Urteil
Kostenübernahme bei notwendiger Arbeitsassistenz im Rahmen der Begleitenden Hilfe im Arbeitsleben - Gebärdensprachdolmetscherkosten für ein Fernstudium - Erweiterung der Kenntnisse und Fähigkeiten für den beruflichen Aufstieg

Gericht:

VG Berlin 22. Kammer


Aktenzeichen:

22 K 172.15


Urteil vom:

11.07.2017


Grundlage:

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Integrationsamts Berlin vom 26. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Widerspruchsausschusses bei dem Integrationsamt vom 18. Juni 2015 verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe als Zuschuss zu den Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz für ihr Fernstudium "Angewandte Gesundheitswissenschaften" an der Hochschule M... unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die 19... geborene Klägerin ist wegen - im Wesentlichen - beidseitiger Taubheit mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 als schwerbehindert anerkannt (Bescheid des Landesamts für Gesundheit und Soziales vom 5. August 2013). Die Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten und ist seit 2009 als Sachbearbeiterin bei der D... (D...) mit unbefristeten Arbeitsvertrag vollzeitbeschäftigt. Hierbei gehört es u.a. zu ihren Aufgaben, Anträge auf Regelaltersrente und Erwerbsfähigkeitsminderungsrenten zu bearbeiten.

Zum 1. April 2014 nahm die Klägerin ein Fernstudium "Angewandte Gesundheitswissenschaften" mit dem Ziel an eines Bachelor-Abschlusses an der Hochschule M...-S... (FH) auf. Mit Schreiben vom 13. April 2014, bei der Beklagten eingegangen am 29. April 2014, beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetscher (Doppelbesetzung) sowie einer Schreibkraft zwecks Teilnahme an den alle 5 Wochen stattfindenden Präsenzveranstaltungen des Studiums, jeweils am Freitagnachmittag und am Samstag zwischen 9 und 17 Uhr. Mit Schreiben vom 14. Juni 2014 (eingegangen am 30. Juni 2014) erinnerte die Klägerin an den bislang nicht beschiedenen Antrag hinsichtlich der Kostenübernahme für die Gebärdensprachdolmetscher. Die Klägerin reichte hierfür ein Kostenangebot der Gebärdensprachdolmetscherin W... ein. Der Beklagte bestätigte den Eingang des Antrags und forderte von der Klägerin noch weitere Unterlagen an, u.a. einen Formularantrag, den die Klägerin am 7. Juli 2014 ausgefüllt einreichte.

Mit Bescheid des Integrationsamts Berlin vom 26. August 2014 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, Voraussetzung für die Gewährung von Mitteln aus der Ausgleichsabgabe sei u.a., dass der entsprechende Antrag gestellt werde, bevor Verpflichtungen eingegangen würden, die mit der beantragten Leistung erfüllt werden sollten. Die Antragstellung sei jedoch erst am 14. Juni 2014 erfolgt, obwohl die Klägerin das Studium bereits am 1. April 2014 begonnen habe.

Ihren hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin u.a. damit, dass sie bereits am 2. April 2014 und damit vor Studienbeginn den Antrag auf Kostenübernahme gestellt habe. Die erste Präsenzveranstaltung habe am 11. April 2014 stattgefunden.

Mit Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses bei dem Integrationsamt vom 18. Juni 2015 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zur Begründung heißt es: Der Widerspruchsausschuss habe bei seiner Entscheidungsfindung davon auszugehen gehabt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der arbeitsvertraglichen Tätigkeit und dem beantragten Fernstudiengang weder hinreichend vorgetragen noch nachgewiesen worden sei. Da dies jedoch grundsätzlich Voraussetzung für die Förderwürdigkeit aus Mitteln der Ausgleichsabgabe sei und ein Studium nach der Entscheidungspraxis des Integrationsamts keine Fortbildung im Sinne von § 24 SchwbAV darstelle, sei hier die vorrangige Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers gegeben. Das Integrationsamt sei kein Rehabilitationsträger und komme somit auch nicht für Leistungen der beruflichen Rehabilitation auf. Zudem sehe der Widerspruchsausschuss die bestehenden Zweifel einer rechtzeitigen Antragstellung vor Studienbeginn nicht restlos ausgeräumt.

