Urteil
Deckung des notwendigen Bedarfs eines schwerbehinderten Menschen mittels einer Arbeitsassistenz

Gericht:

OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat


Aktenzeichen:

OVG 6 N 79.20 | 6 N 79/20 | 6 N 79.20


Urteil vom:

11.09.2020


Grundlage:

Orientierungssätze:

1. Fehlt eine vertragliche Grundlage für originäre Forderungen des Arbeitgebers gegenüber dem schwerbehinderten Arbeitnehmer, liegt ein Fall vor, bei dem die Aufwendungen für die Arbeitsassistenz nicht vom schwerbehinderten Arbeitnehmer, sondern vom Arbeitgeber zu tragen sind.

2. Für diese Konstruktion sehe § 27 Abs 2 SchwbAV die Möglichkeit einer unterstützenden Leistungsgewährung durch das Integrationsamt an den Arbeitgeber wegen außergewöhnlicher Belastungen im Ermessenswege vor.

3. Dieser gesetzlich vorgezeichnete Weg kann nicht im Nachhinein durch (vertraglich nicht vereinbartes) In-Rechnung-Stellen der Aufwendungen an den Arbeitnehmer umgangen werden, damit dieser gegebenenfalls ungeschmälerte Leistungen des Integrationsamts an den Arbeitgeber auskehren kann.

Rechtsweg:

VG Berlin, Urteil vom 26.06.2020 - 22 K 22.18

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. Juni 2020 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Entscheidungsgründe:

Dem als Schwerbehinderten mit einem GdB von 100 anerkannten Kläger wurden mit Bescheid des Integrationsamtes des Beklagten vom 25. April 2017 Mittel aus der Ausgleichsabgabe für den Zeitraum 1. März 2017 bis 28. Februar 2019 für eine notwendige Arbeitsassistenz bewilligt. Mit Widerspruch und nachfolgender Klage macht er geltend, weder der zeitliche Umfang noch der Stundensatz deckten seinen notwendigen Bedarf ab.

Das Verwaltungsgericht hat die auf Bewilligung weiterer Leistungen gerichtete Verpflichtungsklage mit der Begründung abgewiesen, da ausschließlich über eine rückwirkende Bewilligung höherer Leistungen als im angegriffenen Bescheid vorgesehen gestritten werde, müssten dem Kläger für einen Erfolg der Klage entsprechend höhere Aufwendungen entstanden sein. Dies habe der Kläger weder dargelegt noch bewiesen. Die Assistenzkräfte, die den Kläger im fraglichen Zeitraum unterstützt hätten, seien nicht vom Kläger, sondern von seiner Arbeitgeberin eingestellt und von dort vergütet worden. Es handele sich auch nicht um eine bloße Organisationskonstruktion, bei der der eigentliche Vertragspartner, also der Arbeitgeber der Assistenz, der Kläger gewesen und er seine Arbeitgeberin entsprechend dem Hinweis des Bewilligungsbescheides mit der Abwicklung bevollmächtigt hätte. Arbeitsverträge zwischen dem Kläger und den Assistenzkräften habe es ersichtlich nicht gegeben. Der Kläger habe auch keine Belege bzw. vertraglichen Verpflichtungserklärungen vorlegen können, wonach er seiner Arbeitgeberin die Überlassung der Arbeitsassistenzen vergütet habe. Die vorgelegten Unterlagen belegten lediglich, dass die Arbeitgeberin im Rahmen eines ungeschriebenen Einvernehmens mit dem Kläger erwartet habe, dieser werde die ihm vom Integrationsamt gewährten Leistungen zur Minderung der mit der Arbeitsassistenz dort verbundenen Aufwendungen an seine Arbeitgeberin weiterreichen.

Der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung, den der Kläger auf die Zulassungsgründe ernstlicher Richtigkeitszweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sowie auf grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO stützt, hat auf der allein maßgeblichen Grundlage der Darlegungen im Berufungszulassungsverfahrens (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) keinen Erfolg.

