Urteil
Betriebliches Eingliederungsmanagement - Verpflichtung zu erneutem Angebot - krankheitsbedingte Kündigung

Gericht:

LAG Rheinland-Pfalz 8. Kammer


Aktenzeichen:

8 Sa 359/16


Urteil vom:

10.01.2017


Grundlage:

Leitsatz:

Ist ein eigentlich erforderliches betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) unterblieben, trägt der Arbeitgeber die primäre Darlegungslast für dessen Nutzlosigkeit. Die Nutzlosigkeit des bEM wird nicht allein dadurch belegt, dass der Arbeitnehmer in einem früheren Gespräch mitteilte, die vorherigen Erkrankungen seien schicksalhaft gewesen.

Rechtsweg:

ArbG Ludwigshafen, Urteil vom 22. Juni 2016 - 3 Ca 456/16

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 22.06.2016, Az.: 3 Ca 456/16, wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten mit Schreiben vom 26.02.2016 ausgesprochenen und am gleichen Tag dem Kläger zugegangenen krankheitsbedingten ordentlichen Kündigung zum 30.09.2016.

Die Beklagte erzeugt Wellpappenprodukte und beschäftigt hierzu in ihrem Betrieb regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer im Sinne des § 23 KSchG.

Der 1958 geborene und geschiedene Kläger ist seit dem 21. November 1988 bei der Beklagten zuletzt als Maschinenarbeiter/Helfer mit einem monatlichen Bruttoverdienst in Höhe von 2.100,00 EUR beschäftigt.

Seit 2011 weist der Kläger in Folge von Arbeitsunfähigkeit folgende Fehlzeiten auf:

Im Jahr 2011 fehlte er deshalb vom 21.03 bis 29.03 an 7 Arbeitstagen, vom 02.05 bis 13.05 an 10 Arbeitstagen und vom 27.05 bis zum 2.12. an 114 Tagen. Im Jahr 2011 leistete die Beklagte insgesamt für 47 Tage Entgeltfortzahlung.

Sodann fehlte der Kläger im Jahr 2012 aufgrund von Arbeitsunfähigkeit vom 02.02 bis 10.02 an 7 Arbeitstagen, vom 01.05 bis 18.05 an 14 Arbeitstagen und vom 19.10 bis 16.11 an 21 Arbeitstagen, insgesamt also an 42 Arbeitstagen, für die die Beklagte insgesamt 4.964,00EUR Entgeltfortzahlung leistete.

Im Jahr 2013 fehlte der Kläger schließlich vom 07.01. bis 15.02 an 30 Arbeitstagen, vom 22.04 bis 19. 06 an 39 Arbeitstagen und vom 3.12 bis 6.12 an 4 Arbeitstagen, insgesamt also an 73 Arbeitstagen, für die die Beklagte insgesamt 9.492,00 EUR Entgeltfortzahlung leistete.

Der Kläger war im Jahr 2014 am 19.02 einen Arbeitstag und erneut vom 10.03 bis 01.11 arbeitsunfähig erkrankt und damit insgesamt 164 Tage, wobei der Kläger seit dem 22.04 aus der Entgeltfortzahlung ausgeschieden war, so dass die Beklagte insgesamt in diesem Jahr für 31 Tage Entgeltfortzahlung in Höhe von 3.643,00 EUR leistete.

Am 26.01.2015 führte die Beklagte mit dem Kläger ein Gespräch vor ihrem betrieblichen Eingliederungsmanagementausschuss durch. Der Kläger erkrankte erneut arbeitsunfähig wegen Beschwerden an der rechten Hand ab dem 18.05.2015 bis zum Zugang der Kündigung am 26. Februar 2016 und darüber hinaus. Im Jahr 2015 leistete die Beklagte für 30 Arbeitstage Entgeltfortzahlung in Höhe von 3.721,00 EUR sodann schied der Kläger aus der Entgeltfortzahlung aus, weshalb auch im Jahr 2016 keine weiteren Entgeltfortzahlungskosten mehr anfielen.

