Urteil
Umfang des Anspruchs einer notwendigen Arbeitsassistenz, die auch Bereitschaftszeiten miterfasst - Abgrenzung zur Grundversorgung

Gericht:

VG München 18. Kammer


Aktenzeichen:

M 18 K 10.2468 | 18 K 10.2468


Urteil vom:

28.07.2010


Grundlage:

Tenor:

I. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Arbeitsassistenz im Umfang von 2 weiteren Stunden zusätzlich zu den mit Bescheid des Beklagten vom .... Dezember 2009 bereits bewilligten 2 Stunden arbeitstäglich zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger, der Beklagte und die Beigeladene zu 1) haben jeweils 1/3 der Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Beigeladene zu 2) trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Der 1981 geborene Kläger, der an Muskelatrophie leidet und daher auf einen Rollstuhl angewiesen ist, beschäftigt im Rahmen des Arbeitgebermodells (Assistenzmodell) 12 Hilfskräfte, um seine Pflege/Betreuung sicherzustellen.

Für die hierfür anfallenden Kosten leistet der Beigeladene zu 2) Eingliederungshilfe in Höhe von 1,5 Std./tgl. und die Bundesagentur für Arbeit als Wegeassistenz 2 Std. arbeitstäglich. Die vom Kläger ebenfalls als Leistungsträger nach dem SGB XII um Kostenübernahme gebetene Beigeladene zu 1) lehnt ihre Verpflichtung unter Hinweis auf die vorrangige Zuständigkeit anderer Leistungsträger ab. Diesbezüglich sind beim Sozialgericht München seit 2005 mehrere - bislang offensichtlich nicht entschiedene - Klageverfahren anhängig.

Zuletzt leistete die Beigeladene zu 1) aufgrund eines Beschlusses des Sozialgerichts München vom 22. November 2006 (S 42 SO 432/06 ER) im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes darlehensweise, längstens bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens Grundpflege täglich bis zu 2 Stunden und 57 Minuten und hauswirtschaftliche Versorgung täglich bis zu 60 Minuten sowie Pflegebereitschaft täglich bis zu 12 Stunden und 33 Minuten (vgl. Bescheid der Beigeladenen zu 1) v. ....1.2009, Bl. 43 d. Akten des Beigeladenen zu 2)). Darüber hinaus wurde die Beigeladene zu 1) in weiteren Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, zusätzlich hierzu für die Kosten einer Pflegebereitschaft 4 Stunden und 30 Minuten an Arbeitstagen und (nachdem dies streitig geworden ist) 12 Stunden und 30 Minuten an Nichtarbeitstagen vorläufig zu gewähren (Beschl. des Sozialgerichts München v. 6.5.2010, Az. S 13 SO 129/10 ER) sowie zusätzlich hierzu 4 Stunden an Arbeitstagen (vgl. Beschl. des Landessozialgerichts v. 5.7.2010, Az. L 8 SO 111/10B ER, wo ein Pflegebedarf bzw. ein Pflegebereitschaftsbedarf des Klägers im Umfang von 18 Std./tgl. als zwischen den Beteiligten unstreitig bezeichnet wird, S. 11 oben).

Da der Kläger als Systementwickler in Vollzeit beschäftigt ist, beantragte er am .... Juli 2008 beim Beklagten, Zentrum Bayern Familie und Soziales Region ... - Integrationsamt - die Übernahme der Kosten einer Arbeitsassistenz für 8 Std. arbeitstäglich. Er benötige aufgrund seiner Muskelschwäche bei jeglicher Büroarbeit, die körperliche Tätigkeit verlangt (z.B. die Handhabung von Akten oder Büchern, die Bearbeitung der Hauspost usw.) sowie im Hinblick auf die geforderte Mobilität die Arbeitsassistenz.

