Urteil
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für ein Masterstudium i.R.d. Opferentschädigung

Gericht:

VGH München


Aktenzeichen:

12 ZB 14.1954 | 12 ZB 14/1954


Urteil vom:

12.10.2015


Grundlage:

Tenor:

I. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 29. Juli 2014 (Az.: Au 3 K 14.660) wird wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zugelassen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

Die ... geborene Klägerin beansprucht mit ihrer Klage Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für ihr Masterstudium der Pharmazeutischen Bioprozesstechnik an der TU München nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

I.
1. Mit Bescheid vom 24. November 2011 erkannte der Beklagte die Klägerin aufgrund des von ihr als Kind im Zeitraum zwischen 1969 und 1982 erlittenen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen durch ihren zwischenzeitlich verstorbenen Vater als nach dem Opferentschädigungsgesetz leistungsberechtigt an und stellte bei ihr einen Grad der Schädigungsfolgen von 40 fest. Als Schädigungsfolgen wurden eine posttraumatische Belastungsstörung, eine abgeklungene Ess-Störung sowie Angst und Depressionen (gemischt) im Sinne ihrer Entstehung festgestellt. Nach Ablegung des Abiturs studierte die Klägerin - jedenfalls formal - 23 Semester Germanistik, Pädagogik und Psychologie an der Universität ..., ehe sie das Studium schädigungsbedingt abbrach. Wohl bereits seit 1990 und zwischen 1997 und 2007 im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses arbeitete sie als angelernte kaufmännische Angestellte im elterlichen Betrieb. 2007 begann sie an der TU München ein Bachelorstudium der Bioprozesstechnik, das sie Ende Februar 2014 erfolgreich abschloss.

2. Auf ihren (telefonischen) Antrag vom 12. Dezember 2011 hin bewilligte ihr das Zentrum Bayern Familie und Soziales, Hauptfürsorgestelle, des Beklagten mit Bescheid vom 15. Februar 2012 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Übergangsgeld und einem Fahrtkostenzuschuss für das Studium der Bioprozesstechnik in München und verlängerte diese krankheitsbedingt bis zum Ende des Bachelorstudiums mit Abgabe der Bachelorarbeit am 28. Februar 2014.

3. Mit Schreiben vom 19. Juli 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Verlängerung der Leistungen für das von ihr nunmehr angestrebte Masterstudium "Pharmazeutische Bioprozesstechnik" an der TU München. Diesen Antrag lehnte die Beklagte, nachdem, sie zuvor u. a. eine Stellungnahme der Agentur für Arbeit eingeholt hatte, mit Bescheid vom 21. Februar 2014 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos. Zur Begründung der Ablehnung führte der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 1. April 2014 aus, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien darauf auszurichten, die Folgen der Schädigung angemessen auszugleichen. Dies sei durch das abgeschlossene Bachelor-Studium erfolgt. Der Abschluss böte exzellente Berufschancen, die sich durch ein anschließendes Master-Studium nicht wesentlich erhöhen würden.

4. Die daraufhin erhobene Verpflichtungsklage blieb ebenfalls erfolglos. Das Verwaltungsgericht Augsburg wies sie mit Urteil vom 29. Juli 2014 als unbegründet ab. Dem Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 26 Abs. 1 des Gesetzes über die Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) und § 33 Abs. 3 Nr. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) habe der Beklagte entsprochen. Der Anspruch der Klägerin richte sich auf Förderung ihrer beruflichen Ausbildung mit dem Ziel eines berufsqualifizierenden Abschlusses. Einen derartigen berufsqualifizierenden Abschluss habe sie mit dem erfolgreichen Bachelor-Studium der Bioprozesstechnik erworben. Der Bachelor erweise sich in diesem Zusammenhang auch nicht als unselbstständige Zwischenstufe zum Erwerb des Mastergrads. Sinn der Aufspaltung bisheriger Diplomstudiengänge in ein Bachelor- und ein Master-Studium sei es gerade, Absolventen nach einem kürzeren Studium den Eintritt in das Berufsleben zu ermöglichen.