Nach Anhörung des Betriebsrats zu einer Kündigung aus personenbedingten Gründen (vgl. Anhörungsschreiben Blatt 25 f. d.A. sowie Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats Bl. 27 f. d.A.), kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 26.02.2016 zum 30.09.2016.

Mit seiner am 11.03.2016 beim Arbeitsgericht Ludwigshafen eingegangenen Kündigungsschutzklage wehrt sich der Kläger gegen die Beendigung des mit der Beklagten geschlossenen Arbeitsverhältnisses.

Der Kläger hat geltend gemacht,
die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Insoweit bestreitet er u.a. eine negative Prognose und verweist dazu für die meisten Arbeitsunfähigkeitszeiträume unter Darlegung unter Entbindung der behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht auf die jeweilig zugrundeliegende Krankheitsursache und deren Einmaligkeit bzw. Ausheilung (genauer Bl. 30-33 d.A.). Zudem hätte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung wegen der ihr bekannten Handerkrankung ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchführen müssen. Denn es hätte ein milderes Mittel als die streitgegenständliche Kündigung gefunden werden können.


Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Februar 2016 nicht beendet wird.


Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat insoweit die Auffassung vertreten,
die Kündigung sei sozial gerechtfertigt und insbesondere auch verhältnismäßig gewesen. Sie hätte vor Ausspruch der Kündigung nicht erneut ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchführen müssen. Es stünden keine freien Arbeitsplätze mit geringeren körperlichen Belastungen zur Verfügung, auf denen der Kläger hätte weiterbeschäftigt werden können. Zudem habe der Kläger am 26. Januar 2015 im Rahmen des Gesprächs - insoweit unstreitig - erklärt, die Beklagte könne zur Vermeidung künftiger Arbeitsunfähigkeit nichts beitragen, seine Erkrankungen seien schicksalhaft gewesen.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 22.06.2016 der Kündigungsschutzklage stattgeben. Es hat hierzu zusammengefasst im Wesentlichen ausgeführt, dass die Kündigung unverhältnismäßig sei, da die Beklagte die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung pflichtwidrig unterlassen und sie auch nicht die objektive Nutzlosigkeit des betrieblichen Eingliederungsmanagements dargelegt habe.

Die Beklagte macht nach Maßgabe ihres Berufungsschriftsatzes vom 12.09.2016 zusammengefasst im Wesentlichen geltend:

Das Arbeitsgericht habe das am 26.01.2015 durchgeführte betriebliche Eingliederungsmanagementgespräch nicht ausreichend gewürdigt und sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass es vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung eines weiteren Gesprächs bedurft hätte. Schließlich sei die Jahresfrist des § 84 Abs. 2 SGB IX noch nicht verstrichen. Zudem habe eine Kündigung durch ein betriebliches Eingliederungsmanagement auch nicht vermieden werden können. Unter Beachtung des unstreitigen Schreibens der AOK vom 29.06.1998 habe es keinen Arbeitsplatz mit geringerer Belastung in ihrem Betrieb gegeben, da dem Kläger nur leichte und teilweise mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel von Gehen und Stehen bei überwiegend aufrechter Körperhaltung und unter Vermeidung häufigen Bückens und sonstigen Zwangshaltungen sowie unter Vermeidung von Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 15 kg möglich seien.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend und verweist zur Unbegründetheit der Berufung insbesondere darauf, dass wegen der Erkrankung der Hand ein betriebliches Eingliederungsmanagement notwendig gewesen sei, da in diesem umfassend geprüft werde, welche Möglichkeiten bestünden, um die Ausfallzeiten der Vergangenheit durch Veränderungen verschiedenster Art zu verringern. Dies könnten im Ergebnis eben nicht nur ein leichterer Arbeitsplatz sondern u.a. auch Hilfestellungen, wie beispielsweise Vorrichtungen an einer Maschine, sein.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und ausreichend begründet worden. Sie erweist sich auch sonst als zulässig.


II.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage mit zutreffender Begründung zu Recht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung der Beklagten vom 26.02.2016 nicht mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 30.09.2016 aufgelöst worden.