Nach Durchführung von Ortsterminen am Arbeitsplatz des Klägers am .... September 2008 und .... Februar 2009 (vgl. Aktenvermerke Bl. 42 u. 60 der Akten) gewährte der Beklagte mit Zuwendungsbescheid vom .... Dezember 2009 einen Zuschuss für die Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz am Arbeitsplatz in Höhe von 12.815,-- EUR für den Förderzeitraum vom .... Juli 2008 - .... Juni 2010. Die Leistungsgewährung erfolgte auf der Grundlage der Anerkennung eines durchschnittlichen arbeitstäglichen Assistenzbedarfs von ca. 2 Std.. Das monatliche Budget hierfür beträgt 550,-- EUR (Bl. 113 ff. der Akten).

Mit am .... Dezember 2009 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten vom .... Dezember 2009 begehrte der Kläger, den Zuschuss für die Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz auf der Grundlage eines täglichen Bedarfes von mindestens 5 Std. festzusetzen, als Aufwandspauschale für Regiekosten 30,-- EUR/mtl. festzusetzen, den Arbeitsassistenzbedarf nach Stunden festzusetzen und die Abrechnung entsprechend den tatsächlich anfallenden Kosten durchzuführen.

Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger während seiner Arbeitszeit von durchschnittlich täglich 8 Std. für 5 Std. reine Arbeitsassistenzleistungen benötige. Der vom Beklagten festgesetzte tägliche Bedarf von nur 2 Std. sei ermessensfehlerhaft festgesetzt, da er nicht den individuellen Unterstützungsbedarf des Klägers berücksichtige. Sein durchschnittlicher arbeitstäglicher Unterstützungsbedarf liege deutlich über 3 Std.. Nach den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) stünden ihm damit Zuschüsse bis zu monatlich 1.100,-- EUR zu.

Mit Widerspruchsbescheid vom .... April 2010, versandt am .... April 2010, wies der Widerspruchsausschuss beim Zentrum Bayern Familie und Soziales - Integrationsamt - den Widerspruch des Klägers vom .... Dezember 2009 zurück.

Zur Begründung wurde ausgeführt, dass für die während der Arbeitszeit anfallenden allgemeinen pflegerischen und betreuerischen Maßnahmen andere Träger (Sozialhilfeträger) zuständig seien. Leistungen zur Arbeitsassistenz seien gem. § 102 Abs. 4 SGB IX nur in dem Umfang möglich, der sich ausschließlich auf die Unterstützung im Arbeitsverhältnis beziehe und nicht durch andere Leistungsträger abgedeckt sei. Beim Kläger sei unabhängig davon, ob er sich in der Arbeit oder zu Hause befinde, ein Helfer anwesend. Ein gewisser Teil der Anwesenheit des Assistenten, hier: 2 Std., könne jedoch auf berufsbezogene Hilfstätigkeiten zurückgeführt werden.

Am 28. Mai 2010 erhob der Klägerbevollmächtigte Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag, den Beklagten zu verpflichten,

dem Kläger Arbeitsassistenz am Arbeitsplatz im Wege der Kostenübernahme für täglich 8 Std. Arbeitsassistenz an Arbeitstagen zu gewähren und als Aufwandspauschale für Regiekosten 30,-- EUR mtl. festzusetzen und die Abrechnung entsprechend den tatsächlich anfallenden Kosten durchzuführen.

Hierzu wurde unter Bezugnahme auf einen weiteren Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom .... Mai 2010 (im Eilverfahren M 18 E 10.2467) ausgeführt, dass der Kläger zwischenzeitlich täglich 24 Std. auf eine Assistenz angewiesen sei. Damit benötige er derzeit effektiv am Mo., Die., Do. und Fr. Assistenz von durchschnittlich täglich 6 Std. (bei einer angenommenen Arbeitszeit von 9.30 Uhr - 18.00 Uhr, einer Mittagspause von 30 Minuten in der Zeit von 12.30 Uhr - 13.00 Uhr und einer Fehlzeit im Zeitraum von 15.00 Uhr - 17.00 Uhr). Zu den 6 Std. kämen tatsächlich noch die 2 Std. Arbeitsassistenz hinzu, die seine Arbeitskollegen vorübergehend abdeckten. Somit benötige der Kläger insgesamt 8 Std. Arbeitsassistenz täglich. Diese habe der Kläger mit Schreiben vom .... Mai 2010 auch tatsächlich noch einmal beim Beklagten ausdrücklich beantragt. Am Mittwoch gelte ein veränderter Tagesablauf. Mittwochs sei die ganze Zeit ein Helfer vor Ort, da der Kläger seine Arbeit unterbreche und zur Krankengymnastik gehe. Dabei müsse ihn der Helfer begleiten. Damit benötige er am Mittwoch während der Arbeitszeit ebenfalls eine Assistenz von durchschnittlich 8 Std.

