Urteil
Krankheitsbedingte Kündigung und negative Gesundheitsprognose

Gericht:

LAG Mainz


Aktenzeichen:

7 Sa 413/09


Urteil vom:

16.12.2009


Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 06.05.2009, Az.: 4 Ca 308/09 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen Kündigung sowie um die Weiterbeschäftigung der Klägerin während des Rechtsstreits.

Die am 05.09.1952 geborene, geschiedene Klägerin, die keine Unterhaltsverpflichtungen hat, ist seit dem 01.09.1999 bei der Beklagten, die mit in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmern ausschließlich der Auszubildenden ein Krankenhaus betreibt, als Krankenpflegehelferin in der Pflegeeinheit 82 (Psychiatrie) gegen Zahlung eines durchschnittlichen Arbeitsentgeltes in Höhe von 2.400,00 EUR brutto monatlich in Vollzeit beschäftigt. Nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag sind die Bestimmungen des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) auf das Arbeitsverhältnis anwendbar.

Während der Zeit vom 03.01.2001 bis zum 18.04.2008 kam es zu folgenden Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin, die - soweit bekannt - auf den nachfolgend genannten Ursachen beruhten und in den bezeichneten Zeiten zu Entgeltfortzahlungen durch die Beklagte führten:

03.01. - 14.02.2001 43 Tage - Herzmuskelentzündung nach Grippe
10.07. - 10.07.2001 1 Tag - Migräne
30.08. - 23.09.2001 25 Tage - Bänderdehnung nach Sturz

18.03. - 24.03.2002 7 Tage - Bindehautentzündung
20.06. - 20.06.2002 1 Tag - Migräne
29.07. - 18.08.2002 21 Tage
30.10. - 31.10.2002 2 Tage - Migräne

03.01. - 13.04.2003 101 Tage - Verletzung des Bauchraums durch Ärzte der Beklagten anlässlich Bauchspiegelung/Notoperation
05.08. - 05.08.2003 1 Tag - Migräne
30.09. - 02.10.2003 3 Tage - Schleimhautentzündung Magen/Darm

13.01. - 14.01.2004 2 Tage - Migräne
09.02. - 22.02.2004 14 Tage - Rückenschmerzen nach Heben eines Patienten
23.03. - 31.03.2004 9 Tage - Virale Bindehautentzündung
12.05. - 12.05.2004 1 Tag - Migräne
27.05. - 28.05.2004 2 Tage - Migräne
09.06. - 11.07.2004 33 Tage - Neurasthenie (Erschöpfungszustand) nach Trennung der Pflegeeinheiten 82 und 83
06.10. - 06.10.2004 1 Tag - Migräne
02.11. - 05.11.2004 4 Tage - Virale Darminfektion
06.12. - 12.12.2004 7 Tage - Hörsturz

18.01. - 19.01.2005 2 Tage - nach Zahnoperation
07.03. - 13.03.2005 7 Tage - Schleimhautentzündung Magen/Darm
14.03. - 24.03.2005 11 Tage - Zystozele (Blasenvorfall bei Gebärmutterabsenkung)
26.04. - 26.04.2005 1 Tag - Migräne
10.05. - 20.06.2005 42 Tage - Bandscheibenvorfall
21.06. - 16.10.2005 118 Tage - Bandscheibenvorfall (ohne Entgeltfortzahlung)

23.01. - 23.01.2006 1 Tag - Migräne
03.03. - 13.04.2006 42 Tage - Pfeiffersches Drüsenfieber
14.04. - 21.04.2006 8 Tage - Pfeiffersches Drüsenfieber (ohne Entgeltfortzahlung)
19.06. - 19.06.2006 1 Tag - Migräne
21.08. - 03.09.2006 15 Tage - Gastrointestinale Blutung
04.09. - 17.09.2006 13 Tage - Neurasthenie (Erschöpfungszustand)
28.12. - 28.12.2006 1 Tag - Migräne

22.01. - 24.01.2007 3 Tage - Gastroenteritis
12.03. - 12.03.2007 1 Tag - Migräne
24.04. - 24.04.2007 1 Tag - Migräne
14.05. - 20.05.2007 7 Tage - Neurasthenie (Erschöpfungszustand)
15.06. - 15.06.2007 1 Tag
29.07. - 30.07.2007 2 Tage - Migräne
20.08. - 29.08.2007 10 Tage - Gehirnerschütterung
14.10. - 24.11.2007 42 Tage - Gefäßerkrankung (Durchblutungsstörung)
25.11. - 30.11.2007 6 Tage - Gefäßerkrankung (Durchblutungsstörung) (ohne Entgeltfortzahlung)

