Urteil
Wartezeitkündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Menschen - Präventionsverfahren

Gericht:

ArbG Freiburg (Breisgau) 2. Kammer


Aktenzeichen:

2 Ca 51/24


Urteil vom:

04.06.2024


Grundlage:

Leitsatz:

Bei Auftreten von Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen sind Arbeitgeber auch in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen (entgegen BAG, Urteil vom 21.04.2016 - 8 AZR 402/14). Ein Verstoß hiergegen kann eine verbotene Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung indizieren und zur Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung führen (wie ArbG Köln, Urteil vom 20.12.2023 - 18 Ca 3954/23).

Orientierungssatz:

Berufung eingelegt beim Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen 10 Sa 31/24.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Baden-Württemberg

Tenor:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 06.02.2024 nicht beendet wird.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als S. weiterzubeschäftigen.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtstreits zu tragen.

5. Der Streitwert wird auf 7.175,08 EUR festgesetzt.

6. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer Kündigung.

Der 53-jährige Kläger ist Kaufmann im Groß- und Einzelhandel und hat den Fortbildungslehrgang zum C. erfolgreich abgeschlossen. Zudem verfügt er über ein Wirtschaftsdiplom nach ordnungsgemäßem Studium von mindestens sechs Semestern und hat eine Vielzahl von Fort- und Weiterbildungen absolviert (im Einzelnen Seite 5 der Klagschrift sowie Anlage K5, ABl. 17).

Die beklagte Stadt beschäftigt weit mehr als zehn vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer. Seit 16.10.2023 ist der Kläger dort auf der Grundlage eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses als S. beschäftigt. Er verdient bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 19,5 Stunden monatlich 1.793,77 EUR brutto. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD Anwendung. § 34 Abs. 1 S. 1 TVöD regelt, dass die Kündigungsfrist in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses zwei Wochen zum Monatsschluss beträgt.

Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Er hatte die Beklagte darüber bereits im Rahmen seiner Bewerbung informiert. Im Vorstellungsgespräch verneinte der Kläger die Frage der Beklagten, ob sie ihn unterstützen könne. Der Bewertung des GdB liegen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: Seelische Störung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bluthochdruck sowie Schlafapnoe-Syndrom (Bescheid des Landratsamts B., Anlage K 13, ABl. 141). Die chronische Depression des Klägers manifestiert sich in einer konfliktgeladenen (Arbeit-) Umgebung durch eine stille und ruhige, fast abwesende Art des Klägers.

Die Beklagte führte mit dem Kläger am 10.11.2023, 08.01.2024, 10.01.2024 und 16.01.2024 Mitarbeitergespräche. Wegen des Inhalts dieser Gespräche wird auf die entsprechenden Vermerke (Anlagenkonvolut 1, ABl. 75 ff.) Bezug genommen.

Nach Anhörung des Personalrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 9 LPVG BW und der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX (Anlagen K2, K3, ABl. 95 ff) erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 06.02.2024, dem Kläger zugegangen am 13.02.2024, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 29.02.2024 (Anlage K3, ABl. 14). Mit Blick auf die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX hatte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht die Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 168 SGB IX eingeholt. Sie informierte das Integrationsamt am 14.02.2024 über die Kündigung, § 173 Abs. 4 SGB IX (Anlage K4, ABl. 103).

Mit der vorliegenden Klage wendet sich der Kläger gegen die Kündigung vom 06.02.2024.

Der Kläger behauptet, er sei nicht ordnungsgemäß eingearbeitet und eingeführt worden. Die Kolleginnen seiner Abteilung seien angesichts einer chronischen personellen Unterbesetzung, hohen arbeitszeitlichen Belastungen und einer hohen Mitarbeiterfluktuation verunsichert, überfordert und unzufrieden gewesen. Daher habe sich der Kläger vermehrt als orientierungslos (was darf und kann er überhaupt tun?) und als Last für das gestresste Team empfunden. Wenn der Kläger darauf mit der Reduzierung der allgemeinen Kommunikation reagiert hat, entspreche dies dem Krankheitsbild des Klägers, sei aber von den Mitarbeiterinnen der Beklagten als Rückzug, Kränkung und Beleidigtsein aufgefasst worden.

Der Kläger habe die Teamleiterin Frau S. sowie die Sachgebietsleiterin Frau V. über die Erkrankungen, die ihn persönlich und beruflich einschränken, informiert. Es entspreche nicht seiner Art und seinem Wesen, ungehalten und unkontrolliert zu sein.