Weiter weise der Fall der Klägerin Besonderheiten auf, die es der Hauptfürsorgestelle des Beklagten erlaubt hätten, die Förderung eines anschließenden Master-Studiums abzulehnen. So seien bei der Auswahl der Leistungen nach § 33 Abs. 4 SGB IX Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt angemessen zu berücksichtigen. Eignung und Neigung der Klägerin für das angestrebte Master-Studium seien zu bejahen. Das Integrationsamt hätte in diesem Zusammenhang jedoch den bisherigen Lebensweg der Klägerin, den Verlauf ihres Studiums und vor allem ihr Alter berücksichtigen dürfen. Vor dem Erwerb des Bachelor-Grades habe die Klägerin keine Berufsausbildung abgeschlossen, sondern sei außerhalb oder neben dem Studium als kaufmännische Angestellte im elterlichen Betrieb tätig gewesen. Sie verfüge im Bereich der Bioprozesstechnik über keine einschlägige Berufserfahrung und sei als Berufseinsteigerin anzusehen. Aufgrund des bisherigen Studienverlaufs sei ferner davon auszugehen, dass die Klägerin frühestens im Alter von 51 Jahren das Master-Studium abschließen werde. Angesichts ihrer fehlenden Berufserfahrung, ihres Lebensalters und der mangelnden gesundheitlichen Belastbarkeit seien ihre Aussichten, in das Erwerbsleben einzutreten, unabhängig vom Erwerb des Master-Grads skeptisch zu beurteilen. Mit jedem Jahr zusätzlichen Studiums verschlechtere sich zudem die Relation zwischen der geförderten Ausbildung und der noch möglichen Lebensarbeitszeit weiter. Die Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfolge zum Ausgleich der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer gesundheitlichen Schädigung als Opfer einer Gewalttat und ziele darauf ab, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. Diesem Zweck diene der Erwerb eines berufseröffnenden akademischen Grades. Demgegenüber habe die Kammer den Eindruck gewonnen, der Klägerin gehe es in erster Linie darum, aus ideellen Gründen den Mastergrad zu erwerben, um so nachzuholen, was ihr schädigungsbedingt nicht möglich gewesen sei. Dies sei vom Zweck der Förderung jedoch nicht mehr gedeckt.

5. Mit ihrem gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung macht die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreterin des Beklagten verweist auf die Richtigkeit der Ausgangsentscheidung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Rechtsweg:

VG Augsburg, Urteil vom 29.07.2014 - Au 3 K 14.660
VGH Bayern, Beschluss vom 26.02.2016 - 12 B 15.2255

Quelle:

BAYERN.RECHT

II.

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, da ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 29. Juli 2014 im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen.

1. Die Klägerin besitzt auf der Grundlage der Anerkennung der erlittenen Schädigung durch den Bescheid vom 24. November 2011 nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der erlittenen Gewalttat einen Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes. Nach § 25 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 26 Abs. 1 BVG erhält sie in entsprechender Anwendung der Vorschriften der §§ 33 bis 38a SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Als derartige Teilhabeleistungen hat die Beklagte der Klägerin bis einschließlich 28. Februar 2014 nach § 26 Abs. 4 Nrn. 1, 5 BVG Übergangsgeld sowie Reisekosten für das Bachelor-Studium der Bioprozesstechnik an der TU München geleistet. Zu den Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben bestimmt die auf der Grundlage von § 27f BVG erlassene Verordnung zur Kriegsopferfürsorge (KFürsV) in § 1 Abs. 1, dass diese Leistungen darauf auszurichten sind, durch Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung einer der Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit des Beschädigten entsprechenden beruflichen Tätigkeit die Folgen der Schädigung angemessen auszugleichen oder zu mildern. Nach § 1 Abs. 2 KFürsV setzt die Einleitung von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraus, dass das Leistungsvermögen des Beschädigten erwarten lässt, dass er das Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erreichen wird, dass die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seiner Eignung, Neigung und Fähigkeit entsprechen, dass der beabsichtigte Ausbildungsweg zweckmäßig ist und der Beruf oder die Tätigkeit voraussichtlich eine ausreichende Lebensgrundlage vermittelt.

§ 33 Abs. 1 SGB IX beschreibt als Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Erhaltung, Verbesserung, Herstellung oder Wiederherstellung der Leistungs- bzw. Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen. Bei der Auswahl der hierzu erforderlichen Leistungen - darunter unter § 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX die berufliche Ausbildung - sollen nach § 33 Abs. 4 Satz 1 SGB IX Eignung, Neigung, die bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen berücksichtigt werden. Um Letzteres feststellen zu können, kann der zuständige Rehabilitationsträger nach § 38 Satz 1 SGB IX eine gutachterliche Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit zu Notwendigkeit, Art und Umfang von Leistungen unter Berücksichtigung arbeitsmarktlicher Zweckmäßigkeit anfordern.

2. Gemessen an den vorstehenden gesetzlichen Anforderungen begegnet die Annahme des Beklagten wie auch des Verwaltungsgerichts, ein angemessener Ausgleich der Schädigungsfolgen der Klägerin liege bereits mit der Förderung des Bachelor-Studiums als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben vor, ernstlichen Zweifeln.

