Antrag auf Fahrtkosten vom Juni 2011 bis Februar 2012 zu entscheiden. Mit Beschluss vom 26. September 2011 hat das Sozialgericht Altenburg den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Nordhausen verwiesen. Mit zehn Bescheiden vom 3. September 2012 hat die Beklagte für

- Juni 2011 Fahrtkosten in Höhe von 45,40 Euro für die Anreise am 29. Juni 2011 zum Beginn der Umschulung bewilligt
- Juli 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Abreise in die Ferien am 23. Juli 2011 bewilligt
- August 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Anreise aus den Ferien am 14. August 2011 bewilligt
- September 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- Oktober 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- November 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- Dezember 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Abreise in die Ferien am 23. Dezember 2011 bewilligt
- Januar 2012 Fahrtkosten in Höhe von 90,80 für die Anreise aus den Ferien am 3. Januar 2012 und die Abreise am 5. Januar 2012 wegen Krankheit bewilligt
- Mai 2012 für die Wiederaufnahme der Maßnahme am 29. Mai 2012 nach längerer Krankheit 45,40 Euro für eine einfache Fahrt
- Juni 2012 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten
- Juli 2012 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und eine einfache Fahrt nach Krankschreibung zum 23. Juli 2012 bewilligt

Den Bescheiden lagen dabei die Anwesenheitsbestätigungen des Berufsförderungswerkes für die jeweiligen Monate zugrunde.

Hiernach hat der Kläger
- im Juni 2011 eine einfache Fahrt
- im Juli 2011 eine einfache Fahrt
- im August 2011 drei einfache Fahrten
- im September 2011 sieben einfache Fahrten
- im Oktober 2011 vier einfache Fahrten
- im November 2011 vier einfache Fahrten
- im Dezember 2011 fünf einfache Fahrten
- im Januar 2012 zwei einfache Fahrten
- im Mai 2012 eine einfache Fahrt am 29. Mai 2012
- im Juni 2012 vier Heimfahrten
- im Juli 2012 drei Heimfahrten durchgeführt.

Der Kläger hat dagegen unter dem 26. September 2012 Widerspruch eingelegt. Die Begründung, für gewisse Zeiten habe keine auswärtige Unterkunft stattgefunden, habe nichts mit den tatsächlich entstandenen Fahrtkosten zu tun. Mit Schreiben vom 13. Januar 2013 hat er ergänzend ausgeführt, für einzelne Monate, beispielsweise den August 2012 sei keine Abrechnung erfolgt. Außerdem habe er nach längerer Krankheit auf Veranlassung des Trägers der Maßnahme, das Zimmer im Internat räumen müssen und hierzu Fahrten unternehmen müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2013 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Die Beklagte hat in der Folge nochmals Auskünfte des Berufsförderungswerkes eingeholt. Hiernach ergibt sich Folgendes:

- Februar, März u. April 2012 wegen Krankheit keine Teilnahme
- August 2012 Teilnahme vom 20. bis 24. August / ab 28. August krank
- September 2012 wegen Krankheit keine Teilnahme
- Zimmerberäumung im Februar und bei Abbruch der Maßnahme im November 2012.