1. Ernstliche Richtigkeitszweifel sind nicht aufgezeigt.

Den rechtlichen Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts, wonach dem Kläger die für den fraglichen Zeitraum geltend gemachten höheren Aufwendungen entstanden sein müssen, weil der Anspruch nach § 185 Abs. 5 SGB IX für eine notwendige Arbeitsassistenz auf Übernahme (entstandener) Kosten gerichtet sei, greift der Kläger nicht an. Er steht im Übrigen auch im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 6. Oktober 2017 - OVG 6 B 86.15 -, Rn. 43 f. bei juris).

a) Der Kläger wendet sich gegen die Würdigung des Verwaltungsgerichts, wonach sich den vorgelegten Schreiben seiner Arbeitgeberin, einer Universität, vom 8. August 2019 sowie vom 20. Dezember 2018 keine entsprechende Vereinbarung mit dem Kläger über dessen etwaige Leistungsverpflichtung gegenüber der Universität entnehmen lasse und es sich bei beiden Schreiben um "verfahrensangepasste Erklärungen" handele. Er macht geltend, das Gericht verkenne eine über mehr als 15 Jahre geübte Praxis des jeweils für den Kläger zuständigen Integrationsamtes, durch die ein das Vertrauen in diese Vorgehensweise rechtfertigender Tatbestand geschaffen worden sei. Es stelle sich darüber hinaus die Frage, wie eine Vereinbarung zwischen ihm und der Arbeitgeberin hätte aussehen können. Er habe gegenüber der Universität seine Ansprüche auf notwendige Arbeitsassistenz (mündlich) abgetreten und darüber hinaus zugesagt, auf dem Rechtsweg zu versuchen, höhere Leistungen durchzusetzen. Eine schriftliche Abtretung seiner Ansprüche gegenüber dem Integrationsamt oder ein ausdrücklicher Dienstleistungsvertrag über die Bereitstellung der notwendigen Arbeitsassistenz ihm gegenüber durch die Universität sei nicht möglich gewesen, weil kein Bewilligungsbescheid vorgelegen habe, die Höhe der Ansprüche absehbar streitig gewesen und in der Vergangenheit auf Basis derselben Rechtsgrundlage bei der Abwicklung nie Probleme aufgetaucht seien. Damit sind ernstliche Richtigkeitszweifel nicht dargelegt.

Insbesondere zeigt dieser Vortrag den konkreten Inhalt einer Vereinbarung zwischen ihm und seiner Arbeitgeberin nicht auf. Vielmehr bestätigt sein Vorbringen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Aufwendungen für die Arbeitsassistenz nicht bei dem Kläger, sondern bei seiner Arbeitgeberin entstanden sind. Sein Vorbringen lässt sich so verstehen, dass er mit der Universität vereinbart hatte, dieser etwaig bewilligte Leistungen des Integrationsamtes kompensatorisch für die von der Universität angestellten Assistenzkräfte zu überlassen. Der Umfang einer solchen Leistungsverpflichtung des Klägers hinge demnach vom Umfang der bewilligten Leistungen des Integrationsamtes ab, wäre aber keine Aufwendung, die dem Kläger ohne entsprechende Bewilligung entstehen würde.

Der Hinweis des Klägers auf die seiner Arbeitgeberin erteilte Abrechnungsvollmacht führt insoweit nicht weiter. Bereits das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass hiermit keine eigenen Aufwendungen des Klägers für Assistenzkräfte im maßgeblichen Bewilligungszeitraum belegt seien.

Dass in früheren Bewilligungsbescheiden, der Kläger nennt den vom 27. März 2015, ein Hinweis enthalten gewesen sein mag, er könne als Assistenznehmer seinen Arbeitgeber zur Durchführung bzw. zur Abrechnung der Assistenzleistungen bevollmächtigten, rechtfertigt schon deshalb keine andere Einschätzung, weil im hier maßgeblichen und allein streitigen Bewilligungsbescheid vom 26. April 2017 ein solcher Hinweis fehlt. Überdies rechtfertigt dieser Hinweis nicht die Annahme, der Kläger müsse keine eigenen Aufwendungen für die Assistenzkräfte nachweisen. Die rechtliche und organisatorische Alleinverantwortung des Klägers für die vertragliche Ausgestaltung und Durchführung des Assistenzverhältnisses, auf die im hier angefochtenen Bescheid ausdrücklich hingewiesen wurde, ist damit nicht in Frage gestellt.

