Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 01.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2021 verurteilt, der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Kosten der Unterbringung und Betreuung in der Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen des Michaelshofs in B-Stadt zu gewähren.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung und Betreuung der Klägerin in einer Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen.
Die 1995 geborene Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und ihr sind die Merkzeichen G und H zuerkannt. Sie erhält Leistungen der Pflegekasse im Umfang des Pflegegrades 4. Für die Klägerin ist eine Betreuerin bestellt. Sie lebt seit 2011 im Schwerstpflegeheim des Michaelshofs in B-Stadt.
Mit drei Bescheiden vom 20.01.2020 gewährte die Beklagte der Klägerin Leistungen der Hilfe zur Pflege für die Zeit vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2021, Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit ab 01.01.2020 bis auf weiteres und Leistungen der ergänzenden Eingliederungshilfe für die Zeit ab dem 01.01.2020 bis zum 31.12.2021 in Höhe von 718,82 € monatlich.
Mit Schreiben vom 07.05.2020 beantragte die Betreuerin der Klägerin bei der Beklagten weitere Leistungen für die Betreuung der Klägerin in der Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen des Michaelshofs in B-Stadt.
In einer dazu eingeholten amtsärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. L. vom 04.06.2020 kam dieser zu dem Ergebnis, dass die Klägerin wegen des vorliegenden frühkindlichen Autismus zum Personenkreis der wesentlich behinderten Menschen gehört, und empfahl, die Aufnahme der Klägerin in einer Fördergruppe einer Werkstatt für behinderte Menschen ebenso wie das weitere betreute Wohnen auf dem Michaelshof. Als vorrangig zu verfolgende Ziele zur Verbesserung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vermerkte
Dr. L. Tagesstruktur, Aufbau sozialer Kontakte und Förderung von individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten.
Mit Bescheid vom 01.09.2020 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe für die Aufnahme in eine Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen zu erbringen. Zur Begründung wies die Beklagte darauf hin, dass die Klägerin neben den pflegerischen Leistungen ergänzende Leistungen der Eingliederungshilfe entsprechend der aktuell gültigen Leistungs- und Prüfungsvereinbarung erhalte. Die Deckung des personenbezogenen individuellen Eingliederungshilfebedarfs der Klägerin sei damit sichergestellt.
Dagegen wandte sich die Betreuerin der Klägerin mit dem Widerspruch vom 30.09.2020. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass die der Klägerin aktuell gewährten Leistungen nur die Leistungserbringung im Wohnbereich, also im Pflegeheim, umfassten, mit der Antragstellung aber eine Leistungserbringung gerade außerhalb des Wohnumfeldes beantragt worden sei. Der Klägerin fehle nach dem Ausscheiden aus der Schule eine externe Tagesstruktur. Diese könne auch durch die pädagogischen Fachkräfte der Wohngruppe nicht kompensiert werden. Wichtig sei für die Klägerin deshalb ein Wechsel nach außerhalb des Wohnumfeldes, dem die beantragten Leistungen dienen sollten.
Mit Widerspruchsbescheid des Kommunalen Sozialverbandes Mecklenburg-Vorpommern vom 29.03.2021 wies dieser den Widerspruch der Klägerin zurück, weil die Aufgabe der Eingliederungshilfe bei der Klägerin durch die im Pflegeheim erbrachte Tagesbetreuung vollumfänglich erfüllt werde und daneben eine Betreuung in einer Fördergruppe nicht erforderlich sei. Es bestehe zwischen dem Träger des Pflegeheims Michaelshof und dem Kommunalen Sozialverband Mecklenburg-Vorpommern eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung vom 22.02.2019, die aufgrund der geschlossenen Übergangsvereinbarung fortbestehe. Eine externe außerhalb der Einrichtung stattfindende und nicht als Leistung der Einrichtung erbrachte Tagesstruktur komme dabei nicht in Betracht. Die Einrichtung habe die Leistungen individuell für den Bedarf der Leistungsberechtigten zu erbringen.
Mit ihrer Klage vom 29.04.2021 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, dass es für den individuellen Anspruch auf Leistungen zur sozialen Teilhabe nicht darauf ankomme, welche Vereinbarungen zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern bestünden, sondern sich eher Anspruch zunächst grundsätzlich danach richte, ob nach den Besonderheiten des Einzelfalls ein entsprechender Bedarf bestehe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 01.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2021 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für deren Unterbringung und Betreuung in der Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen des Michaelshofs in B-Stadt zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass die Klägerin grundsätzlich zum anspruchsberechtigten Personenkreis der begehrten Leistungen gehöre, dieser Bedarf der Klägerin jedoch durch die gewährten Leistungen bereits gedeckt sei.