Die Kündigung ist rechtsunwirksam, da sie sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1, 2 KSchG). Das KSchG findet auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien Anwendung (§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG). Der Kläger hat innerhalb der Frist der §§ 4, 7 KSchG Kündigungsschutzklage erhoben.

1. Das Arbeitsgericht ist zutreffend von den Grundsätzen ausgegangen, die das Bundesarbeitsgericht zur sozialen Rechtfertigung von Kündigungen, die aus Anlass von Krankheiten ausgesprochen werden, entwickelt hat.

a) Danach ist eine dreistufige Prüfung vorzunehmen. Die krankheitsbedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG), wenn eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegt - erste Stufe -, eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen ist - zweite Stufe - und eine Interessenabwägung ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen - dritte Stufe - (st. Rspr. des BAG vgl. etwa 21.05.1992 - 2 AZR 399/91, NZA 1993, 497).

b) Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob überhaupt eine negative Gesundheitsprognose wegen häufiger (Kurz-)erkrankungen in der Vergangenheit zu bejahen ist. Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob auch bei unveränderter Sachlage in Zukunft mit Entgeltfortzahlungskosten im Krankheitsfall für mehr als 6 Wochen zu rechnen ist. Denn die soziale Rechtfertigung der Kündigung scheitert jedenfalls in der 3. Prüfungsstufe. Sie ist nicht "ultima ratio" und deshalb unverhältnismäßig.

3. Die Beklagte trägt als Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast für die Verhältnismäßigkeit der ausgesprochenen Kündigung. Die Beklagte hat das gesetzlich vorgesehene betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) unterlassen, ohne dass sie ausreichend dargelegt hätte, es habe im Kündigungszeitpunkt kein milderes Mittel als die Kündigung gegeben, um der in der Besorgnis weiterer Fehlzeiten etwaig bestehenden Vertragsstörung entgegenzuwirken. Das pflichtwidrige Unterlassen eines bEM führt daher im Streitfall dazu, dass die Kündigung vom 26.02.2016 unverhältnismäßig ist.

a) Die Durchführung des bEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 84 Abs. 2 SGB IX ist dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden. Nur wenn auch die Durchführung des bEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können, ist sein Fehlen unschädlich. Insoweit trifft den Arbeitgeber eine erweiterte Darlegungs- und Beweislast. Um darzutun, dass die Kündigung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt und ihm keine milderen Mittel zur Überwindung der krankheitsbedingten Störung des Arbeitsverhältnisses als die Beendigungskündigung offenstanden, muss der Arbeitgeber die objektive Nutzlosigkeit des bEM darlegen. Hierzu hat er umfassend und detailliert vorzutragen, warum ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten bzw. der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Er hat danach umfassend und detailliert vorzutragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen wären und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. Ist es denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau von Fehlzeiten bzw. zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit also Erfolg gehabt hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe "vorschnell" gekündigt (zum Ganzen BAG 13.05.2015 - 2 AZR 565/14 - Rn. 24 ff. mwN, NZA 2015, 612, 614 f.).

b) Die Beklagte war gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, (erneut) ein bEM durchzuführen.

Der Kläger war vor Ausspruch der Kündigung am 26.02.2016 seit dem 18.05.2015 wegen eines Handleidens durchgehend und damit länger als 6 Wochen innerhalb der letzten 365 Tage erkrankt. Die gesetzlichen Voraussetzungen zur Durchführung nach § 84 Abs. 2 SGB IX liegen damit vor.

Die hiergegen mit der Berufung vorgeberachten Einwände der Beklagten verfangen nicht. Sie kann weder auf das zuvor am 26.01.2015 geführte Gespräch verweisen noch darauf, dass ausgehend von der Erkrankung am 18.05.2015 im Zeitpunkt der Kündigung am 26.02.2016 noch keine 12 Monate abgelaufen seien.