Am 28. Juli 2010 fand der Termin der mündlichen Verhandlung statt. Dabei erklärte der Kläger, er gehe weiterhin davon aus, dass er eine 24-Stunden-Betreuung brauche. Er erklärte weiter, außer in der Zeit zwischen 15.00 Uhr - 17.00 Uhr am Mo., Die., Do. und Fr. sei immer jemand anwesend, auch in der Nacht. Er bezahle jedoch die Bereitschaft in den Nachtstunden nur mit dem halben Preis. Er brauche eine begleitende Betreuung während der Nachtstunden, um im Bett gewendet zu werden bzw. auf die Toilette zu gehen. Er müsse während der Nacht zwei- bis dreimal gewendet werden. Er könne sich mit dem Rollstuhl nur in Innenräumen selbständig fortbewegen und nur für kurze Strecken. Er habe einen elektrischen Hilfsmotor eingebaut. Zur Umlagerung während der Nachtzeit erklärt der Kläger, er könne selbst schon den Schwerpunkt verlagern, aber sich nicht auf die Seite drehen.

Er arbeite in einem Großraumbüro. Er könne mit dem Hilfsmotor Kollegen in der Nähe erreichen. Er benötige jedoch Hilfe, wenn er weiter entfernt sitzende Kollegen erreichen oder zum Drucker müsse.

Er erklärt weiter, der "Zivi" komme um 9.00 Uhr und begleite ihn in die Arbeit, was ca. eine halbe bis dreiviertel Stunde dauere. Der "Zivi" hole Frühstück, auch etwas zum Trinken. Montag- und Dienstagmorgen seien in der Regel feste Meetings, bei denen der Assistent ihn begleiten müsse, da die Räume teilweise weiter entfernt seien, teilweise auch mit dem Rollstuhl schlecht erreichbar seien. Es seien wöchentlich ca. 5 - 6 Meetings, teilweise fest vereinbart und teilweise spontan angesetzt. Er arbeite als Entwickler. Es würden Websites für Kunden entwickelt, die auch spontan Änderungswünsche äußerten. Man müsse oft etwas mit den Projektmanagern besprechen, die am anderen Ende des Großraumbüros ihren Platz hätten. Manchmal müsse er beim Empfang etwas abholen (z.B. ein Telefax) oder eine Rechnung abgeben. An vier Arbeitstagen sei während den 2 Std. keine Hilfskraft anwesend, in erster Linie um Kosten bei der Vorfinanzierung zu sparen. Kollegen würden in diesem Zeitraum Rücksicht nehmen oder würden bei Kleinigkeiten helfen. Mittwochs sei eine Hilfskraft bis 17.00 Uhr anwesend, da er um 16.00 Uhr Krankengymnastik habe. Um 17.00 Uhr komme die Hilfskraft, die auch über Nacht da sei. Er gehe meistens zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr aus dem Büro nach Hause. Er könne seine Arbeit am Computer selbständig erledigen. Er brauche gelegentlich Hilfe, wenn ein Buch geholt oder ein Kabel beim Computer ausgesteckt werden müsse. Er brauche auch Hilfe, wenn etwas Schwereres getragen werden müsse, zum Beispiel, habe ein Kunde eine sehr große Mustermappe, die eingelesen würde, die er aber nicht alleine tragen könne. Er sehe keine Möglichkeit, durch organisatorische Maßnahmen für bestimmte Zeiten die Anwesenheit einer Hilfsperson überflüssig zu machen. Er brauche die Hilfskraft, um sich jederzeit im Büro fortbewegen zu können, zum Beispiel zu Meetings und dergleichen. Dass von 15.00 Uhr - 17.00 Uhr an vier Tagen die Woche niemand da sei, habe er wegen finanzieller Gesichtspunkte in Kauf genommen. Er habe aber dadurch Einschränkungen, da er in dieser Zeit nicht an Meetings oder Besprechungen teilnehmen könne und auf die Rücksicht der Kollegen angewiesen sei.