Aufgrund seiner hohen und breit angelegten Qualifikation gebe es für den Kläger bei der beklagten Stadt viele Beschäftigungsmöglichkeiten.

Der Kläger meint, die Kündigung vom 06.02.2024 verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des § 164 Abs. 2 SGB IX und sei deshalb unwirksam. Entgegen Art. 5 der EU-Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (im Folgenden: Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) habe die Beklagte keine angemessenen Vorkehrungen getroffen, um den Arbeitsplatz des Klägers zu erhalten. Insbesondere habe die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht versucht, den Kläger auf einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen, den Arbeitsplatz anzupassen oder den Kläger an seinem Arbeitsplatz angemessen zu begleiten und zu unterstützen. Aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung des § 167 Abs. 1 SGB IX sei die Beklagte – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet gewesen, ein Präventionsverfahren durchzuführen. Als die Beklagte den Eindruck erlangte, dass der Kläger sich nicht bewährte bzw. sich nicht in das Team einfügte und ihren Erwartungen nicht entsprach, hätte sie Präventionsmaßnahmen ergreifen und die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt präventiv einschalten müssen.

Aufgrund des europäischen Schwerbehindertenschutzes müsse bei Ausspruch einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Mitarbeiter auch in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses vorab die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt werden; nur so könne ein effektiver Schwerbehindertenschutz erreicht werden.

Die Personalratsanhörung sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, weil die Beklagte den Personalrat nicht darüber informiert hatte, warum die Weiterbeschäftigung des Klägers auf einem anderen Arbeitsplatz oder auf dem bisherigen Arbeitsplatz nach entsprechenden Anpassungen des Arbeitsplatzes oder nach Durchführung von Fort- bzw. Weiterbildungsmaßnahmen nicht möglich sein soll.

Im Fall der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen während einer vereinbarten Probezeit gelte aus europarechtlichen Gründen nicht die verkürzte Probezeitkündigungsfrist.


Der Kläger beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 06.02.2024 nicht beendet wird.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht.

3. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder zu 2. wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als S. weiterzubeschäftigen.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, der Kläger habe ihr gegenüber die Art seiner Behinderung nicht offengelegt.

Seit Beginn der Tätigkeit des Klägers habe es im Team erhebliche Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit gegeben. Der Kläger habe sich nicht bereit gezeigt, Vorgaben und Hinweise zu Arbeitsweisen in die Tat umzusetzen und sich in Arbeitsabläufe einzufügen. Im zwischenmenschlichen Bereich sei es immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen. So habe der Kläger bei Erklärungsversuchen uneinsichtig reagiert und mehrfach die Augen verdreht. Er habe ständig Verbesserungsvorschläge gemacht, ohne richtig eingearbeitet zu sein; er habe ohne Rückfrage Angelegenheiten bearbeitet, in die er noch nicht eingearbeitet war und er habe – ohne Rücksprache zu halten – Dinge in Arbeitsabläufen geändert. Der Kläger habe sich auf der persönlichen Ebene wenig kritikfähig gezeigt und seine Führungskraft in Frage gestellt. Er sei nachtragend gewesen und habe sich unangemessen gegenüber Kolleginnen verhalten. Die Mitarbeitergespräche hätten nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt.

Die Beklagte meint, die Kündigung genüge sowohl den formalen als auch den materiell-rechtlichen Anforderungen.

Insbesondere sei die Beklagte nicht gehalten gewesen, sich vor Ausspruch der Kündigung nach einer anderen Beschäftigung für den Kläger umzusehen oder die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen. Dies gelte vorliegend insbesondere deshalb, weil nicht die Behinderung des Klägers der Grund dafür sei, dass die geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausgeführt werden kann; vielmehr sei die Zusammenarbeit aufgrund der Defizite in den persönlichen und sozialen Kompetenzen des Klägers beendet worden.

Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, vor Ausspruch der Kündigung ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Die Regelung des § 167 Abs. 1 SGB IX sei erst nach Ablauf der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG anwendbar. Mit Rücksicht auf ihren Grundrechtsschutz nach Art. 12 GG sei die Bindung der Beklagten in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses nämlich nur gering ausgeprägt. Auch sprächen Praktikabilitätsgründe gegen eine Anwendung des § 167 Abs. 1 SGB IX während der Wartezeit: Wenn man angesichts des Zeitdrucks bei Ausspruch einer Kündigung in der Wartezeit vom Arbeitgeber lediglich die Einleitung des Präventionsverfahrens verlange, werde das Präventionsverfahren nämlich auf einen bloßen Formalismus reduziert. Die Anwendung des § 167 SGB IX in der Wartezeit führe in der Praxis dazu, dass weniger Menschen mit Behinderung die Chance eingeräumt würde, sich im Rahmen einer Probezeit zu beweisen.