Hiergegen richtet sich die am 31. Juli 2015 bei Gericht erhobene Klage. Die Klägerin wiederholt und vertieft im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Insbesondere bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Inhalt ihres Studiums und ihrer Tätigkeit bei der D.... Dort habe die Klägerin mangels Hochschulabschlusses keine Aufstiegsmöglichkeiten, da sie durch ihre Schwerbehinderung erheblich benachteiligt sei. Das Studium "Angewandte Gesundheitswissenschaften" baue auch inhaltlich auf der Tätigkeit der Klägerin bei der D...B... auf und könne ihr zu einer Qualifikation verhelfen. Die bislang angefallenen Kosten der Gebärdensprachdolmetscher beliefen sich auf 16.480,48 EUR. Die Klägerin reicht zum Beleg die entsprechenden Dolmetscher-Rechnungen der Frau C..., A... und A... ein, die den Zeitraum April 2014 bis Juni 2015 betreffen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass sie aus finanziellen Gründen seit Herbst 2015 keine Leistungen von Gebärdensprachdolmetschern bei den Präsenzveranstaltungen des Studiums mehr in Anspruch genommen habe, wodurch ihr das Verständnis der Präsenzveranstaltungen mit der Folge schlechter gewordener schriftlicher Leistungen deutlich erschwert worden sei. Sie gehe jedoch davon aus, ihr Studium gleichwohl regulär abschließen zu können, benötige jedoch noch ca. 10 bis 12 Mal die Dienste von Gebärdensprachdolmetschern. Die Klägerin reicht eine Bescheinigung ihres Arbeitgebers, der D..., vom 6. Februar 2017 ein, wonach der angestrebte Studienabschluss ihre beruflichen Aufstiegschancen erhöhe. Allerdings stünden entsprechende Stellen derzeit nicht zur Verfügung.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Integrationsamts Berlin vom 26.08.2014 in der Gestaltung des Widerspruchsbescheids des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt Berlin vom 18.06.2015 zu verpflichten, über den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe als Zuschuss zu den Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz für ihr Fernstudium im Bereich "Angewandte Gesundheitswissenschaften" an der Hochschule M... neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft im Wesentlichen die Begründung aus den ablehnenden Bescheiden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Durch Beschluss der Kammer vom 16. Februar 2017 ist der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne weitere mündliche Verhandlung auf schriftlichem Wege entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihrem Recht auf ermessensfehlerhafte Entscheidung, soweit die Kosten der Gebärdensprachdolmetscherleistungen für die Wahrnehmung der Präsenzveranstaltungen für das von der Klägerin betriebene Fernstudium abgelehnt wurden. Der Bescheid war daher aufzuheben und der Beklagte zur erneuten Bescheidung des Antrages zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Anspruchsgrundlage für die Gewährung von Zuschüssen zu dem von der Klägerin betriebenen Fernstudium ist § 102 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 e) SGB IX i.V.m. § 24 SchwbAV. Nach § 102 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 e) SGB IX kann das Integrationsamt im Rahmen seiner Zuständigkeit für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch Geldleistungen erbringen, insbesondere zur Teilnahme an Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten.

Die Gewährung von Leistungen nach § 102 Abs. 3 SGB IX steht damit im Ermessen des Beklagten. Nach § 114 VwGO in Verbindung mit § 39 Abs. 1 SGB I prüft das Gericht in diesen Fällen lediglich, ob die Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.

Es war ermessensfehlerhaft, das von der Klägerin betriebene Fernstudium von vornherein als nicht förderungsfähig auszuschließen. Soweit § 24 Satz 1 SchwbAV "vor allem" auf die "besonderen Fortbildungs- und Anpassungsmaßnahmen, die nach Art, Umfang und Dauer den Bedürfnissen dieser schwerbehinderten Menschen entsprechen" verweist, handelt es sich nur um eine Heraushebung der "vor allem" förderungswürdigen, jedoch nicht um einen Ausschluss der sonstigen Maßnahmen. Dies folgt auch aus der Verordnungsbegründung zu § 24 SchwbAV, wonach durch die Vorschrift "vor allem" - aber eben nicht ausschließlich - den Fällen Rechnung getragen werden sollte, in denen Schwerbehinderte nicht in der Lage sind, allgemeine Fortbildungs- und Anpassungsmaßnahmen zu besuchen (vgl. Bundesrats-Drs. 482/87, S. 64 f., OVG Münster, Beschluss vom 8. Mai 2012 - 12 A 1602/11 - nach juris Rn. 19 f.)

Hinsichtlich der Eignung der zu fördernden Maßnahme der beruflichen Bildung gilt nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 SchwbAV lediglich die allgemeine - nicht arbeitsplatzbezogene - Leistungsvoraussetzung, dass durch die Leistung die auf besondere Schwierigkeiten stoßende Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht, erleichtert oder gesichert werden kann (OVG Münster a.a.O. Rn 21 f. m.w.N.).

Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, weil das Fernstudium geeignet ist, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin für ihre Tätigkeit bei der D... - insbesondere bei der Bearbeitung von Rentenanträgen wegen Erwerbsminderung - zu erweitern und damit auch ihre Chancen für einen beruflichen Aufstieg zu erhöhen. Der Arbeitgeber hat glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass er das Fernstudium der Klägerin für geeignet hält, ihre Aufstiegschancen zu erhöhen.