Der Kläger erklärt weiter, an Grundversorgung während der Arbeitszeit brauche er Hilfe beim Aufsuchen der Toilette, beim An- und Ausziehen sowie beim Essen und Trinken. Mobilisierende Pflege werde nicht vorgenommen. Er nehme seit er arbeite wenig Rücksicht auf sich und wolle möglichst wenig Aufwand betreiben.

Die Beklagtenvertreterin erklärte, je nach Bedarf könne das Budget auch über 1.100,-- EUR betragen, wobei nach den tatsächlich anfallenden Kosten abgerechnet werde. Weiter erklärte sie, soweit nachweislich für die Abrechnung der Arbeitsassistenz Kosten entstünden, würde die Aufwandspauschale von 30,-- EUR übernommen.

Der Klägerbevollmächtigte stellte den Antrag aus der Klageschrift vom 28. Mai 2010 mit der Maßgabe,

dass der Beklagte verpflichtet wird, zusätzlich zu den zwei bewilligten Stunden 3 Std. Arbeitsassistenz zu bewilligen.

Demgegenüber beantragten die Beklagtenvertreter

Klageabweisung.

Die Beigeladene zu 1) beantragte ebenfalls

Klageabweisung.

Der Beigeladene zu 2) stellte keinen Antrag.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

BAYERN.RECHT

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist überwiegend erfolgreich.

Der Kläger hat zusätzlich zu dem im Bescheid des Beklagten vom .... Dezember 2009 bewilligten Förderumfang von 2 Std. Anspruch auf Kostenübernahme für eine Arbeitsassistenz für zwei weitere Stunden. Soweit mit der Klage darüber hinaus noch eine weitere Stunde Arbeitsassistenz begehrt wurde, hat sie keinen Erfolg. Dementsprechend war der Beklagte für den streitgegenständlichen Förderzeitraum vom .... Juli 2008 bis .... Juni 2010 zu einer weitergehenden Leistung zu verpflichten, § 113 Abs. 5 VwGO.

Zuletzt nicht mehr strittig war zwischen den Parteien die vom Beklagten zugesagte Abrechnung des Betreuungsaufwandes nach den tatsächlich anfallenden Kosten sowie die Anerkennung einer Aufwandspauschale von 30,-- EUR für die Erstellung der Abrechnung, wenn insoweit nachweislich Kosten entstünden.

Der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer weitergehenden Arbeitsassistenz ergibt sich aus § 102 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 17 Schwerbehindertenabgabeverordnung (SchwbAV). Danach haben schwerbehinderte Menschen im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mitteln Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Die Vorschrift gestaltet die Arbeitsassistenz im Unterschied zu allen anderen Formen begleitender Hilfen im Arbeitsleben als Anspruchsleistung aus (vgl. Lachwitz, Schellhorn, Welti, Handkommentar zum SGB IX, 3. erweiterte und aktualisierte Aufl. 2010 § 102 RdNr. 20 u. Neumann/Pahlen, SGB IX, 12. Aufl. 2010 § 102 RdNr. 33; a.A. VG Halle v. 28.8.2008 4 A 49/07), die allerdings unter dem Vorbehalt steht, dass Mittel aus der Ausgleichsabgabe hierfür zur Verfügung stehen. Dies sehen auch die vom Beklagten im Widerspruchsbescheid vom .... April 2010 in Bezug genommenen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) für die Erbringung finanzieller Leistungen zur Arbeitsassistenz schwerbehinderter Menschen gem. § 102 Abs. 4 SGB IX vor (vgl. dort: Punkt 2. Rechtsgrundlagen). Strittig ist allerdings der Umfang, in dem für den Kläger pro Arbeitstag eine Arbeitsassistenz notwendig ist bzw. in welchem Umfang der Beklagte als Integrationsamt für die Gewährung dieser Arbeitsassistenz zuständig ist.