Selbst bei grundsätzlicher Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 SGB IX innerhalb der Wartezeit berühre dies die Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung nicht, da die Behinderung des Klägers für die entstandenen Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis nicht ursächlich sei und die Beklagte von der Art der Behinderung und einer etwaigen Ursächlichkeit keine Kenntnis gehabt habe. Jedenfalls dann, wenn die entstandenen Schwierigkeiten und die Behinderung nicht im Zusammenhang stehen, sei eine Arbeitgeberin in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses nicht verpflichtet, ein Präventionsverfahren zum Erhalt des Arbeitsplatzes durchzuführen. Auch unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben sei es nicht geboten und einer Arbeitgeberin auch nicht zumutbar, stets und unabhängig davon, ob die Behinderung überhaupt eine Rolle spielt, ein Präventionsverfahren durchzuführen. Vielmehr sei es den behinderten Arbeitnehmern im Zuge ihres selbstverantwortlichen Handelns zuzumuten, ihrerseits darauf hinzuweisen, wenn zwischen ihrer Behinderung und den entstandenen Schwierigkeiten ein Zusammenhang besteht.

Die Klage wurde am 26.02.2024 beim Arbeitsgericht eingereicht und der Beklagten am 06.03.2024 zugestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die Schriftsätze der Parteien samt Anlagen und die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 19.03.2024 und vom 04.06.2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Klage ist weitgehend zulässig und begründet.

Klagantrag Nr. 1 hat Erfolg, da die Kündigung vom 06.02.2024 unwirksam ist (dazu 1.).

Da andere Beendigungstatbestände als die Kündigung vom 06.02.2024 nicht im Raum stehen, steht mit der Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung zugleich fest, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien fortbesteht. Folglich ist Klagantrag Nr. 2 gemäß § 256 Abs. 1 ZPO unzulässig, da der Kläger kein rechtliches Interesse an einer entsprechenden ausdrücklichen, gesonderten Feststellung hat.

Mit dem Erfolg des Kündigungsschutzantrags fällt der als unechte Hilfsantrag gestellte Weiterbeschäftigungsantrag (Klagantrag Nr. 3) zur Entscheidung an. Dieser Antrag ist zulässig und begründet (dazu 2.).

1. Klagantrag Nr. 1 ist als Kündigungsschutzantrag gemäß § 4 S. 1 KSchG statthaft. Der Kündigungsschutzantrag ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat die Klage rechtzeitig erhoben, § 4 S. 1 KSchG, §§ 253 Abs. 1, 167 ZPO.

Die Kündigung vom 06.02.2024 ist unwirksam.

a) Zwar war die Beklagte nicht gehalten, vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 168 SGB IX einzuholen. § 173 Abs.1 Nr. 1 SGB IX regelt vielmehr ausdrücklich, dass § 168 SGB für schwerbehinderte Menschen, deren Arbeitsverhältnis – wie das Arbeitsverhältnis der Parteien – zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ohne Unterbrechung noch nicht länger als sechs Monate besteht, nicht gilt. Auch Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie verlangt eine derartige Voraussetzung nicht. Der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung darf nämlich nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen (EuGH 16.06.2005 - C-105/03 (Pupino), Rn. 47; BVerfG 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, Rn. 41).

b) Da die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG bei Zugang der Kündigung nicht abgelaufen war, bedarf die Kündigung auch nicht der sozialen Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG. Abgesehen davon, dass eine Kündigung in der Wartezeit auf bestimmte Gründe nicht gestützt werden darf (z.B. §§ 138, 242 BGB), braucht die Beklagte die Kündigung nicht zu begründen. Vielmehr kann ein Arbeitgeber in der Wartezeit aus Motiven kündigen, die weder auf personen- noch auf verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen beruhen; es bedarf nicht einmal irgendwie gearteter Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis (BAG 21.04.2016 – 8 AZR 402/14, Rn 29). Sinn und Zweck der sechsmonatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG ist es vielmehr, den Parteien des Arbeitsverhältnisses für eine gewisse Zeit die Prüfung zu ermöglichen, ob sie sich auf Dauer binden wolle (BAG 20.02.2014 – 2 AZR 859/11, Rn. 18).