09.01. - 20.01.2008 12 Tage - Betriebsarzt schickt Klägerin nach Hause wegen möglicher Norovirusinfektion

Am 26.09.2006 unterzeichnete die Klägerin folgende formularmäßige Erklärung (vgl. Bl. 26 d. A.):

"Ich möchte am Betrieblichen Eingliederungsmanagement nicht bzw. noch nicht teilnehmen. Sollte ich eine Mitwirkung wünschen, komme ich meinerseits auf meinen Arbeitgeber zu."

Mit Schreiben vom 14.04.2008 (vgl. Bl. 27 ff. d. A.) teilte die Beklagte dem bei ihr errichteten Betriebsrat mit, sie beabsichtige wegen der häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Der Betriebsrat erklärte daraufhin mit Schreiben vom 17.04.2008 (vgl. Bl. 9 d. A.), er widerspreche der ordentlichen Kündigung, da er diese nicht für das geeignete Mittel halte.

Daraufhin kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 18.04.2008 (vgl. Bl. 5 ff. d. A.) das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.09.2008.

Die Klägerin hat sich mit ihrer am 07.05.2008 beim Arbeitsgericht Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - erhobenen Klage hiergegen gewandt und ihre Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits verlangt.

Wegen des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird auf die Zusammenfassung im Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 06.05.2009 verwiesen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 18.04.2008 zum 30.09.2008 geendet hat,

2. im Falle des Obsiegens, die Beklagte zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Krankenpflegehelferin weiterzubeschäftigen.


Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - hat entsprechend seinem Beweisbeschluss vom 08.10.2008 (Bl. 47 d. A.) Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des internistisch-arbeitsmedizinischen Gutachtens von Frau Dr. med. Z vom 11.02.2009 (Bl. 61 ff. d. A.) Bezug genommen.

Sodann hat das Arbeitsgericht mit Urteil vom 06.05.2009 (Bl. 92 ff. d. A.) festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 18.04.2008 nicht aufgelöst worden ist; des Weiteren hat es die Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Krankenpflegehelferin weiterzubeschäftigen.

Zur Begründung dieser Entscheidung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die streitgegenständliche ordentliche Kündigung sei nach § 1 KSchG sozial nicht gerechtfertigt, da die rechtlichen Voraussetzungen für eine Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen nicht erfüllt seien. Ausgehend von dem vorliegenden Sachverständigengutachten sei nämlich nicht feststellbar, dass zum Kündigungszeitpunkt eine negative Gesundheitsprognose habe gestellt werden können. Die Gutachterin habe ausgeführt, dass es sich bei der Arbeit der Klägerin um leichte körperliche Tätigkeiten im Sitzen, Gehen, Stehen, im Wechsel ohne häufiges Heben und Tragen von Lasten handele. Es bestünden insoweit aus arbeitsmedizinischer Sicht keine Bedenken gegen die weitere Fortführung der Tätigkeit durch die Klägerin. Es habe auch keine chronisch wiederkehrende organische Erkrankung der Klägerin aus den Krankendaten, der Anamnese und den Angaben der Krankenkassen festgestellt werden können. Die einzelnen Krankheiten seien als ausgeheilt zu beurteilen. Die Langzeiterkrankungen, welche gesondert zu betrachten gewesen seien, bedeuteten nicht eine organische Erkrankung mit einem Krankheitswert, der wiederkehrenden Charakter habe, so dass auch insoweit eine negative Gesundheitsprognose nicht gestellt werden könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichtes wird auf Seite 6 ff. des Urteils vom 06.05.2009 (= Bl. 97 ff. d. A.) verwiesen.

Die Beklagte, der die Entscheidung des Arbeitsgerichtes am 29.06.2009 zugestellt worden ist, hat am 13.07.2009 Berufung zum Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt und am 29.09.2009 ihr Rechtsmittel begründet, nachdem die Berufungsbegründungsfrist bis zum 30.09.2009 verlängert worden war.