Nach der von der Beklagten vorgelegten Leistungs- und Prüfungsvereinbarung über die ergänzende Eingliederungshilfe im Pflegeheim des M... zwischen der evangelischen Stiftung Michaelshof und der Beklagten vom 22.02.2019 gehören zum in der Einrichtung betreuten Personenkreis Menschen mit geistigen, geistigen und mehrfachen Behinderungen im Sinne von
§ 53 SGB XII und der Eingliederungshilfeverordnung, bei denen eine stationäre Versorgung erforderlich ist, die volljährig sind, die infolge der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht an Maßnahmen der beruflichen Förderung und Eingliederung in einer Werkstatt für behinderte Menschen teilnehmen können und die darüber hinaus je nach ihren individuellen Beeinträchtigungen dauerhaft mindestens auf Anleitung und in erheblichem Umfang stellvertretender Ausführung bei der individuellen Basisversorgung einschließlich heilpädagogischer und pflegerische Hilfen, bei der Haushaltsführung, individuellen und sozialen Lebensgestaltung, Kommunikation mit der Umwelt, Freizeitgestaltung, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und auf psychosoziale Hilfen angewiesen sind. Die Zielstellung der Leistung ist die Überwindung oder Milderung der vorhandenen Behinderung
bzw. deren Folgen. Gleichzeitig soll mit der Leistung die Eingliederung in die Gesellschaft und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sichergestellt werden. Diese allgemeine Zielstellung konkretisiert sich bei der Zielgruppe des Angebots in weiteren spezifischen Zielen. Dazu gehört unter anderem, dass die Nutzung externer tagesstrukturierender Angebote zur Beschäftigung oder Ausbildung (wie zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Förderbereich oder Angeboten anderer Anbieter) durch die Leistungsempfängerrinnen möglich ist. Zu Art, Inhalt und Umfang der Leistungen regelt die Vereinbarung, dass die über die pflegerischen Leistungen hinausgehenden Leistungen nach § 53
SGB XII als ergänzende Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen der Personalbemessung im Rahmen einer Maßnahmenpauschale berücksichtigt werden, dass die Heimbewohner über die pflegerischen Hilfen hinaus Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten benötigen, die erforderlich und geeignet sind, eine Menschen mit geistiger Behinderung die für ihn erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und deshalb für alle Bewohner des Schwerstpflegeheims je nach individuellem Bedarf die beispielhaft beschriebenen Leistungen in vielfältiger Kombination erforderlich sind. Nach Ziffer III.3. der Vereinbarung werden die Leistungen auf der Basis des Bedarfsermittlungsverfahrens entsprechend der vereinbarten Teilhabezielplanung einzelfallorientiert geplant, abgestimmt und personenzentriert oder gemeinschaftlich erbracht. Die Leistungen umfassen dabei die Leistungsbereiche Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktion und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben, indirekt personenbezogene Leistungen und nicht personenbezogene Leistungen, deren Inhalt jeweils weiter ausgeführt wird. Im Leistungsbereich Lernen und Wissensanwendung ist unter anderem der Erhalt der Möglichkeit der Teilnahme an tagesstrukturierenden Angeboten (stellvertretende Durchführung der Organisation/Vorbereitung sowie Beteiligung, Motivation der Leistungsempfänger zur Teilnahme) und die Befähigung zum Treffen einfacher Entscheidungen im Tagesablauf wie zum Beispiel die Teilnahme an verschiedenen Tagesangeboten formuliert. Im Leistungsbereich bedeutende Lebensbereiche ist ausdrücklich die Vorbereitung und Vermittlung von tagesstrukturierenden Angeboten wie der Besuch einer Fördergruppe, einer Interessenvereinigung, Gruppenangeboten und anderen angesprochen.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Die Klage hat in vollem Umfang Erfolg. Sie ist sowohl zulässig als auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 01.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Klägerin hat aus
§§ 99 Abs. 1,
90 Abs. 1 und 5,
102 Abs. 1 Nr. 4,
113 Abs. 1 und 2 Nr. 5 und Abs. 3,
81 Sozialgesetzbuch – Neunter Teil (SGB IX) einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe gegen die Beklagte.
Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Leistung folgt aus
§ 98 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Nach dieser Vorschrift ist für die Eingliederungshilfe der Träger der Eingliederungshilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung nach
§ 108 Abs. 1 SGB IX hat oder in den zwei Monaten vor den Leistungen einer Betreuung über Tag und Nacht zuletzt gehabt hatte. Hier hatte die Klägerin bei der ersten Antragstellung am 14.12.2010 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in B-Stadt im Gebiet der Beklagten.
Nach § 99
Abs. 1
SGB IX erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von
§ 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90
SGB IX erfüllt werden kann.