§ 1 Abs. 1 KSchG schafft einen Ausgleich zwischen dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers und dem Interesse des Arbeitgebers, ein Arbeitsverhältnis zu beenden. So ist die Bindung des Arbeitgebers während der Wartezeit mit Rücksicht auf seinen Grundrechtsschutz (Art. 12 Abs. 1 GG) gering ausgeprägt. Bestünde bei Arbeitsverhältnissen mit schwerbehinderten Menschen schon in den ersten sechs Monaten das Erfordernis einer Sachverhaltsaufklärung oder einer materiell-rechtlichen Prüfung, ob ein sachlicher Grund für den Ausspruch der Kündigung vorliegt, würde dies den Ausgleich der beiderseitigen Interessen ohne entsprechende gesetzliche Grundlage verschieben.

Dass eine materiell-rechtliche Prüfung eines Kündigungsgrundes in der Wartezeit nicht sachgerecht ist, zeigt gerade auch das vorliegende Verfahren: Beide Parteien führen die Probleme, die es in ihrer Zusammenarbeit unstreitig gab, auf unterschiedliche Ursachen zurück. Möglicherweise gibt es zumindest teilweise kein „richtig“ oder „falsch“, sondern unterschiedliche Perspektiven auf denselben Sachverhalt. Dies aufzuklären, wäre nicht zielführend.

c) Die Kündigung vom 06.02.2024 ist jedoch gemäß § 134 BGB i.V.m. § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX unwirksam. Die Beklagte hat den Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt, indem sie entgegen § 167 Abs. 1 SGB IX die Kündigung ausgesprochen hat, ohne zuvor ein Präventionsverfahren anzustoßen (vgl. ArbG Köln 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23 mit zustimmender Anmerkung Brodtrück. ArbRAktuell 2024, 71 sowie Wagner, BRuR 2024, 140; Düwell, jurisPR-ArbR 41/2023 Anm. 1).

aa) Die Beklagte ist ihrer Verpflichtung aus § 167 SGB IX nicht nachgekommen.

- Gemäß § 167 SGB IX müssen Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen, die zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt einschalten, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.

Diese Verpflichtung setzt – ebenso wie die Verpflichtung nach § 164 Abs. 4 Nr. 1 SGB IX – nach dem Gesetzeswortlaut nicht voraus, dass die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG bereits abgelaufen ist. Es besteht auch kein Anlass, das Gesetz in dieser Hinsicht einschränkend auszulegen (ebenso Rolfs in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 24. Aufl. 2024, § 167 SGB IX Rn. 1; Düwell in: Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 6. Aufl. 2022, Rn. 12; Greiner in: Neumann/Pahlen/Greiner/ Winkler/Westphal/Krohne, SGB IX, 15. Aufl. 2024, § 167 SGB IX Rn. 5a; Kohte in: Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 8. Aufl. 2023, § 167 SGB IX Rn. 9; Kerwer in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2022, § 1 KSchG Rn. 441; Wietfeld, SAE 2017, 22, 30).

- Soweit das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 21.04.2016 – 8 AZR 402/14, Rn. 27 ff; ebenso Linck in: Schaub Arbeitsrechts-Handbuch, § 131 Rn. 5; Gutzeit in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 73. Edition, Stand: 01.06.2024, § 167 SGB IX Rn. 9; Zimmermann in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2021, § 198 Rn. 78; Fuhlrott, DB 2012, 2343) hingegen die Auffassung vertritt, dass der Arbeitgeber während der Wartezeit nicht verpflichtet sei, ein Präventionsverfahren durchzuführen, ist dem nicht zu folgen.

Das Bundesarbeitsgericht begründet seine Auffassung damit, dass § 167 Abs. 1 SGB IX mit dem Begriff der „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“ an die Terminologie des § 1 Abs. 2 KSchG anknüpfe. Somit diene das Präventionsverfahren dazu, dem Entstehen von Kündigungsgründen vorzubeugen. In der Wartezeit setze die arbeitgeberseitige Kündigung jedoch – auch bei Arbeitsverhältnissen mit schwerbehinderten Menschen – gerade keinen Kündigungsgrund voraus. Wenn das KSchG nicht anwendbar sei, finde auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Anwendung. Da auch der schwerbehindertenrechtliche Sonderkündigungsschutz (§ 168 SGB IX) erst nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses einsetzt, sei es widersprüchlich, eine Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern innerhalb der Wartezeit – von dem verfassungsrechtlichen Mindestmaß an Bestandsschutz abgesehen – an die Beachtung des Präventionsgrundsatzes zu binden. Zudem sei die Durchführung des Präventionsverfahrens vor Ausspruch einer Kündigung in der Wartezeit nicht praktikabel, da das Verfahren zeitaufwändig sei. Insbesondere dann, wenn die Schwierigkeiten erst gegen Ende der Wartezeit auftreten, verbleibe nicht genügend Zeit, das Präventionsverfahren vor Ablauf der Wartezeit durchzuführen.

Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass allein das Aufgreifen der in § 1 Abs. 2 S.1 KSchG aufgeführten Kategorien von Kündigungsgründen kein – gesetzesübergreifend – systematisches Argument für die Übernahme der in § 1 Abs. 1 KSchG enthaltenen Wartefrist liefert. Aus dem Gleichklang der Kategorien von Kündigungsgründen nach dem KSchG mit den in § 167 Abs. 1 SGB IX aufgeführten Gründen für mögliche Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis kann nicht geschlossen werden, dass personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten in diesem Sinne per definitionem erst nach Ablauf der Wartezeit eintreten können. Es fehlt jeder Hinweis dazu, dass es sich um mehr als eine Kategorisierung möglicher Problem- oder Konfliktfelder durch den Gesetzgeber handelt (ArbG Köln 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23, Rn 26 juris).

Anders als das Bundesarbeitsgericht meint, spricht die Gesetzessystematik für die Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 SGB IX ab Beginn des Arbeitsverhältnisses: Dass § 173 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB IX die Anwendbarkeit der §§ 168 ff SGB IX (= Teil 3 Kapitel 4 SGB IX) in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich ausschließt, ist im Umkehrschluss ein Argument dafür, dass die §§ 163 ff SGB (= Teil 3 Kapitel 3 SGB IX) vollumfänglich und ohne Wartezeit Anwendung finden. Dass nach dem Willen des Gesetzgebers der durch § 168 SGB IX SGB IX bewirkte Schutz vor Kündigungen erst nach sechsmonatigem Bestand des Arbeitsverhältnisses eintreten soll, besagt nicht, dass der Gesetzgeber die besonderen Pflichten zum Schutz und der Teilhabe Schwerbehinderter nach §§ 164, 167 SGB IX ebenfalls für die ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses aussetzen wollte.

Zudem ergeben sich aus der Gesetzesbegründung keine Anhaltspunkte dafür, dass § 167 Abs. 1 SGB IX nur zugunsten von Arbeitnehmern, die Kündigungsschutz nach § 1 Abs. 2 KSchG und auch § 23 Abs. 1 KSchG genießen, anwendbar sein soll. § 167 Abs. 1 SGB IX dient nämlich nicht nur der Vermeidung von Kündigungen, sondern in einem weiteren Sinne dem Ziel, Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. sie – insbesondere auch durch Hilfen seitens des Integrationsamts – möglichst frühzeitig zu beheben (BT-Drs. 14/3372; S. 19).

- Hinzu kommt, dass Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, wonach Arbeitgeber – vorbehaltlich einer unverhältnismäßigen Belastung – die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um den Menschen mit Behinderung die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, ebenfalls bereits in der Probezeit gilt (EuGH 10.02.2022 – C-485/20). Dabei können Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung in diesem Sinne entsprechend einzurichten, in einer Anpassung des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen liegen (Erwägungsgrund 20 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie).

Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie – der seinerseits Art. 21 GRCh konkretisiert und im Licht von Art. 2 IV des VN-Übereinkommens weit ausgelegt wird (EuGH 10.02.2022 – C-485/20, Rn. 27, 40) – wird insbesondere durch § 164 SGB IX ins deutsche Recht umgesetzt. Nach dieser Vorschrift haben schwerbehinderte Menschen einen Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können – ggf. unter Anpassung des Arbeitsplatzes, des Arbeitsumfelds, der Arbeitsorganisation oder der Arbeitszeit. Dieser Anspruch aus § 164 Abs. 4 SGB IX besteht – gerade auch aufgrund richtlinienkonformer Auslegung – bereits in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses (Brose, EuZA 2023, 94, 101; Rolfs in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 24. Aufl. 2024, § 164 SGB IX Rn. 9). Allerdings ändert dieser Anspruch nichts daran, dass das Arbeitsverhältnis in den ersten sechs Monaten selbst dann arbeitgeberseitig gekündigt werden kann, wenn eine Möglichkeit zur behinderungsgerechten Beschäftigung besteht.