Das Sozialgericht hat am 14. März 2013 einen Erörterungstermin durchgeführt. Nach Konfrontation mit dem Widerspruchsbescheid hat der Kläger angegeben, diesen nicht erhalten zu haben und seinen Antrag auf eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage umgestellt. Mit Schriftsatz vom 31. März 2013 hat der Kläger ausgeführt, nach dem Gesetzeswortlaut sei die Bewilligung von zwei Familienheimfahrten im Monat der Regelfall. Maßgebend sei nicht die Verweildauer am Ort der Maßnahme, sondern die Anzahl der erforderlichen Fahrten, z. B. wegen Arztbesuchen am Heimatort oder wegen Ausstatten und Beräumung der Unterkunft im Internat des Berufsförderungswerkes. Für Februar, August, September und Mai 2012 habe er keine Bescheide erhalten. Im Übrigen sei eine Pauschale von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer zu niedrig. Mit zwei Bescheiden vom 29. Juli 2013 hat die Beklagte die Kostenübernahme für Februar und September 2012 abgelehnt. In diesen Monaten habe der Kläger an der Maßnahme nicht teilgenommen. Mit Bescheid vom gleichen Tag hat sie für August 2012 90,80 Euro für zwei einfache Fahrten bewilligt. Mit weiterem Bescheid vom 14. Oktober 2013 hat sie anlässlich der Zimmerberäumung im Februar und November 2012 für vier einfache Fahrten 191,60 Euro bewilligt. In der mündlichen Verhandlung vom 23. Juli 2015 hat der Kläger mitgeteilt, dass seine damals 30 Jahre alte Tochter mit ihren zwei Kindern während der Maßnahme in seinem Haus gewohnt habe. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Juli 2015 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Der Kläger habe gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Neubescheidung. Der Kläger sei durch die angefochtenen Bescheide jedenfalls nicht beschwert. Er habe keinen Anspruch auf Fahrtkosten für Familienheimfahrten. Er sei alleinstehend gewesen. Mithin habe es keine familiären Bezugspersonen als Anknüpfungspunkt für Familienheimfahrten gegeben. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass die damals 35 Jahre alte Tochter und ihre Kinder während der Maßnahme im Haus des Klägers gelebt haben. Aus der Sicht des Klägers habe es sich nicht um den gemeinsamen Haushalt mit den Eltern oder die Wohnung mit dem Partner gehandelt. Der Kläger hat dagegen Berufung eingelegt und auf sein erstinstanzliches Vorbringen Bezug genommen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 23. Juli 2015 aufzuheben sowie die Bescheide vom 3. September 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2013 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm anlässlich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Berufsförderungswerk Se. für die Zeit vom Juni 2011 bis November 2012 höhere Fahrtkosten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Rechtsweg:

SG Nordhausen, Urteil vom 23.07.2015 - S 20 R 3269/12

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers entscheiden, weil er ausweislich der Postzustellungsurkunde auf Bl. 119 a der Gerichtsakte ordnungsgemäß vom Termin benachrichtigt und über die Folgen des Nichterscheinens belehrt wurde.

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft, denn der Senat ist nach § 144 Abs. 3 SGG an die Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht gebunden. Die Berufung ist aber unbegründet. Die zuletzt vom Kläger erhobene, kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG ist zulässig. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides kann eine ursprüngliche erhobene Untätigkeitsklage gemäß § 99 Abs. 1 SGG grundsätzlich in eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage/Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 SGG geändert werden. Die Statthaftigkeit der gewillkürten Klageänderung im Rahmen des Übergangs von der Untätigkeitsklage zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage/Leistungsklage macht die geänderte Klage allerdings nicht ohne weiteres zulässig. Für die Klageänderung nach § 99 Abs. 1 SGG müssen vielmehr sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sein. Hierzu gehört auch die Einhaltung der Monatsfrist des § 87 Abs. 1 und 2 SGG. Ob die Einhaltung der Frist entbehrlich ist, weil ein Fall des § 96 SGG vorliegt, kann hier offen bleiben (vgl. zum Ganzen: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Oktober 2007 - L 7 SO 4334/06). Der Kläger hat die Frist gewahrt.

Die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 und 2 SGG beginnt mit der Bekanntgabe zu laufen. Nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Diese Zugangsfiktion gilt nach § 37 Abs. 2 S. 3 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt gar nicht oder zu einem späterem Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen. Der Kläger hat im Erörterungstermin vom 14. März 2013 angegeben, er habe den Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2013 nicht erhalten. Jedenfalls wenn der Zugang des Verwaltungsaktes an sich verneint wird, genügt einfaches Bestreiten (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2007 - B 13 R 4/06 R). Damit war die Umstellung der Klage im Erörterungstermin fristgerecht.

Richtige Klageart ist vorliegend die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG. Bei der hier streitigen Fahrtkostenerstattung nach § 53 SGB IX a. F. handelt es sich grundsätzlich um einen gebundenen Rechtsanspruch (hierzu weiter unten). Unschädlich ist es, dass der Kläger vor dem Sozialgericht beantragt hat, die Beklagte zu ver-pflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die Anträge ohne an den Wortlaut gebunden zu sein. Maßgebend ist grundsätzlich das tatsächlich gewollte, das im Wege der Auslegung zu ermitteln ist. Bei verständiger Würdigung strebt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Leistung und nicht nur eine Neubescheidung an.

Dagegen werden die Bescheide vom 29. Juli 2013 und 14. Oktober 2013 nicht vom Rechtsstreit erfasst. Sie waren im Zeitpunkt der Klageumstellung im März 2013 noch nicht existent. Sie sind auch nicht nach § 96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Sie ersetzen bzw. ändern die angefochtenen Bescheide vom 3. September 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2013 nicht, denn sie regeln andere Zeiträume.