Denn weder führt vorliegend ein einmal durchgeführtes bEM dazu, dass die 6-Wochen-Frist erst wieder ein Jahr nach durchgeführten bEM neu zu laufen beginnt und damit im Kündigungszeitpunkt erst circa 4 Wochen Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen gewesen wären. Noch verblieb der Beklagten vorliegend hinsichtlich der am 18.05.2015 beginnenden Arbeitsunfähigkeit ab Überschreiten des im Gesetz vorgesehenen 6-wöchigen Arbeitsunfähigkeitszeitraums ein Jahr Zeit zur Durchführung eines bEM. Beides lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.

Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber nach § 84 Abs. 2 SGB IX mit Zustimmung und unter Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.

Damit wird als Voraussetzung für das bEM in § 84 Abs. 2 SGB IX lediglich die Arbeitsunfähigkeit eines Beschäftigten innerhalb eines Jahres für länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt normiert. Dem Gesetzeswortlaut lässt sich allein entnehmen, dass sobald die Zeitgrenze von 6 Wochen Arbeitsunfähigkeit überschritten ist, der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer Kontakt aufnehmen und ihm die Durchführung des BEM anbieten muss. Diese Voraussetzung dient damit allein der zeitlichen Eingrenzung und Festlegung ab wann es jedenfalls der Durchführung eines bEM bedarf. Die Verpflichtung des Arbeitgebers soll danach nicht schon bei jeder Arbeitsunfähigkeit eingreifen, sondern erst dann, wenn innerhalb eines Jahres (nicht notwendig Kalenderjahres, vgl. BAG 24.03.2011 - 2 AZR 170/10, NZA 2011, 992, 994) eine länger als 6 Wochen am Stück dauernde Arbeitsunfähigkeit oder in Gesamtheit der Fehltage mehr als 6 Wochen gegeben sind.

Hingegen enthält der Wortlaut keinen Anhaltspunkt dafür, dass in § 84 Abs. 2 SGB IX eine Art Ausschlussfrist bei Durchführung eines bEM für ein Jahr normiert wird. Erst Recht fehlt es an einen Anknüpfungspunkt für eine Jahresfrist zur Durchführung des bEM. Denn es heißt in § 84 Abs. 2 SGB IX weder "klärt der Arbeitgeber einmalig innerhalb eines Jahres" noch "klärt der Arbeitgeber binnen eines Jahres ab 6-wöchiger Arbeitsunfähigkeit".

Beides würde zudem dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerade zuwider laufen. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 15/1783 S. 15) sollen krankheitsbedingte Kündigungen bei allen Arbeitnehmern durch das BEM verhindert werden (vgl. BAG 12.07.2007 - 2 AZR 716/06 -, NZA 2008, 173). Die Durchführung des bEM soll möglichst frühzeitig einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen begegnen (ErfK/Rolfs, 17. Aufl. § 84 SGB IX Rn. 4) und "den Arbeitsplatz" - das heißt das Arbeitsverhältnis (vgl. BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 - NZA 2015, 612 ff.) - möglichst dauerhaft erhalten. Dabei ist ein bEM nicht nur bei lang andauernden Krankheiten geboten. Es ist auch bei häufigen Kurzerkrankungen des Arbeitnehmers nicht ausgeschlossen oder von vornherein überflüssig BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 - NZA 2015, 612, 616). Es sollen "vorschnelle" Kündigungen vermieden werden. Deshalb verpflichtet § 84 Abs. 2 SGB IX den Arbeitgeber bei allen Arbeitnehmern zur Initiative für ein bEM vor Ausspruch einer Kündigung, wenn ein Arbeitnehmer länger als 6 Wochen arbeitsunfähig innerhalb eines Jahres erkrankt war.

c) Die Beklagte konnte im Streitfall auch nicht ihrer Darlegungslast hinsichtlich einer objektiven Nutzlosigkeit eines bEM genügen, auch dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

Dem Vorbringen der Beklagten ist nicht zu entnehmen, dass einem künftigen Auftreten erheblicher, über sechs Wochen hinausgehender Fehlzeiten des Klägers nicht hätte entgegengewirkt werden können.