Das Gesetz enthält keine näheren Angaben darüber, wann eine Arbeitsassistenz "notwendig" im Sinne des § 102 Abs. 4 SGB IX ist. Ebenso hat der Gesetzgeber es bisher unterlassen, von der Ermächtigung in § 108 SGB IX Gebrauch zu machen und die dort vorgesehene Verordnung zur Regelung der Voraussetzungen sowie der Höhe, Dauer und Ausführung der Arbeitsassistenz zu regeln. Es erscheint daher sachgerecht, für den Begriff der Notwendigkeit die Begriffsbestimmung in Ziff. 1.5. der vorgenannten Empfehlungen (BIH) zugrunde zu legen. Danach ist eine Arbeitsassistenz "notwendig" im Sinne des § 102 Abs. 4 SGB IX, wenn dem schwerbehinderten Menschen erst durch eine Arbeitsassistenz eine den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprechende Erbringung der jeweils arbeitsvertraglich bzw. dienstrechtlich geschuldeten Tätigkeit ermöglicht wird. Indem hierbei auf die individuelle vertraglich geschuldete Tätigkeit abgestellt wird, kommt zum Ausdruck, dass die im konkreten Einzelfall erheblichen Merkmale der Arbeitsleistung für die Bestimmung des "notwendigen" Umfangs der Arbeitsassistenz maßgeblich sind. Diese Auslegung entspricht auch § 33 Satz 2 SGB I, der für alle Bereiche des Sozialgesetzbuches gilt. Weiter sind nach § 33 Satz 1 SGB I bei der Ausgestaltung von Rechten, die nach Art oder Umfang nicht im Einzelnen bestimmt sind, die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Entgegenstehende Rechtsvorschriften - insbesondere des SGB IX - sind hier nicht ersichtlich, da der Verordnungsgeber von der Ermächtigung des § 108 SGB IX bisher noch keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. VG Mainz U. v. 23.3.2006 Az. 1 K 269/05.MZ, recherchiert in juris, dort RdNr. 17 ff.).

Zum Verhältnis mehrerer in Betracht kommender Leistungsträger bestimmt § 102 Abs. 5 Satz 1 SGB IX, dass deren Verpflichtungen grundsätzlich nebeneinander bestehen, wobei auch Ermessensleistungen in Betracht kommender Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 - 5 SGB IX nicht unter Hinweis auf die Leistungszuständigkeit des Integrationsamtes versagt werden dürfen.

Die individuelle vertraglich geschuldete Tätigkeit des Klägers stellt sich wie folgt dar:

Der Kläger ist bei der Fa. ... als System Entwickler im Fachbereich "..." bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Std. angestellt (vgl. Bl. 7 ff. der Akten). Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung arbeitet er in einem Großraumbüro. Mit seinem Rollstuhl, der einen elektrischen Hilfsmotor hat, kann er sich nur in Innenräumen und dort nur über kurze Strecken selbständig bewegen. Der Kernbereich seiner Arbeit, die Entwicklung von Webseiten für Kunden und deren Betreuung, kann der Kläger an seinem Computerarbeitsplatz weitgehend selbständig erledigen. Er braucht allerdings gelegentlich Hilfe, wenn ein Buch geholt oder ein Kabel angesteckt werden muss bzw. sonstige Handgriffe anfallen, die eine gewisse Muskelkraft voraussetzen. Darüber hinaus benötigt er eine Hilfskraft, um sich jederzeit im Büro fortbewegen zu können. Er muss sich gelegentlich auch innerhalb des Großraumbüros über weitere Strecken bewegen können, zum Beispiel, um andere Kollegen zu erreichen. Er muss an Meetings teilnehmen, die wöchentlich ca. 5 - 6 mal überwiegend in einem anderen Gebäude stattfinden und die teilweise auch spontan angesetzt werden. Er benötigt auch während der Arbeitszeit Hilfe beim Aufsuchen der Toilette, beim An- und Ausziehen und beim Essen und Trinken.