Das Präventionsverfahren des § 167 SGB IX ist nun ein Verfahren, in dem insbesondere die entsprechenden Bedarfe des schwerbehinderten Arbeitnehmers und die Möglichkeiten des Arbeitgebers festgestellt werden können. Das den Arbeitgeber diesbezüglich treffende Pflichtenprogramm dient der Umsetzung und Stärkung der in § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 und Nr. 4 SGB IX geregelten Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer auf leidensgerechte Beschäftigung und Ausgestaltung des Arbeitsplatzes. Gerade weil der Arbeitgeber außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 1 ff KSchG, § 168 SGB IX das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Mitarbeiter ohne Zustimmung des Integrationsamts und ohne Vorliegen eines Sachgrundes kündigen kann – ja sogar dann, wenn die weitere Beschäftigung möglich und zumutbar ist –, ist die Einhaltung der Verfahrensvorschrift erforderlich, um das Gebot des Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses effektiv umzusetzen. Die Festlegung von Verhaltenspflichten zur Identifizierung der im Einzelfall notwendigen Fördermaßnahmen entspricht auch deshalb dem Gebot der möglichst wirksamen Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben (effet utile), weil eine abstrakt-generelle gesetzliche Vorgabe zu den Maßnahmen, die der Arbeitgeber im Einzelfall zu treffen hat, kaum denkbar ist. Somit steht das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts einer einschränkenden Auslegung des § 167 SGB IX entgegen. Just der Schutz durch ein Verfahren – anstelle eines materiell-rechtlichen Schutzes und der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – ermöglicht es, das Beschäftigungsinteresse des schwerbehinderten Arbeitnehmers mit dem Interesse des Arbeitgebers, sich in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses vorzubehalten, das Arbeitsverhältnis ohne Vorliegen eines Kündigungsgrundes zu beenden, auszugleichen.

– Die Kammer übersieht nicht, dass der Sachverhalt, der der Entscheidung des EuGH zugrunde liegt, sich vom vorliegenden Sachverhalt unterscheidet: Die Behinderung des dortigen Arbeitnehmers trat erst im Verlauf des Arbeitsverhältnisses auf – es war offensichtlich, dass der Arbeitnehmer aufgrund der Behinderung die ursprünglich vorgesehene Arbeitsleistung nicht mehr erbringen konnte – ebenso lag auf der Hand, dass er auf einem anderen Arbeitsplatz eingesetzt werden konnte – die Entlassung wurde erst ausgesprochen, nachdem das Arbeitsverhältnis bereits mehr als anderthalb Jahre bestanden hatte.

Dass im vorliegenden Fall die Behinderung des Klägers bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses bestanden hatte, dass nicht feststeht, ob die Schwierigkeiten, die im Arbeitsverhältnis aufgetreten sind, im Zusammenhang mit der Behinderung stehen und dass fraglich ist, ob diese Schwierigkeiten durch eine Versetzung oder eine andere Anpassung des Arbeitsplatzes behoben werden können, mag dazu führen, dass die Beklagte sich auch bei Durchführung eines Präventionsverfahrens letztlich zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger entschieden hätte. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Präventionsverfahren zunächst durchzuführen ist, um gerade diese Punkte zu klären. Dass ein Präventionsverfahren möglicherweise letztlich keinen Erfolg hat, ist kein Argument dafür, das Präventionsverfahren gar nicht anzustoßen. Vielmehr dient das Präventionsverfahren auch dazu, die fraglichen Punkte zu klären. Zudem ist es gut denkbar, dass die möglichst frühzeitige Erörterung der Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis der Parteien unter Einschaltung der Schwerbehindertenvertretung, des Personalrats und des Integrationsamts zuvor nicht gesehene Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt hätte (vgl. Kohte, jurisPR-ArbR 2/2018 Anm. 1 mwN, wonach das Präventionsverfahren auch ermitteln soll, ob und wie der Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 SGB IX gestärkt werden kann; vgl. auch das Urteil des ArbG Köln vom 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23, das das Präventionsverfahren in der Wartezeit für erforderlich hielt bei einem Mitarbeiter mit Einschränkungen in der Konstanz der Arbeit, der Konzentrationsfähigkeit, der Lernfähigkeit und der Kritikfähigkeit). Erst wenn die zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile denkbaren Maßnahmen identifiziert und erprobt worden sind, kann sich der Arbeitgeber diskriminierungsfrei ein Bild davon machen, ob die dauerhafte Beschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers möglich und gewünscht ist (ArbG Köln 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23, Rn. 28 juris).

– Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass sie nicht gewusst habe, welche gesundheitlichen Einschränkungen beim Kläger vorliegen und ob ein Zusammenhang zwischen der Art der Behinderung und den Schwierigkeiten am Arbeitsplatz besteht. Abgesehen davon, dass diese Fragen spätestens im Präventionsverfahren hätten ausdrücklich erörtert werden können, erfasst § 167 Abs. 1 SGB IX nach Wortlaut und Regelungszweck nicht nur behinderungsbedingte Schwierigkeiten, sondern Probleme gleich welcher Art. Auch bei Auftreten nicht behinderungsbedingter Schwierigkeiten soll versucht werden, durch präventive Maßnahmen den Arbeitsplatz eines schwerbehinderten Menschen zu erhalten (BGH 20.12.2006 – RiZ(R) 2/06).

Insbesondere war die Beklagte zur Durchführung des Präventionsverfahrens unabhängig davon verpflichtet, ob der Kläger diese von ihr gefordert hatte. Die Norm sieht ein entsprechendes Verlangen des betroffenen Arbeitnehmers tatbestandlich nicht vor. Ausreichend ist vielmehr das Auftreten personen- oder verhaltensbedingter Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis zu einem schwerbehinderten Menschen.

– Die „praktische“ Überlegung, dass ein Präventionsverfahren in den ersten sechs Monaten zu aufwendig sei, kann eine teleologische Reduktion des § 167 Abs. 1 SGB IX nicht rechtfertigen. Da das Verfahren dem Zweck der Norm entspricht, Wege zu einer behinderungsgerechten Beschäftigung zu klären, kann eine im Wortlaut nicht vorgeschriebene Restriktion so nicht begründet werden. Im Übrigen ist in den ersten sechs Monaten ein solches Verfahren weniger aufwendig, denn es geht nicht um Bestandsschutz, sondern um die Klärung möglicher Unterstützungsmaßnahmen mit Hilfe des Integrationsamts (vgl. Kohte, jurisPR-ArbR 2/2018 Anm. 1). Selbst wenn das Präventionsverfahren innerhalb der Wartezeit nicht abgeschlossen werden kann, wird der Gesetzeszweck des § 167 Abs. 1 SGB IX gerade dann erreicht, wenn die im begonnenen Präventionsverfahren gewonnenen Erkenntnisse vom Arbeitgeber bei der Erwägung einer Kündigung berücksichtigt werden können. In solchen Fällen besteht zudem ggf. die Möglichkeit einer Verlängerung der Einarbeitungs- und Erprobungsphase ohne dauerhaftes Bindungsrisiko für den Arbeitgeber im Wege der Erprobungsbefristung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG (ArbG Köln 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23, Rn. 33 juris).

Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/3372; S. 19) kann der Arbeitgeber die Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis und die Möglichkeit zu ihrer Beseitigung zudem zunächst mit den innerbetrieblichen Funktionsträgern erörtern. Die Einschaltung der außerbetrieblichen Stellen hat zu erfolgen, wenn die innerbetrieblichen Bemühungen dies erforderlich machen. Sollten die Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis erst kurz vor Ablauf der Wartezeit auftreten und das Präventionsverfahren daher erst zu einem späten Zeitpunkt angestoßen werden können oder sollte das – frühzeitig eingeleitete – Präventionsverfahren vor Ablauf der Wartezeit nicht abgeschlossen werden können, können gleichwohl auch in den ersten Schritten des Verfahrens möglicherweise bereits Fragen geklärt und Lösungsansätze entwickelt werden.

bb) Die Beklagte hat den Kläger wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt.

– Aufgrund des Verstoßes gegen § 167 Abs. 1 SGB IX liegen Indizien vor, die eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lassen.

§ 167 Abs. 1 SGB IX ist nämlich eine Vorschrift, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthält. Der Verstoß der Beklagten gegen eine derartige Vorschrift begründet die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung im Sinne des § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Eine derartige Pflichtverletzung ist grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, die Beklagte sei an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert (vgl. BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22, Rn. 22 mwN).

– Gemäß § 22 AGG hätte es an der Beklagten gelegen, die Vermutung der Benachteiligung zu widerlegen. Dies ist hier nicht erfolgt, so dass die Benachteiligung zu vermuten ist.

§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist (BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22, Rn. 20 f)

§ 22 AGG gilt für alle Rechtsstreitigkeiten, die materiell eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zum Gegenstand haben – soweit hier von Interesse also insbesondere auch im Rahmen von Kündigungsschutzprozessen, wenn die Unwirksamkeit einer diskriminierenden Kündigung geltend gemacht wird, die sich wiederum auf eine Benachteiligung wegen einer Behinderung stützt (Treber/Plum in: KR, 13. Aufl. 2022, § 22 AGG Rn. 5 f; Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 24. Aufl. 2024, § 22 AGG Rn. 149). Gerade außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG ist das AGG bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündigung unmittelbar anwendbar (BAG 19.12.2013 – 6 AZR 190/12).