(1) Soweit die Beklagte die Nutzlosigkeit auf die Aussage des Klägers im Gespräch am 26.01.2015 stützt, dass die Beklagte zur Vermeidung künftiger Arbeitsunfähigkeit nichts beitragen könne, seine Erkrankungen seien schicksalhaft gewesen, vermag die Berufungskammer dem nicht zu folgen. Der Kläger hat lediglich zu einem Zeitpunkt, bei dem die letzte Arbeitsunfähigkeit bereits fast 3 Monate zurücklag, seinen damaligen Kenntnisstand und seine rückblickende Einschätzung aufgrund der vor dem 26.01.2015 zur Arbeitsunfähigkeit liegenden Erkrankungen mitgeteilt. Eine bindende Aussage für zukünftige Arbeitsunfähigkeiten vermag die Berufungskammer dem nicht entnehmen, der Kläger ist kein Hellseher. Die Beklagte konnte ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür darlegen, dass der Kläger bei der damaligen Aussage schon eine erst über 3 Monate später auftretende Arbeitsunfähigkeit wegen eines Handleidens der rechten Hand gemeint habe.

(2) Darüber hinaus macht die Beklagte zwar geltend, dass für den Kläger in ihrem Werk insgesamt keine anderen Arbeitsplätze mit noch weniger belastenden Tätigkeiten als der von ihm bereits besetzte zur Verfügung stehen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger entsprechend dem Schreiben der AOK vom 29.06.1998 aufgrund seiner Einschränkungen auf mittelschwere Tätigkeiten und Einschränkungen ab Gewichten über 15 kg andere Einsatzmöglichkeiten des Klägers als auf seinem bisherigen Arbeitsplatz insgesamt nicht gegeben seien.

Mit diesem Vortrag genügt die Beklagte jedoch nicht ihrer Darlegungslast im Hinblick auf die objektive Nutzlosigkeit eines bEM. Es fehlen bereits Darlegungen dazu, weshalb eine leidensgerechte Anpassung oder Veränderung des bisher vom Kläger innegehabten Arbeitsplatzes etwa durch Vorrichtungen an der zu bedienendenden Maschine, nicht möglich gewesen wäre. Unabhängig hiervon verkennt die Beklagte aber auch, dass die Kündigung selbst dann unverhältnismäßig wäre, wenn feststünde, dass die tatsächlichen betrieblichen Bedingungen, zu denen der Kläger arbeitet, nicht hätten geändert werden können. Es ist insbesondere nicht auszuschließen, dass bei Durchführung eines bEM Rehabilitationsbedarf in der Person des Klägers hätte erkannt und durch entsprechende Maßnahmen künftige Fehlzeiten spürbar hätten reduziert werden können (vgl. BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 -, NZA 2015, 612, 616f.).

Nach der Konzeption des Gesetzes lässt das bEM den Beteiligten bei der Prüfung, mit welchen Maßnahmen, Leistungen oder Hilfen eine künftige Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers möglichst vermieden werden und das Arbeitsverhältnis erhalten bleiben kann, jeden denkbaren Spielraum. Es soll erreicht werden, dass keine vernünftigerweise in Betracht kommende, zielführende Möglichkeit ausgeschlossen wird. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1783 S. 16) soll durch eine derartige Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft gesichert werden. Zugleich sollen auf diese Weise medizinische Rehabilitationsbedarfe frühzeitig, ggf. präventiv erkannt und auf die beruflichen Anforderungen abgestimmt werden. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, hat der Arbeitgeber deshalb gem. § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB IX auch bei nicht behinderten Arbeitnehmern die örtlichen gemeinsamen Servicestellen hinzuzuziehen. Diese wirken darauf hin, dass die erforderlichen Hilfen und Leistungen unverzüglich beantragt und innerhalb der Frist des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX erbracht werden. Als Hilfen zur Beseitigung und möglichst längerfristigen Überwindung der Arbeitsunfähigkeit kommen dabei - neben Maßnahmen zur kurativen Behandlung - insbesondere Leistungen zur medizinischen Rehabilitation iSv. § 26 SGB IX in Betracht (so ausdrücklich BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 -, NZA 2015, 612, 616; LAG Rheinland-Pfalz 10.12.2015 - 5 Sa 168/15, Rn. 40).