Dieser nachvollziehbare Hilfebedarf des Klägers ist im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Arbeitsassistenz wie folgt zu bewerten:

Für den Kernbereich der Tätigkeit des Klägers an seinem Computerarbeitsplatz ist eine Arbeitsassistenz nicht nötig. Soweit hin und wieder Tätigkeiten anfallen, die der Kläger nicht selbst ausführen kann (ein Buch holen, ein Kabel am PC anstecken o.ä.), handelt es sich um gelegentliche Handreichungen, die mit Hilfe der Kollegen abgewickelt und organisiert werden können, ohne diese übermäßig zu beanspruchen. Derartige Hilfsdienste vermögen nicht die Notwendigkeit einer Arbeitsassistenz zu begründen (vgl. Ziff. 1.1 BIH, die die Arbeitsassistenz als eine über gelegentliche Handreichungen hinausgehende, zeitlich wie tätigkeitsbezogen regelmäßig wiederkehrende Unterstützung von schwerbehinderten Menschen bei der Arbeitsausführung in Form einer von ihnen beauftragten Assistenzkraft im Rahmen der Erlangung oder Erhaltung eines Arbeitsplatzes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt definiert).

Im Übrigen benötigt der Kläger, was in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden ist, für seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit Mobilitätshilfe sowie Hilfe für seine Grundversorgung.

Die benötigte Hilfeleistung ist hierbei nur insoweit von vornherein festgelegt und damit zeitlich kalkulierbar, als es um die Teilnahme des Klägers an im Voraus angesetzte Meetings geht. Alle übrigen Hilfeleistungen fallen spontan an und sind daher zeitlich nicht kalkulierbar und daher auch nicht durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen in der Weise aufzufangen, dass sich der Betreuungsbedarf des Klägers auf bestimmte Zeiten seiner Arbeitszeit eingrenzen ließe. Dabei wird nicht verkannt, dass die Summe der auf den Arbeitstag verteilten tatsächlich anfallenden Hilfeleistungen bezogen auf die regelmäßige Arbeitszeit von 8 Std. nur einen Teil dessen ausmacht (den der Beklagte für den streitgegenständlichen Zeitraum mit ca. 2 Std. ermittelt hat). Allerdings sind diese Hilfeleistungen - wie ausgeführt - in zeitlicher Hinsicht nicht kalkulierbar bzw. planbar und sie übersteigen ganz eindeutig das Maß dessen, was mit Hilfe von Kollegen am Arbeitsplatz in zumutbarer Weise zu bewältigen ist. Der Kläger hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass er deren Hilfebereitschaft nicht überbeanspruchen bzw. sich diesbezüglich in Abhängigkeiten begeben möchte.

Nach Auffassung der Kammer besteht daher im Fall des Klägers während der hier ausschließlich zu betrachtenden Arbeitszeit in vollem Umfang ein (Bereitschafts-)Assistenzbedarf, wobei die entsprechenden Anteile im Zusammenhang mit den Arbeitstätigkeiten bzw. im Zusammenhang mit der Grundversorgung des Klägers täglich in beiden Bereichen jeweils unterschiedlich und damit im Ergebnis zufällig sind. Es erscheint daher allein sachgerecht, eine Zuordnung des angesprochenen Assistenzbedarfs in der Weise zu treffen, dass der Gesamtbedarf hälftig als Arbeitsassistenz (im Rahmen derer nach Ziff. 4.1 der o.a. Empfehlungen ausdrücklich auch Bereitschaftszeiten zu berücksichtigen sind) und hälftig als Assistenz für die Grundversorgung des Klägers abgedeckt wird.

Der Klage war daher im tenorierten Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. VwGO i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO, wobei zu berücksichtigen war, dass nur die Beigeladene zu 1) durch Stellung eines eigenen Sachantrages ein Kostenrisiko eingegangen ist. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt stützt sich auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Berufung war mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 124 a) Abs. 1 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO nicht zuzulassen.

Referenznummer:

R/R5463


Informationsstand: 16.01.2013