2.1 Nach § 1 Abs. 1 KFürsV muss das Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben der angemessene Ausgleich der Schädigungsfolgen sein. Dass dies bei der Hochschulausbildung der Klägerin, für die sie geeignet ist und die ihren Neigungen entspricht, lediglich das Bachelorstudium einschließt, ist zweifelhaft. Denn soweit der Staat außerhalb des sozialen Entschädigungsrechts eine Hochschulausbildung im Rahmen des Bundesgesetzes zur individuellen Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG) fördert, umfasst nach § 7 Abs. 1a BAföG der Leistungsanspruch auch die Förderung eines auf ein Bachelorstudium aufbauenden Masterstudiums. Dabei sieht der Gesetzgeber das Masterstudium nicht als weitere Ausbildung an, sondern dehnt vielmehr den Grundanspruch auf Förderung einer Erstausbildung auf den Masterstudiengang aus. Bachelor- und Masterstudium bilden ausbildungsförderungsrechtlich eine einheitlich zu betrachtende Erstausbildung (vgl. Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 5. Aufl. 2014, § 7 Rn. 4).

Wird eine Hochschulausbildung, wie im vorliegenden Fall, nicht im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes sondern als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach dem Opferentschädigungsgesetz gefördert und soll mit dieser Förderung ein angemessener Ausgleich der Schädigungsfolgen erreicht werden, kann sich die Förderung ohne einen Wertungswiderspruch zu generieren nicht allein auf das Bachelorstudium beschränken, sondern umfasst, sofern die entsprechende Eignung der Anspruchsberechtigten besteht, auch das Masterstudium.

2.2 Hinzu kommt, dass es der Klägerin im vorliegenden Fall gerade aufgrund der Schädigungsfolgen nicht möglich war, ihr nach dem Abitur begonnenes Studium an der Universität ... zu beenden. Ohne die Schädigung, die Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz gerade angemessen ausgleichen sollen, hätte die Klägerin daher den akademischen Grad eines Magister oder bei anderen Studiengängen ein Diplom oder ein Staatsexamen erworben. Hinter diesen Abschlüssen bliebe indes der im Zuge des Bologna-Prozesses eingeführte akademische Grad eines Bachelor zurück. Mithin läge in der Beschränkung der Förderung allein eines Bachelorstudiums der Klägerin kein angemessener Ausgleich der Schadensfolgen.

2.3 Schließlich erweisen sich der Ablehnungsbescheid wie auch das verwaltungsgerichtliche Urteil auch deshalb als zweifelhaft, weil es die Angemessenheit der Förderung allein des Bachelorstudiums auf Annahmen zur Arbeitsmarktsituation unter Berücksichtigung des Lebensalters der Klägerin stützt, die keine tragfähige Grundlage besitzen. Die vom Beklagten nach § 38 SGB IX eingeholte gutachterliche Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit besteht lediglich aus zwei Sätzen und beschränkt sich auf die Feststellung, dass das Masterstudium der Klägerin die Chancen ihrer Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht wesentlich erhöhen würde. Ferner sei aufgrund des Alters der Klägerin eine Vermittlung als Berufseinsteigerin zum jetzigen Zeitpunkt bereits erschwert. Zwar besteht bei gutachterlichen Stellungnahmen auf Seiten der Bundesagentur für Arbeit ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum (vgl. Knittel, SGB IX, 8. Aufl. 2015, § 33 Rn. 114). Indes lässt sich aus den dürren "Hinweisen" der Bundesagentur weder eine fundierte Tatsachengrundlage des Arbeitsmarkts für Absolventen des Studiengangs Bioprozesstechnik entnehmen, noch nachvollziehbare Gründe, weshalb das Lebensalter gerade in diesem Arbeitsmarktsegment zu Erschwernissen bei der Integration in den Arbeitsmarkt führen soll. Überdies bestehen auch Zweifel, ob das Alterskriterium in der vorstehend geschilderten Art und Weise in die Bewertung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben überhaupt einfließen darf (vgl. LSG Baden-Württemberg, U. v. 26.7.2007 - L 10 R 5394/06 - NZS 2008, 319 Rn. 31).

Die angeführten Aspekte begründen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, so dass die Berufung hiergegen zuzulassen war. Auf das Vorliegen weiterer Zulassungsgründe kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an.

Nach derzeitigem Sach- und Erkenntnisstand ist daher eine Verpflichtung des Beklagten zur Verlängerung der Leistungen für das angestrebte Masterstudium überwiegend wahrscheinlich, so dass der Senat eine Abhilfeentscheidung des Beklagten anregt.

3. Das Verfahren wird künftig unter dem Aktenzeichen 12 B 15.2255 geführt.

Referenznummer:

R/R7395


Informationsstand: 05.10.2017