Die Beklagte macht geltend,

die häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin seit dem Jahr 2004 würden auf eine erhöhte Anfälligkeit, insbesondere in Stresssituationen, hindeuten. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs sei die Gesundheitsprognose für die Klägerin negativ gewesen. Die vom Gericht bestellte Sachverständige habe als Grundlage ihres Gutachtens die Darstellung des Arbeitsumfeldes durch die Klägerin ungeprüft übernommen. Es sei zwar möglich, dass die Tätigkeit auf der psychiatrischen Station, verglichen mit einer internistischen Station, als geringer belastend zu bewerten sei, jedoch gebe es auch in der Psychiatrie vermehrt Pflegefälle bzw. immobile Patienten, bei denen vermehrt Grundpflege anfalle. Diese Grundpflege müssten in erster Linie die Krankenpflegehelferinnen leisten.

Des Weiteren habe die Sachverständige auch den von der Klägerin hergestellten Zusammenhang zwischen der "Anpassungsstörung mit Erschöpfungssyndrom" und "arbeitsorganisatorische Maßnahmen" übernommen, ohne dies zu hinterfragen. Aufgrund er arbeitsmedizinischen Stellungnahme des Betriebsarztes Dr. Y vom 02.05.2009 (vgl. Bl. 144 ff. d. A.) sei von einem weitergehenden Aufklärungsbedarf im Zusammenhang mit dem Gutachten auszugehen; insbesondere müsse das Gutachten durch die Sachverständige in einem Verhandlungstermin mündlich erläutert werden.

Der Beklagten seien aus den Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen erwachsen. So habe sie in den Jahren 2004 bis 2007 regelmäßig Entgeltfortzahlungen über 42 Kalendertage jährlich hinaus geleistet. Im Jahr 2005 habe sie für 63 berücksichtigungsfähige Krankheitstage, im Jahr 2006 für 73 berücksichtigungsfähige Krankheitstage und im Jahr 2007 für 57 berücksichtigungsfähige Krankheitstage das Arbeitsentgelt an die Klägerin fortgezahlt. Allein die diesbezüglichen Aufwendungen würden sich unter Berücksichtigung der Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungsbeiträgen auf mehr als 76.700,00 EUR belaufen. Hinzu komme, dass in dem benannten Zeitraum die Klägerin Krankgeldzuschuss für insgesamt 132 Tage bezogen habe. Die durchschnittlichen jährlichen Aufwendungen der Beklagten im Zusammenhang mit den Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin während der Jahre 2004 bis 2007 hätten sich auf 7.500,- EUR jährlich belaufen. Des Weiteren seien die bei der Beklagten durch die Fehlzeiten der Klägerin verursachten Betriebsablaufstörungen, welche bereits erstinstanzlich dargelegt worden seien, zu berücksichtigen.

Die Beklagte sei im Hinblick auf die schriftliche Erklärung der Klägerin vom 26.09.2006 auch nicht verpflichtet gewesen, vor Kündigungsausspruch ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 29.09.2009 (Bl. 135 ff. d. A.) und 23.11.2009 (Bl. 173 ff. d. A.) Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 06.05.2009, AZ: 4 Ca 308/08 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin führt aus,

vorliegend könne nicht von einer negativen Gesundheitsprognose ausgegangen werden, zumal sie zum Kündigungszeitpunkt seit über fünf Monaten keinen einzigen Krankheitstag gehabt habe. Des Weiteren sei die Anzahl der Kurzerkrankungen zuletzt rückläufig gewesen; sowohl zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs wie auch am 15.12.2008, dem Zeitpunkt der Erstellung des arbeitsmedizinischen Gutachtens hätte keine gesundheitliche Bedenken gegen einen vollschichtigen Einsatz der Klägerin an ihrem bisherigen Arbeitsplatz bestanden. Die Sachverständige habe auch nicht ungeprüft die Darstellung des Arbeitsumfeldes durch die Klägerin in das Gutachten übernommen.

Außerdem dürften Arbeitsunfähigkeitszeiten, die auf Betriebsunfällen oder einmaligen Krankheitsursachen beruhen würden, nicht zur Erstellung einer negativen Gesundheitsprognose verwendet werden. Dementsprechend könne die Arbeitsunfähigkeitszeit vom 10.05.2005 bis 20.06.2005 nicht berücksichtigt werden, da der damalige Bandscheibenvorfall einen Arbeitsunfall dargestellt habe. Als einmalige Krankheitsursachen seien das Pfeiffersche Drüsenfieber (42 Kalendertage im Jahr 2006) und der Ausfallgrund Magenbluten/stressbedingte Erschöpfung (28 Tage) zu behandeln. Gleiches gelte für die 42 Kalendertage, während deren die Klägerin im Kalenderjahr 2007 wegen einer Gefäßerkrankung ausgefallen sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Berufungserwiderung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 29.10.2009 (vgl. Bl. 162 ff. d. A.) Bezug genommen.