Der Kläger hatte einen Anspruch auf die durchgeführte Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben aus § 9 SGB VI i. V. m. § 33 SGB IX. Er erfüllte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 11 Abs. 1 SGB VI. Die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 u. Nr. 2 b SGB VI waren ebenfalls erfüllt. Nach den medizinischen Befunden konnte der Kläger die bisherige Tätigkeit - der erlernte Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs - nicht mehr ausüben. Nach dem Ergebnis der Arbeitserprobung/Berufsfindung im Berufsförderungswerk Se. war die angedachte Umschulung zum Industriekaufmann zur Wiedereingliederung erfolgversprechend. In der Konsequenz hat die Beklagte denn auch die Umschulung zum Industriekaufmann bewilligt.

Die Leistungen zur Teilhabe werden außer nach § 28 SGB VI a. F. durch das Übergangsgeld ergänzt durch Leistungen nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 und Abs. 2 SGB IX sowie nach den Bestimmungen der §§ 53 u. 54 SGB IX a.F.. Hierzu gehören auch Kostenübernahme für Familienheimfahrten.

Der Kläger ist von Familienheimfahrten nicht ausgeschlossen. Dies folgt aber nicht schon aus dem Grundbescheid vom 25. Juli 2011. Hier hat die Beklagte lediglich einen Fahrtkostenanspruch dem Grunde nach anlässlich der Umschulung anerkannt. Sie hat aber nicht bindend einen Anspruch auf Familienheimfahrten anerkannt. Insoweit gibt der Bescheid lediglich den Gesetzeswortlaut wieder. Nach § 53 Abs. 2 S. 1 SGB IX a. F. werden während der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Reisekosten auch für im Regelfall zwei Familienheimfahrten je Monat übernommen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Kläger "Familienheimfahrten" im Sinne des § 53 Abs. 2 S. 1 SGB IX unternommen.

Hierfür spricht der Normzweck. Die ergänzenden Leistungen sind darauf ausgerichtet, den Rehabilitanden möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. Im Gegenzug ist der Rehabilitand verpflichtet bei Durchführung der Maßnahme nach Kräften mitzuwirken (vgl. BSG, Urteil vom 21. November 2011 - B 8 KN 3/01 R zu § 19 RehaAnglG). Vom Normzweck her verhält es sich für den Senat so, dass mit der Bewilligung von Kosten für "Familienheimfahrten" bei auswärtiger Unterbringung während der Teilhabe - wie hier - die Aufrechterhaltung des Kontaktes zum Mittelpunkt der Lebensinteressen/dem Lebensmittelpunkt ermöglicht werden soll. Hierdurch soll der angestrebte Erfolg der Maßnahme erreicht werden bzw. die Bereitschaft zur Teilnahme an der Maßnahme gestärkt werden. Ausgehend von dieser Prämisse kann es aber keinen Unterschied machen, ob der Versicherte verheiratet ist / in eheähnlicher Lebensgemeinschaft / in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft / in eingetragener Lebensgemeinschaft oder aber alleinstehend ist. Dies käme einer schwer vertretbaren Ungleichbehandlung nahe (vgl. zur doppelten Haushaltsführung eines Nichtverheirateten im Rahmen des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 EStG: BFH, Urteil vom 5. Oktober 1994 - VI R 62/90).

Ob ein Wohnort gegenüber der Wohnung am Beschäftigungsort der Lebensmittelpunkt ist, erfordert eine Abwägung und Bewertung aller Umstände des Einzelfalls. Indizien können sich aus dem Vergleich von Größe und Ausstattung der Wohnungen sowie Dauer und Häufigkeit der Aufenthalte in den Wohnungen ergeben. Dort, wo sich der Arbeitnehmer - abgesehen von den Zeiten der Arbeitstätigkeit und ggf. Urlaubsfahrten - regelmäßig aufhält, ist auch der Ort des Lebensmittelpunktes anzunehmen, den er fortwährend nutzt und von dem aus er sein Privatleben führt. Von Bedeutung sind auch die Dauer des Aufenthaltes am Beschäftigungsort, die Entfernung beider Wohnungen und die Anzahl der Heimfahrten. Gewicht kommt auch dem Umstand zu, zu welchem Wohnort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen und ob die Dauer des Verweilens am Beschäftigungsort überwiegt (vgl. zum Ganzen: FG München, Urteil vom 29. April 2015 - 1 K 343/13).