Bei einer generellen Versagung einer Förderung des Fernstudiums der Klägerin würde auch außer Acht gelassen, dass gerade auch die Qualifizierung von Schwerbehinderten über die jeweils ggf. ausgeübte berufliche Tätigkeit hinaus und die damit verbundene Steigerung der Attraktivität dieser Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Maß geeignet ist, die sich aus der jeweiligen Behinderung ergebenden, sonst nicht ausgeglichenen oder überhaupt ausgleichbaren vielfältigen Nachteile dauerhaft zu reduzieren. Gerade deshalb eröffnet § 24 Satz 2 SchwbAV die Möglichkeit, ohne inhaltliche Beschränkungen Hilfen auch zum beruflichen Aufstieg zu erbringen (OVG Münster a.a.O. Rn. 29).

Der Beklagte wäre auch im Übrigen für die Förderung und Leistungsgewährung zuständig, da eine rechtzeitige Weiterleitung des Antrags der Klägerin an einen ggf. vorrangigen Rehabilitationsträger nicht erfolgt ist (vgl. § 102 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX) und es vorliegend um den Bereich Teilhabe am Arbeitsleben geht. Soweit der Beklagte von einem anderen Verständnis des § 102 Abs. 6 SGB IX ausgeht (die sinngemäße Anwendung des § 14 SGB IX beschränke sich auf die Weiterleitungsbefugnis bzw. -pflicht, ohne die Rechtsfolge der Zuständigkeitsfiktion auszulösen) so überzeugt dies nicht. Abgesehen davon, dass der Wortlaut des § 102 Abs. 6 Satz 1 SGB IX für eine solche einschränkende Auslegung nichts hergibt, spricht auch der Sinn und Zweck des § 4 Abs. 1 SGB IX - Zuständigkeitsfragen und -streitigkeiten nicht auf dem Rücken des Hilfebedürftigen auszutragen - für eine uneingeschränkte entsprechende Anwendung. Der besondere Fall, dass das Integrationsamt einen von einem Rehabilitationsträger gemäß § 16 Abs. 2 SGB I empfangenen Antrag entgegen der Bindungswirkung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX selbst noch einmal weiterleiten darf (§ 102 Abs. 6 Satz 2 SGB IX) ist ausdrücklich geregelt, bedeutet aber auch, dass bei fehlender Weiterleitung die Zuständigkeit des Integrationsamts gegenüber dem Hilfebedürftigen bestehen bleibt.

Bei der vorliegend zu treffenden Ermessensentscheidung hat der Beklagte in die Abwägung einstellen (bezüglich des "ob"), dass die Klägerin mit ihrem Studium bereits weit fortgeschritten und nach der eingereichten Übersicht über die erbrachten Leistungen ein erfolgreicher Abschluss zu erwarten ist, die Unterstützung durch Gebärdensprachdolmetscher gerade in der Schlussphase des Studiums jedoch besondere Bedeutung hat. Hinsichtlich der bis Sommer 2015 bereits aufgelaufenen Gebärdensprachdolmetscherkosten - Zweifel an der Angemessenheit der Höhe der abgerechneten Leistungen bestehen nach Aktenlage nicht - dürfte von Bedeutung sein, dass die Klägerin durch die Verauslagung der Kosten und die lange "gestundeten" Forderungen der Dienstleister mittlerweile in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Ferner, dass sie für die Zeit danach unter Inkaufnahme nicht unerheblicher Studienbenachteiligungen bis heute - notgedrungen - auf die weitere Inanspruchnahme von Kommunikationsassistenz "verzichtet" hat, so dass für den vergangenen Zeitraum von etwa 2 Jahren auch für den Beklagten eine finanzielle "Entlastung" stattgefunden hat. Es könnte deshalb eine Ermessenserwägung sein, bei der Frage, in welcher Höhe Leistungen für die Zeit bis Juni 2015 und in der anstehenden Studienschlussphase übernommen werden sollten, einen großzügigeren Maßstab zu Grunde zu legen als wenn Kommunikationsassistenzleistungen über die gesamte Studiendauer (ggf. anteilig) zu übernehmen gewesen wären.

Ermessensfehlerhaft wäre es jedenfalls, die Förderung allein mit Blick darauf zu versagen, dass der Leistungsantrag der Klägerin erst nach Beginn des Studiums im April 2014 beim Beklagten eingegangen ist; ob der Widerspruchsbescheid hierauf abgestellt hat, wird allerdings aus der Formulierung nicht deutlich. Das Gesetz stellt einen solchen Zusammenhang nicht her; sach- und ermessensgerecht könnte es daher lediglich sein, Leistungen für im Zeitpunkt der Antragstellung bereits entstandene Aufwendungen abzulehnen (hier also ggf. die von der Klägerin für April 2014 bereits in Anspruch genommenen Kommunikationsassistenz-Dienstleistungen), nicht jedoch für den künftigen Bedarf (hier ab Mai 2014) nach Antragstellung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R7841


Informationsstand: 19.12.2018