Rechtsweg:

ArbG Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - Urteil vom 06.05.2009 - 4 Ca 308/09

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist gemäß §§ 64 ff. ArbGG, 512 ff. ZPO zwar zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Das Arbeitsgericht Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - hat in seinem Urteil vom 06.05.2009 zu Recht festgestellt, dass die ordentliche Kündigung vom 18.04.2008 das Beschäftigungsverhältnis nicht rechtswirksam beendet hat (A.) und die Beklagte darüber hinaus zur Weiterbeschäftigung der Klägerin zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Krankenpflegehelferin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits verurteilt (B.).

A. Die ordentliche Kündigung vom 18.04.2008 ist gemäß § 1 des vollumfänglich anwendbaren Kündigungsschutzgesetzes rechtsunwirksam, da sie sozial ungerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Im vorliegenden Fall liegen die personenbedingten Kündigungsgründe, auf welche sich die Beklagte beruft, nicht vor. Zwar können häufige Kurzerkrankungen eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen, jedoch müssen dann bestimmte rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Dementsprechend ist zunächst in einer ersten Stufe eine negative Gesundheitsprognose erforderlich. Die dementsprechend prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung sozial zu rechtfertigen, wenn sie auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen, was als Teil des Kündigungsgrundes - zweite Stufe - festzustellen ist. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer derartigen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen. Liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen vor, so ist in einem dritten Prüfungsschritt im Rahmen der nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigung vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden muss (vgl. BAG, Urteil vom 23.04.2008; 2 AZR 1012/06 = BB 2008, 2409 ff.).

Die prognostizierten Fehlzeiten führen allerdings nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, wenn die Kündigung wegen des Bestehens der Möglichkeit, die Kündigung durch mildere Mittel zu vermeiden, gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt. § 84 Abs. 2 SGB IX stellt eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Dabei ist das dort vorgesehene betriebliche Eingliederungsmanagement zwar kein milderes Mittel, aber bei Durchführung dieses Eingliederungsmanagement können mildere Mittel, wie z. B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden. Hat ein Arbeitnehmer in der Vergangenheit eine entsprechende Vertragsänderung abgelehnt, ist zu beachten, dass die seinerseitig ablehnende Haltung nicht vor dem Hintergrund einer ansonsten drohenden Beendigungskündigung gesehen werden kann, zumal eine solche nicht in Rede stand. Insoweit gelten die zur Frage der Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz im Falle betriebsbedingter Kündigungen entwickelten Grundsätze auch bei krankheitsbedingten Kündigungen: Bietet der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung dem Arbeitnehmer an, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und lehnt der Arbeitnehmer dies ab, so bleibt der Arbeitgeber regelmäßig dennoch verpflichtet, das abgelehnte Angebot durch Änderungskündigung anzubieten. Eine Beendigungskündigung ist nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung nicht, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung annehmen (vgl. BAG, a. a. O.).

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze bestehen bereits erhebliche rechtliche Bedenken an der Rechtswirksamkeit der ordentlichen Kündigung, weil die Beklagte das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement (BEM) im Sinne von § 84 Abs. 2 SGB IX nicht durchgeführt hat. Sie kann sich nach Auffassung des Berufungsgerichtes in diesem Zusammenhang nicht auf die von der Klägerin am 26.09.2006 abgegebene formularmäßige Verzichtserklärung berufen. Soweit die Klägerin damals nämlich angekreuzt hatte, sie wolle nicht am betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement bzw. noch nicht teilnehmen und werde auf den Arbeitgeber zukommen, falls sie eine Mitwirkung wünsche, erfolgte diese Erklärung nicht im Zusammenhang mit einer anstehenden ordentlichen Kündigung. Wenn aber ein Arbeitgeber nach der oben dargelegten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verpflichtet ist, einen in der Vergangenheit vom Arbeitnehmer abgelehnten anderen Arbeitsplatz diesem kurz vor Ausspruch der Kündigung nochmals anzubieten oder eine Änderungskündigung zu erklären, so muss entsprechendes auch für die Durchführung des BEM gelten. Denn das BEM dient der Ermittlung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten und der Vermeidung des Arbeitsplatzverlustes. Dementsprechend muss es zeitnah vor Ausspruch einer Kündigung durchgeführt werden, ansonsten erfüllt es nicht seinen Zweck. Dementsprechend durfte die Beklagte nicht auf die Verzichtserklärung der Klägerin aus dem Jahr 2006 vertrauen und hätte zeitnah vor Ausspruch der Kündigung vom 18.04.2008 die Klägerin befragen müssen, ob diese auch angesichts einer ansonsten anstehenden Kündigung auf das BEM verzichtet.