Ausgehend hiervon hatte der Kläger seinen Lebensmittelpunkt auch während der Umschulung in S. Dort wohnte er sein ganzes Leben lang, besaß ein Haus und hatte Kontakt zu seiner Tochter und Enkelkindern (hierzu sogleich) sowie seinem Vater. Während der Teilhabe verbrachte er fast jedes Wochenende in S. Am Ort der Teilhabe war er lediglich internatsmäßig untergebracht. Bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft ist schwerlich davon auszugehen, dass an diesem Ort der Lebensmittelpunkt begründet wird. Im Übrigen war die Maßnahme auf zwei Jahre befristet, was ebenfalls gegen die Begründung eines neuen Lebensmittelpunktes spricht.

Im Weiteren hat der Kläger aber auch unter einem anderem Gesichtspunkt Familienheimfahrten unternommen. Im Hinblick auf den Normzweck ist der Begriff der "Familie" weit auszulegen und umfasst jegliche Beziehung enger und persönlicher Verbundenheit (vgl. Schlette in Schlegel / Voelzke jurisPK-SGB IX, 3. Auflage 2018, zur identischen Nachfolgenorm des § 73 SGB IX Rn. 13). Umgekehrt werden rein formal-verwandtschaftliche Beziehungen ohne Näheverhältnis nicht erfasst (vgl. BFH; ebenda). Die Tochter des Klägers und sein Enkelkinder wohnten während der Umschulung im Haus des Klägers. Sie sind "Familie" des Klägers im Sinne des § 53 Abs. 2 SGB IX, jedenfalls wenn sie mit ihm - wie vorliegend - einen Haushalt begründen. Hierzu kann auch an die Wertung in § 9 Abs. 5 SGB II angeknüpft werden. Danach wird vermutet, dass Hilfebedürftige die mit Verwandten oder Verschwägerten in einem Haushalt leben, Leistungen von diesen erhalten, soweit diese finanziell hierzu in der Lage sind. Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass wegen der familiären Verbundenheit und sittlicher Verpflichtung eine Unterstützung erfolgt (vgl. Mecke in Eicher/Luik, Kommentar zum SGG, 4. Auflage 2017, § 9 Rn. 84 f.) Das vom Senat gefundene Ergebnis wird durch § 53 Abs. 2 S. 2 SGB IX gestützt. Danach können anstelle der Kosten für die Familienheimfahrten Reisekosten von Angehörigen vom Wohnort zum Aufenthaltsort des Leistungsempfängers und zurück übernommen werden. Nach § 16 Abs. 5 Nr. 3 SGB X zählen zu den Angehörigen aber auch Verwandte in gerader Linie.

Sofern das Sozialgericht - wohl unter Berufung auf Schlette in Schlegel / Voelzke, ebenda - als maßgebend lediglich den Haushalt der Eltern oder das Wohnen mit dem Partner erachtet, greift dies nach der Ansicht des Senats zu kurz. Dies widerspricht zum einen der Aussage, dass der Begriff der Familie weit auszulegen ist. Zum anderen führt diese enge Betrachtungsweise zu schwer zu rechtfertigenden Ergebnissen. So würde eine alleinstehende Mutter, die mit ihrem Bruder und ihrem minderjährigen Kind in einem Haushalt lebt, von der Regelung des § 53 Abs. 2 S. 1 SGB IX a. F. ausgeschlossen sein. Augenscheinlich kann dies vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Die Kommentierung ist nach der Ansicht des Senats insoweit dahingehend auszulegen, dass Alleinstehende nur dann ausgeschlossen sein sollen, wenn sie am Ort des Lebensmittelpunktes einen Haushalt ohne weitere familiäre Bezugsperson führen.

Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, dass die Beklagte - entsprechend § 53 Abs. 2 S. 1 SGB IX die Kosten (nur) für zwei Familienheimfahrten übernommen hat, sofern die Maßnahme einen vollen Monat dauert. Abzustellen ist dabei auf den Kalendermonat. Hierfür spricht schon der Wortlaut des § 53 SGB IX a. F. (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 25. Juni 2004 - L 10 AL 93/02). Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn man mit der Beklagten auf den Zeitmonat abstellt, der mit 30 Tagen anzusetzen ist. Aus dem Wortlaut des § 53 Abs. 2 SGB IX "werden übernommen" folgt weiter, dass es sich grundsätzlich um eine gebundene Entscheidung handelt. Aus der Formulierung "im Regelfall" folgt zunächst nichts anderes. Sie sagt aus, dass in atypischen Fällen ein Abweichen nach oben oder unten möglich sein soll. Dabei ist die Entscheidung, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern dieser vorgelagert und von den Gerichten voll überprüfbar (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 1994 - 13 RJ 29/93 zum atypischen Fall im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X).