Denkbares Ergebnis eines bEM kann es damit sein, den Arbeitnehmer auf eine Maßnahme der Rehabilitation zu verweisen. Dem steht nicht entgegen, dass deren Durchführung von seiner Mitwirkung abhängt und nicht in der alleinigen Macht des Arbeitgebers steht. Ggf. muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine angemessene Frist zur Inanspruchnahme der Leistung setzen. Eine Kündigung kann er dann wirksam erst erklären, wenn die Frist trotz Kündigungsandrohung ergebnislos verstrichen ist. Durch die Berücksichtigung entsprechender, aus dem bEM entwickelter Empfehlungen wird der "ultima-ratio-Grundsatz" nicht über die gesetzlichen Grenzen hinaus ausgedehnt. Die aus ihm resultierende Verpflichtung des Arbeitgebers, ggf. mildere Mittel zu ergreifen, ist nicht auf arbeitsplatzbezogene Maßnahmen iSv. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG beschränkt. Diese Vorschrift dient der Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lediglich mit Blick auf ihren eigenen Regelungsbereich. Sie schließt die Berücksichtigung sonstiger Umstände, die eine Kündigung entbehrlich machen könnten, nicht aus. Eine Kündigung muss, damit sie durch Gründe iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG "bedingt" ist, unter allen Gesichtspunkten verhältnismäßig, das heißt unvermeidbar sein. Daraus kann sich die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, auf bestehende Therapiemöglichkeiten Bedacht zu nehmen. Wenn er ein bEM unterlassen hat, kann er gegen eine solche Verpflichtung nicht einwenden, ihm seien im Kündigungszeitpunkt - etwa schon mangels Kenntnis der Krankheitsursachen - entsprechende Möglichkeiten weder bekannt gewesen, noch hätten sie ihm bekannt sein können (so ausdrücklich BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 -, NZA 2015, 612, 616 f, LAG Rheinland-Pfalz 10.12.2015 - 5 Sa 168/15 Rn. 41).

Der Arbeitgeber muss dartun, dass jedenfalls durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger künftige Fehlzeiten nicht in relevantem Umfang hätten vermieden werden können. Solche Maßnahmen muss der Arbeitgeber grundsätzlich in Erwägung ziehen. Hat er ein bEM unterlassen, muss er von sich aus ihre objektive Nutzlosigkeit aufzeigen und ggf. beweisen. Dabei kommt eine Abstufung seiner Darlegungslast in Betracht, falls ihm die Krankheitsursachen unbekannt sind (vgl. BAG 20.11.2014 - 2 AZR 755/13 - NZA 2015, 612, 617).

Der Beklagten war vorliegend unstreitig bekannt, dass der Kläger ab dem 18.05.2015 arbeitsunfähig wegen eines Leidens der rechten Hand erkrankt war. Es fehlt daher an der Darlegung, weshalb auch bei regelkonformer Durchführung eines bEM keine geeigneten Leistungen oder Hilfen für den Kläger hätten erkannt werden können, zu deren Erbringung die Rehabilitationsträger verpflichtet gewesen wären. Die Beklagte hätte aufzeigen müssen, weshalb im Hinblick auf das Handleiden Maßnahmen zur kurativen Behandlung und/oder der medizinischen Rehabilitation iSv. § 26 SGB IX - zu denen im Übrigen nach Abs. 2 Nr. 1 der Vorschrift auch die "Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln" zählt - nicht in Betracht gekommen wären. Zumindest hätte sie insoweit vortragen müssen, weshalb solche Maßnahmen oder REHA-Leistungen auch nicht zu einer erheblichen Verringerung der Fehlzeiten hätten beitragen können.


III.

Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen.

Die Voraussetzungen einer Revisionszulassung nach § 72 Abs. 2 ArbGG sind nicht erfüllt.

Referenznummer:

R/R7270


Informationsstand: 27.03.2017