Letztlich kann aber dahinstehen, ob das im Zusammenhang mit dem BEM von der Beklagten gezeigte Verhalten zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung führt, zumal diese aus einem anderen Grund bereits rechtsunwirksam ist.

Zum Zeitpunkt der Kündigung gab es nämlich keine negative Gesundheitsprognose für die Klägerin; dies folgt aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten, das auf Veranlassung des Arbeitsgerichts durch Frau Dr. med. Z am 11.02.2009 erstellt wurde. Die Gutachterin kommt nämlich in nachvollziehbarer Weise zu dem Schluss, dass bei den überwiegenden Kurzerkrankungen seit dem Jahr 2001 akute, jetzt als ausgeheilt zu betrachtende Erkrankungen gegeben gewesen seien. Die Langzeiterkrankungen seien von ihr gesondert betrachtet worden und bedeuteten nicht eine organische Erkrankung von Krankheitswert mit wiederkehrenden Charakter, so dass auch hier keine negative Gesundheitsprognose für sie anhand der Diagnosen gestellt werden könne. Aus arbeitsmedizinischer Sicht hätten am 18.04.2008, also zum Kündigungszeitpunkt wie auch am 15.12.2008, dem Untersuchungszeitpunkt keine gesundheitlichen Bedenken gegen den vollschichtigen Einsatz der Klägerin an ihrem bisherigen Arbeitsplatz als Krankenpflegehelferin in der Psychiatrie mit körperlich leichter Tätigkeit im Sitzen, Stehen und Gehen im Wechsel bestanden.

Soweit die Beklagte mit ihrer Berufung Einwendungen gegen das Sachverständigengutachten erhoben hat, greifen diese nicht durch.

Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang ausführt, auch in einer psychiatrischen Station müsse vermehrt Grundpflege an immobilen Patienten geleistet werden, ist nicht nachvollziehbar, von welchen konkreten Belastungen zum Kündigungszeitpunkt aus Sicht der Beklagten ausgegangen werden soll. Insoweit hätte die darlegungspflichtige Beklagte den Umfang und Inhalt der Tätigkeit der Klägerin und die hiermit verbundenen Belastungen konkret benennen müssen. Erst dann hätte auch die Befragung der gerichtlich bestellten Gutachterin hinsichtlich der von ihr zugrunde gelegten Belastung einen Sinn gemacht.

Welchen körperlichen Belastungen die Klägerin zum Kündigungszeitpunkt ausgesetzt war, ergibt sich im Übrigen auch nicht aus der arbeitsmedizinischen Stellungnahme von Dr. Y vom 02.05.2009. Auch den Ausführungen des Betriebsarztes in dieser Stellungnahme ist nicht zu entnehmen, welche Belastungen durch "vermehrt Pflegefälle bzw. immobile Patienten" und "vermehrt Grundpflege" verbunden sein sollen.

Des Weiteren ist auch der sowohl von der Beklagten in der Berufungserwiderung als auch in der arbeitsmedizinischen Stellungnahme von Dr. Y erhobene Einwand die gerichtliche Gutachterin habe den von der Klägerin behaupteten Zusammenhang von bei ihr aufgetretenen Anpassungsstörungen mit Erschöpfungssyndrom und arbeitsorganisatorischen Maßnahmen nicht hinterfragt, ungerechtfertigt. Denn auf Seite 5 des schriftlichen Sachverständigengutachtens führt die Gutachterin aus, die Klägerin habe die Arbeitsunfähigkeit vom 09.06.2004 bis 11.07.2004 wegen Neurasthenie als Reaktion auf arbeitsorganisatorische Maßnahmen geschildert. Demnach sei Personal der beiden Stationen in der Psychiatrie durcheinander gewürfelt worden; hierbei sei das Personal weder informiert noch gefragt worden. Die neue Leitung habe die zuvor bestehende flexiblere Arbeitsweise verändert. Die Beklagte hat diese arbeitsorganisatorischen Maßnahmen nicht bestritten, so dass deren Zugrundelegung in dem Sachverständigengutachten auch nicht als fehlerhaft einzuschätzen ist.

