Urteil
Anfechtung eines Aufhebungsvertrags wegen widerrechtlicher Kündigung gegenüber Ersatzmitglied des Betriebsrats - gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG

Gericht:

BAG


Aktenzeichen:

6 AZR 627/05


Urteil vom:

18.05.2006


Grundlage:

Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG:

Das Urteil behandelt die Anfechtung eines Aufhebungsvertrages wegen widerrechtlicher Kündigung gegenüber einem Ersatzmitglied des Betriebsrats im Zeitraum nachwirkenden Schutzes gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG.

Das Berufungsurteil ist ohne Tatbestand aufzuheben.

1. Ein Berufungsurteil ist im Revisionsverfahren aufzuheben, wenn es entgegen den zivilprozessualen Regelungen keinen Tatbestand enthält; daran hat sich durch das ZPO-Reformgesetz 2001 nichts geändert.

2. Das vorübergehend in den Betriebsrat eingerückte Ersatzmitglied genießt nach Beendigung des Vertretungsfalls - nur - den nachwirkenden Kündigungsschutz gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG; einer Zustimmung des Betriebsrats gem. § 103 BetrVG zur außerordentlichen Kündigung bedarf es nicht.

3. Es bleibt offen, ob im Fall des Zustimmungserfordernisses nach § 103 BetrVG eine Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung ohne Hinweis auf die beabsichtigte Einholung der Zustimmung des Betriebsrats schon deswegen i. S. des § 123 BGB widerrechtlich ist.

Rechtsweg:

LAG Sachsen Urteil vom 10.02.2005 - 6 Sa 514/04

Quelle:

Der Betrieb
Der Betrieb 49/2006

Tatbestand:

Die Parteien streiten über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über den 30.11.2003 hinaus, wobei es darum geht, ob die Klägerin ihre dem Aufhebungsvertrag vom 20.10.2003 zugrundeliegende Willenserklärung wirksam angefochten hat.

Die 1959 geborene Klägerin ist seit 1982 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen neu beschäftigt. Nachdem ihre letzte Tätigkeit als Leistungsrechnerin in Güterwagenausbesserung weggefallen war, wurde sie "Mitarbeiterin zur beruflichen Neuorientierung".

Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt wegen beiderseitiger Tarifgebundenheit der Tarifvertrag für die Arbeitnehmer der DB Vermittlung GmbH (TV). Nach § 22 Abs. 2 TV ist die Klägerin verpflichtet, jede ihr übertragene Tätigkeit im Unternehmen des DB Konzerns auch an wechselnden Arbeitsorten auszuüben, die ihr nach ihrer Befähigung, Ausbildung, Eignung und ihren sozialen Verhältnissen zugemutet werden kann. Grundsätzlich sind dem Arbeitnehmer nach § 23 Abs. 2 TV auch längere Wegezeiten, ein Wohnsitzwechsel und eine Beschäftigung unterhalb seines bisherigen Beschäftigungsniveaus zuzumuten.

Am 15.9.2003 wurde der Klägerin in einem Personalgespräch durch die Beklagte ein Arbeitsvertragsangebot der DB Services Süd- Ost GmbH als Verkehrsmittel- und Gebäudereinigerin in der Niederlassung Sachsen-Ost unterbreitet. Die Klägerin lehnte das Arbeitsvertragsangebot ab.

Mit Schreiben vom 9.10.2003 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung. Die Klägerin wurde darauf hingewiesen, dass sie im Wiederholungsfall, d. h. bei der erneuten Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsvertragsvertragsangebots, mit der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses rechnen müsse. Zugleich wurde ihr das Arbeitsvertragsangebot als Verkehrsmittel- und Gebäudereinigerin bei der DB Services Süd-Ost GmbH nochmals unterbreitet. Ihr wurde eine Überlegungsfrist bis zum 13.10. 2003 zur Annahme des Angebots eingeräumt. Hierauf lehnte die Klägerin das Angebot erneut ab.

Am 15.10.2003 fand ein weiteres Personalgespräch bei der Beklagten statt. Der Klägerin wurde das Arbeitsvertragsangebot erneut unterbreitet und ihr wurde eine Überlegungsfrist bis zum 20.10.2003 eingeräumt.

Schließlich unterzeichnete die Klägerin den auf den 20.10.2003 datierten Arbeitsvertrag mit der DB Services Süd-Ost GmbH und den Aufhebungsvertrag mit der Beklagten vom 20.10.2003.

Mit Schreiben vom 9.12.2003 focht die Klägerin "den Aufhebungsvertrag gem. § 123 Abs. 1 BGB" an.

Das ArbG hat die Klage abgewiesen. Das LAG (Sachsen - 6 Sa 514/04) hat auf die Berufung der Klägerin der Klage stattgegeben. Die Revision der Beklagten führte zur Aufhebung des Urteils des LAG und Zurückverweisung.

Gründe:

I. Das Berufungsurteil ist schon deswegen aufzuheben, weil es entgegen § 69 ArbGG keinen den gesetzlichen Bestimmungen entsprechenden Tatbestand enthält. Ein völliges Absehen von der Darstellung des Tatbestands gem. § 69 Abs. 2 ArbGG, § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO kommt bei Berufungsurteilen nur dann in Betracht, wenn ein Rechtsmittelverzicht erklärt worden ist. Ist das nicht der Fall, kann die Revision durch das BAG zugelassen werden. In einem solchen Fall ist das Urteil des LAG ohne Tatbestand von Amts wegen aufzuheben und der Rechtsstreit an das LAG zurückzuverweisen. Daran hat sich durch das ZPO- Reformgesetz 2001 nichts geändert.