b) Das Verwaltungsgericht hat weiter ausgeführt, da eine vertragliche Grundlage für originäre Forderungen der Universität gegenüber dem Kläger fehle, liege letztlich ein Fall vor, bei dem die Aufwendungen für die Arbeitsassistenz nicht vom schwerbehinderten Arbeitnehmer, sondern vom Arbeitgeber getragen würden. Für diese Konstruktion sehe § 27 Abs. 2 SchwbAV die Möglichkeit einer unterstützenden Leistungsgewährung durch das Integrationsamt an den Arbeitgeber wegen außergewöhnlicher Belastungen im Ermessenswege vor. Dieser gesetzlich vorgezeichnete Weg könne nicht im Nachhinein durch (vertraglich nicht vereinbartes) In-Rechnung-Stellen der Aufwendungen an den Arbeitnehmer umgangen werden, damit dieser gegebenenfalls ungeschmälerte Leistungen des Integrationsamtes an den Arbeitgeber auskehren könne. Mit dieser Argumentation setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander.

Soweit der Kläger hierzu einwendet, er habe zum Beginn des Förderzeitraums am 1. März 2017 und zum Zeitpunkt der mündlich getroffenen Vereinbarung mit seiner Arbeitgeberin auf die Tragfähigkeit dieses (welches?) Modells im Rahmen einer selbstorganisierten Arbeitsassistenz vertrauen dürfen, dieses Vorgehen habe den vorangegangenen Bewilligungszeiträumen entsprochen und der Beklagte habe ihm suggeriert, dass keine (Rechts-) Änderung eingetreten sei, geht dies an der Argumentation des Verwaltungsgerichts vorbei. Eigene Aufwendungen des Klägers für Assistenzkräfte, zumal höhere als die bewilligten, werden durch diesen Vortrag nicht belegt.

Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf Aufklärungs- und Hinweispflichten des Beklagten wegen einer Änderung der Verwaltungspraxis verweist, gilt nichts Anderes. Es ist schon nicht dargelegt, dass der Beklagte in vorangegangenen Bewilligungsverfahren nicht von der Notwendigkeit eigener Aufwendungen des Klägers ausgegangen ist.

Der Einwand, dem Einkauf der Leistungen bei einem Dritten ("Dienstleistungsmodell") stehe es gleich, wenn der Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber Arbeitsassistenz einkaufe ("Abtretungsmodell"), führt ebenfalls nicht auf ernstliche Richtigkeitszweifel. Auch das Verwaltungsgericht nimmt die Möglichkeit, dem Arbeitgeber die Assistenzleistung im Rahmen eines Dienst- oder Werkleistungsvertrages mit einem bestimmten Vergütungssatz abzukaufen, durchaus in den Blick. Die Zulässigkeit dieses Modells wird durch das erstinstanzliche Urteil daher jedenfalls nicht negiert. Dass es eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem Kläger und seiner Arbeitgeberin gegeben habe, ist damit aber nicht dargelegt.

Ohne Erfolg wendet der Kläger ein, das angefochtene Urteil lasse Erwägungen zur Umdeutung seines Antrags bei der Behörde auf Bewilligung von Leistungen für eine notwendige Arbeitsassistenz in einen Antrag auf Leistungen nach § 27 Abs. 2 SchwbAV vermissen. Eine solche Umdeutung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil dieser Antrag nicht vom Kläger, sondern von seiner Arbeitgeberin hätte gestellt werden müssen.

2. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht dargelegt. Sie setzt die Formulierung einer bestimmten, noch ungeklärten und für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Berufungszulassungsbegründung muss daher erläutern, dass und inwiefern die Berufungsentscheidung zur Klärung einer bisher nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage führen kann und sich dabei mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substanziiert auseinandersetzen (BVerwG, Beschluss vom 26. September 2016 - 5 B 3.16 D -, Rn. 11 bei juris m.w.N. zur Parallelnorm im Revisionsverfahren § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Diese Anforderungen erfüllt das Berufszulassungsvorbringen schon deshalb nicht, weil keine entsprechende Frage formuliert wird. Der Hinweis auf die Üblichkeit des Einkaufs von Assistenzleistungen für den Assistenznehmer bei seinem Arbeitgeber vermag dieses Erfordernis nicht zu ersetzen. Zudem ist nicht dargelegt, inwieweit dieser Aspekt im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblich sein soll, zumal nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts eine Vereinbarung zwischen dem Kläger und seiner Arbeitgeberin über den Einkauf von Assistenzleistungen nicht besteht.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Referenznummer:

R/R9155


Informationsstand: 28.01.2021