Unabhängig davon hat die Sachverständige auch ausgeführt, dass keine chronisch wiederkehrenden Erkrankungen festgestellt worden seien und dass es sich bei der wiederholt auftretenden Neurasthenie um eine psychische Störung handele, bei der eine feste Berufstätigkeit mit Aufgaben eher günstig sei für den Verlauf der Beschwerdesymptomatik. Mithin kann - selbst wenn die Ursache für die Erkrankung unberücksichtigt bleibt - eine negative Prognose insoweit nicht gestellt werden.

Soweit im Übrigen der Betriebsarzt der Beklagten Herr Dr. Y in seiner arbeitsmedizinischen Stellungnahme vom 02.05.2009 rügt, die Gutachterin habe eine sachlich falsche Schilderung des Nachtdiensteinsatzes von der Klägerin übernommen, ist dies nicht nachvollziehbar. Unstreitig hat die Klägerin vor Ausspruch der Kündigung zuletzt zwei Nachtdienste im Monat abgeleistet. Dies hat die Gutachterin, wie sich aus Seite 8 des schriftlichen Gutachtens ergibt, auch entsprechend berücksichtigt. Darauf, ob die Klägerin darüber hinaus während einer Wiedereingliederungsmaßnahme im Jahr 2006 vom Nachtdienst befreit war, kommt es nicht entscheidend an, zumal die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Kündigung maßgeblich für die Gesundheitsprognose sind. Mithin bestand für die Berufungskammer weder ein Anlass noch eine Grundlage für eine mündliche Befragung der Sachverständigen Dr. med. Z. Vielmehr war aufgrund des vorliegenden Akteninhalts ohne Weiteres davon auszugehen, dass zum Kündigungszeitpunkt eine negative Gesundheitsprognose nicht gestellt werden konnte und allein daher schon die ordentliche Kündigung vom 18.04.2008 nicht rechtswirksam geworden ist.

B. Das Arbeitsgericht hat des Weiteren die Beklagte zu Recht verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Krankenpflegehelferin weiterzubeschäftigen.

Im Hinblick auf die wechselseitige Interessenlage der Arbeitsvertragsparteien im Falle einer Kündigung vertritt das Bundesarbeitsgericht seit der Entscheidung des Großen Senates vom 27.02.1985 (= EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9). in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass der aus §§ 611, 613 BGB i. V. m. § 242 BGB abgeleitete Beschäftigungsanspruch, der für die Dauer des Arbeitsverhältnisses gegeben ist, grundsätzlich auch für die Dauer eines Kündigungsschutzprozesses bestehen muss, wenn die umstrittene Kündigung des Arbeitgebers unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis deshalb auch während des Kündigungsschutzprozesses fortbesteht. Die Ungewissheit über die Wirksamkeit der Kündigung und damit den Prozessausgang begründet aber zunächst ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers, den gekündigten Arbeitnehmer für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses nicht zu beschäftigen. Die Interessenlage ändert sich aber, wenn im Kündigungsschutzprozess ein die Instanz abschließendes Urteil ergeht, das die Unwirksamkeit der Kündigung und damit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses feststellt, ohne damit an der objektiven Rechtslage etwas zu ändern, weil es sich nicht um ein Gestaltungsurteil handelt. Die Ungewissheit des endgültigen Prozessausgangs bildet in diesem Fall für sich allein kein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung mehr, es sei denn es lägen zusätzliche Umstände vor, die im Einzelfall trotzdem ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergeben würden.

Wendet man diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf den vorliegenden Fall an, so ist zunächst festzustellen, dass durch die Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung vom 18.04.2008 ein überwiegendes Interesse der Klägerin an einer Beschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits entstanden ist. Besondere Umstände, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstünden, sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar.

Nach alledem war die Berufung der Beklagten mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Für die Zulassung der Revision fehlte es unter Beachtung von § 72 Abs. 2 ArbGG an einem gesetzlich begründeten Anlass.

Referenznummer:

R/R4899


Informationsstand: 03.06.2011