– Indes führt nicht jedes pflichtwidrige Unterlassen des Präventionsverfahrens zur Rechtswidrigkeit der Kündigung. Vielmehr kann der Arbeitgeber einwenden, dass auch im Fall der Durchführung des Präventionsverfahrens keine Möglichkeit gefunden worden wäre, die im Verhalten des schwerbehinderten Arbeitnehmers liegende besonders gravierende Schwierigkeit für die weitere Beschäftigung zu beseitigen; das Verfahren sei im konkreten Fall nutzlos (Düwell in: Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX –Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 6. Aufl. 2022, Rn. 13; vgl. dazu auch BAG zur Bedeutung eines bEM gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX für den Kündigungsschutzprozess).

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Vorliegend kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass das Präventionsverfahren ergebnislos verlaufen wäre. Die Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis der Parteien begannen bereits zu einem frühen Zeitpunkt, so dass das Präventionsverfahren bereits lange vor Ablauf der Wartezeit hätte angestoßen werden können. Im Verfahren hätte zunächst geklärt werden können, welche Einschränkungen beim Kläger bestehen und wie diese sich im Arbeitsverhältnis auswirken. Es ist nicht auszuschließen, dass die aufgetretenen Schwierigkeiten und damit auch die Kündigung zum Beispiel in einem anderen Arbeitsumfeld oder bei konkreterer Unterstützung und Anleitung des Klägers hätten vermieden werden können.

2. Der Kläger kann von der Beklagten die weitere Beschäftigung als S. verlangen.

a) Klagantrag Nr. 2 ist zulässig. Insbesondere ist er hinreichend bestimmt, um die Grundlage einer etwaigen Zwangsvollstreckung zu bilden: Der Antrag gilt für die Zeit ab Verkündung des Urteils bis zur rechtskräftigen Entscheidung über Klagantrag Nr. 1 im vorliegenden Verfahren. Der Kläger hat in den Klagantrag diejenige Tätigkeit aufgenommen, die in der Niederschrift nach dem Nachweisgesetz als Art der Tätigkeit niedergelegt wurde (ABl. 9).

b) Entsprechend den Grundsätzen, die das Bundesarbeitsgericht im Beschluss vom 27.02.1985 (GS 1/84) im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt hat, ist die Beklagte verpflichtet, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Nach diesem Beschluss bedarf es einer Wertung, ob der Arbeitgeber ein überwiegendes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers hat oder ob das Interesse des Arbeitnehmers an seiner Beschäftigung höher zu bewerten ist. Diese Wertung kann sich während des Kündigungsrechtsstreites ändern: Bis zu einem der Kündigungsschutzklage stattgebenden erstinstanzlichen Urteil begründet grundsätzlich die Ungewissheit über den Ausgang des Kündigungsprozesses ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers – es sei denn, die Kündigung ist offensichtlich unwirksam oder der Arbeitnehmer hat ein besonderes Interesse an der tatsächlichen Beschäftigung. Nach einem der Kündigungsschutzklage stattgebenden Urteil ändert sich die Interessenlage; allein die verbleibende Ungewissheit des Prozessausgangs kann nunmehr für sich allein ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung nicht mehr begründen. Vielmehr müssen jetzt zu der Ungewissheit des Prozessausgangs zusätzliche Umstände hinzutreten, aus denen sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergibt, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen.

Vorliegend wird dem Kündigungsschutzantrag durch erstinstanzliches Urteil stattgegeben. Es liegen keine besonderen Umstände vor, die ein überwiegendes Interesse der Beklagten an der Nichtbeschäftigung begründen könnten. Folglich muss die Beklagte den Kläger weiterhin als S. beschäftigen. Dies entspricht dem Arbeitsplatz, den die Beklagte dem Kläger zuletzt zugewiesen hat, steht aber einer künftigen anderen Ausübung des Direktionsrechts nicht entgegen.

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, da sie mit ihrem Antrag weitgehend unterlegen ist und die Zuvielforderung des Klägers verhältnismäßig geringfügig war und keine höheren Kosten veranlasst hat, § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

Der für die Beschwer maßgebende Streitwert wird auf das Vierteljahreseinkommen des Klägers festgesetzt, § 61 Abs. 1 ArbGG, § 42 Abs. 2 S. 1 GKG analog.

Die Statthaftigkeit der Berufung folgt aus § 64 Abs. 2 lit. c ArbGG. Zudem wird die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

Referenznummer:

R/R9763


Informationsstand: 23.10.2024