1. Das Berufungsurteil muss einen den Anforderungen des § 69 Abs. 3 ArbGG genügenden Tatbestand enthalten. Nach § 69 Abs. 2 ArbGG kann unter den dort genannten Voraussetzungen von der Darstellung des Tatbestands nur dann abgesehen werden, wenn das Berufungsurteil unzweifelhaft nicht der Revision unterliegt (313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO). § 69 Abs. 3 ArbGG verlangt für Urteile, gegen die die Revision statthaft ist, eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitstands auf der Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien. Das ist erforderlich, um die Nachprüfung durch das Revisionsgericht zu ermöglichen, und gilt auch, wenn die Revision erst aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde durch das Revisionsgericht zugelassen worden ist.

Zumindest eine verkürzte Darstellung des etwaigen zweitinstanzlichen Vorbringens ist erforderlich. Einem Urteil ohne Tatbestand kann in der Regel nicht entnommen werden, welchen Streitstoff das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrundegelegt hat, so dass dem Revisionsgericht eine abschließende Überprüfung verwehrt ist. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn der Zweck des Revisionsverfahrens, dem Revisionsgericht die Nachprüfung des Berufungsurteils und insbesondere dessen Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt zu ermöglichen, im Einzelfall deswegen erreicht werden kann, weil der Sach- und Streitstand sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils in einem für die Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfrage ausreichendem Umfang ergibt.

2. Das angefochtene Urteil enthält keinen Tatbestand... (wird ausgeführt).


II. 3. ...

1. Bei der neuen Verhandlung des Rechtsstreits wird das LAG zu beachten haben, dass im Zeitraum des nachwirkenden Schutzes gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG eine Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung nicht erforderlich ist.

Das vorübergehend eingerückte Ersatzmitglied genießt nach Beendigung des Vertretungsfalls den nachwirkenden Kündigungsschutz gem. Satz 2 des Abs. 1 des § 15 KSchG. Das folgt zunächst daraus, dass auch vorübergehend tätig gewordene Ersatzmitglieder während des Vertretungszeitraums vollwertige Mitglieder des Betriebsrats geworden sind. Darüber hinaus können Ersatzmitglieder auch bei nur kurzer Vertretungstätigkeit in Konflikte mit dem Arbeitgeber geraten sein, so dass auch für sie gelten muss, dass sie nicht um den Bestand ihrer Arbeitsverhältnisse fürchten müssen, jedenfalls nicht durch ordentliche Kündigung. Andernfalls könnte das Ersatzmitglied seine Vertretung nicht unbefangen wahrnehmen.

Der nachwirkende Kündigungsschutz für vorübergehend herangezogene Ersatzmitglieder beginnt nach Beendigung der Vertretung im Betriebsrat und beträgt unabhängig von der Dauer der Vertretung ein Jahr. Diese Frist beginnt bei jeder weiteren Vertretung erneut zu laufen. Der nachwirkende Kündigungsschutz besteht unabhängig davon, ob der Arbeitgeber bei Ausspruch der ordentlichen Kündigung von der Vertretungstätigkeit gewusst hat. Maßgebend ist der objektive Tatbestand.


2. Dagegen bedarf es entgegen der Ansicht des LAG nicht der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung eines vorübergehenden eingesetzten Ersatzmitglieds oder der Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats durch die Arbeitsgerichte im Fall der Verweigerung der Zustimmung durch den Betriebsrat im Zeitraum des nachwirkenden Kündigungsschutzes. Der personelle Anwendungsbereich des § 103 BetrVG erfasst Ersatzmitglieder, soweit sie entweder endgültig für ein ausgeschiedenes Mitglied einrücken (§ 25 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) oder solange sie ein zeitweilig verhindertes Mitglied vertreten (§ 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG). Unter § 103 BetrVG fallen aber nicht Ersatzmitglieder, die nach Beendigung der Vertretungszeit wieder aus dem Betriebsrat ausgeschieden sind. Sie sind nur nach jedem Vertretungsfall für ein Jahr gegen eine ordentliche Kündigung geschützt.

Darauf, ob im Fall des Zustimmungserfordernisses eine Drohung ohne Hinweis auf die beabsichtigte Einholung der Zustimmung widerrechtlich wäre, was als sehr zweifelhaft erscheint, kommt es nicht an.

Da die Klägerin einen nur nachwirkenden Kündigungsschutz gegen ordentliche Kündigungen nach Beendigung des Vertretungsfalls i. S. des § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG hatte, ist die Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung nur dann i. S. des § 123 BGB widerrechtlich, wenn ein verständiger Arbeitgeber eine solche Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Das Gegenteil kann hier der Fall sein. Aus der besonderen Pflichtenlage des vorliegenden Arbeitsverhältnisses heraus verletzt der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen Pflichten, wenn er zumutbare Arbeitsplatzangebote ablehnt. Die Klägerin hat trotz Abmahnung das Angebot, bei der Firma DB Services Süd-Ost GmbH als Verkehrsmittel- und Gebäudereinigerin in der Niederlassung Sachsen-Ost zu arbeiten, abgelehnt.

Der Zweite Senat hat mit Urteil vom 2.2.2006 eine ordentliche - verhaltensbedingte - Kündigung wegen Ablehnung der Vermittlung oder der Übernahme einer zumutbaren Tätigkeit bei einem andern Unternehmen nach § 26 Abs. 1 Satz 1 TV als wirksam angesehen. Deshalb kommt grundsätzlich auch eine außerordentliche Kündigung in Betracht... (wird ausgeführt).

Referenznummer:

R/R2585


Informationsstand: 12.03.2007