Ein atypischer Fall liegt vor, wenn aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls eine signifikante Abweichung zum Normalfall vorliegt. Begründet kann dies etwa sein durch stark erhöhte Fahrtkosten wegen der Entfernung vom Wohnort zum Ort der Maßnahme oder durch pflegebedürftige Angehörige im Haushalt, was erhöhte Präsenz erforderlich macht. Derartige besondere Einzelfallumstände liegen hier nicht vor.

Sofern der Beklagte eine Familienheimfahrt bewilligt hat bei einer Dauer der Maßnahme für mindestens 14 Tage im Monat ist dies nicht zu beanstanden. Es bedarf dann keiner weiteren Heimfahrt, denn der Rehabilitand kann den Kontakt am Ort des Lebensmittelpunktes in der übrigen Zeit des Monats pflegen (vgl. LSG Berlin, ebenda). Aus dem gleichen Grund besteht kein Anspruch auf Bewilligung einer Familienheimfahrt, wenn die Maßnahme weniger als 14 Tage im Monat andauert.

Übertragen hierauf erweisen sich die hier angefochtenen Bescheide vom 3. September 2012 als rechtmäßig. Im Juni 2011 dauerte die Maßnahme weniger als 14 Tage, weswegen die Kosten für eine Heimfahrt nicht zu bewilligen waren. Im Juli, August und Dezember 2011 dauerte die Maßnahme wegen Ferien mindestens 14 Tage, aber nicht einen vollen Kalendermonat. Hiernach besteht Anspruch auf eine Familienheimfahrt und eine einfache Fahrt für An- bzw. Abreise. Für die Monate September bis November 2011 hat die Beklagte Kosten für zwei Familienheimfahrten übernommen. Im Januar 2012 absolvierte der Kläger zwei einfache Fahrten. Diese Kosten hat die Beklagte bewilligt. Gleiches gilt für Mai 2012 für die einfache Fahrt am 29. Mai 2012 bei Wiederaufnahme der Maßnahme am 29. Mai 2012.

Der Vortrag des Klägers, die im Juni und Juli 2012 geltend gemachten Heimfahrten wegen angeblich unzureichendem Standard der Betten im Internat des Berufsförderungswerks mit einhergehenden Rückenbeschwerden und der Notwendigkeit am Wochenende das häusliche Bett zur Linderung der Beschwerden aufzusuchen, ist nicht im Ansatz belegt. Überdies ist der Vortrag nicht nachvollziehbar. Bei angeblich mangelhafter Qualität der Betten hätte der Kläger schon mit Beginn der Maßnahme im Juni 2011 jedwedes Wochenende das häusliche Umfeld zur Linderung der Beschwerden aufsuchen müssen.

Die Entscheidungen der Beklagten sind hinsichtlich der konkret bewilligten Höhe der Fahrtkosten rechtmäßig.

Nach § 53 Abs. 4 SGB IX a. F. werden Fahrtkosten in Höhe des Betrages zugrunde gelegt, der bei Benutzung eines regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittels der niedrigsten Beförderungsklasse des zweckmäßigsten Verkehrsmittels zu zahlen ist, bei Benutzung sonstiger Verkehrsmittel - wie vorliegend - in Höhe der Wegstreckenentschädigung nach § 5 Abs. 1 BRKG. Die einfache Wegstrecke zwischen der Wohnung des Klägers in So. und dem Ort der Maßnahme Se. beträgt 227 Kilometer. Bei einer während der Zeit der Teilhabe vorgesehenen Pauschale pro Entfernungskilometer in Höhe von 0,20 Euro nach § 5 Abs. 1 BRKG errechnet sich für die einfache Fahrt ein Betrag von 45,40 Euro. Dies hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden umgesetzt. Im Gegensatz zu dem Kläger hat der Senat keine Zweifel, dass die Pauschale von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer für die einfache Wegstrecke ausreichend bemessen ist. Jedenfalls haben weder das BSG noch das BVerwG in jüngerer Zeit nur im Ansatz erwogen, dass die Pauschale verfassungswidrig ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R9003


Informationsstand: 16.01.2020