Menschen mit Behinderungen sind nach § 2
Abs. 1 Satz 1
SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 90
Abs. 1
SGB IX, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.
Besondere Aufgabe der sozialen Teilhabe ist es nach § 90
Abs. 5
SGB IX, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern.
Die Leistungen der Eingliederungshilfe umfassen nach § 102
Abs. 1
Nr. 4
SGB IX u.a. Leistungen zur sozialen Teilhabe.
Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden nach § 113
Abs. 1 Satz 1
SGB IX erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 bis 5 des
SGB IX erbracht werden. Hierzu gehört nach § 113
Abs. 1 Satz 2
SGB IX, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind nach § 113
Abs. 2
Nr. 5
SGB IX u.a. insbesondere Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten. Die Leistungen nach § 113
Abs. 2
Nr. 1 bis 8
SGB IX bestimmen sich nach den
§§ 77 bis
84 SGB IX.
Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten werden nach § 81 Satz 1
SGB IX erbracht, um Leistungsberechtigten die für sie erreichbare Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Leistungen sind insbesondere darauf gerichtet, die Leistungsberechtigten in Fördergruppen und Schulungen oder ähnlichen Maßnahmen zur Vornahme lebenspraktischer Handlungen einschließlich hauswirtschaftlicher Tätigkeiten zu befähigen, sie auf die Teilhabe am Arbeitsleben vorzubereiten, ihre Sprache und Kommunikation zu verbessern und sie zu befähigen, sich ohne fremde Hilfe sicher im Verkehr zu bewegen.
Diese Voraussetzungen liegen für die Klägerin vor. Die Klägerin gehört zunächst unstreitig zum leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe. Dies ergibt sich aus der amtsärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. L. vom 04.06.2020.
Dr. L. bestätigt dort, dass die Klägerin wegen des bestehenden frühkindlichen Autismus zum Personenkreis der wesentlich behinderten Menschen im Sinne von § 99
Abs. 1
SGB IX gehört. Zugleich formulierte
Dr. L. dort als vorrangig zu verfolgende Ziele zur Verbesserung der Teilhabe der Klägerin am gesellschaftlichen Leben Tagesstruktur, Aufbau sozialer Kontakte und Förderung von individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten und empfahl ausdrücklich, die Aufnahme der Klägerin in einer Fördergruppe einer Werkstatt für behinderte Menschen ebenso wie das weitere betreute Wohnen auf dem Michaelshof. Danach unterliegt es für die Kammer keinem Zweifel, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90
Abs. 1 und 5
SGB IX bei der Klägerin erfüllt werden kann.
Nach alledem liegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe an die Klägerin vor. Der mögliche Leistungsumfang umfasst nach §§ 102
Abs. 1
Nr. 4, 113
Abs. 1 und
Abs. 2
Nr. 5, 81 Satz 1 und 2
SGB IX auch Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten. Derartige Leistungen können u.a. in Fördergruppen einer Werkstatt für behinderte Menschen im Sinne von
§ 219 Abs. 3 SGB IX erfolgen. Dass derartige Leistungen für die Klägerin erforderlich und geeignet sind ergibt sich aus der amtsärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. L. vom 04.06.2020, der diese Leistungen ausdrücklich empfiehlt.
Der Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Eingliederungshilfe zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten ist auch nicht bereits durch die von der Beklagten gewährten Leistungen der ergänzenden Eingliederungshilfe im Schwerstpflegeheim des M... erfüllt.
Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nach § 90
Abs. 1 Satz 1
SGB IX Aufgabe der Eingliederungshilfe ist, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Zudem definiert § 113
Abs. 1 Satz 2
SGB IX die Leistungen zur sozialen Teilhabe so, dass zur Ermöglichung und Erleichterung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht nur die Befähigung und Unterstützung zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum gehört, sondern diese außerdem auch die Befähigung und Unterstützung zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung in einem über den eigenen Wohnraum hinausgehenden Sozialraum umfasst. In diesem Zusammenhang kann nicht übersehen werden, dass für den weitaus größten Teil der Menschen ohne Behinderung vom Kleinkindalter mit dem Besuch einer Kindertageseinrichtung über das Kinder- und Jugendalter mit dem Besuch der Schule und der Berufsausbildung bis zum Erwachsenenalter mit der Berufsausübung im Sinne einer externen Tagesstruktur ein ganz erheblicher Teil der Lebenszeit außerhalb der eigenen Wohnung verbracht wird und geprägt ist von externen Sozial-, Lern-, Verwirklichungs- und Arbeitsräumen, den darin gestalteten Sozialbeziehungen und den darin erworbenen und angewendeten Kenntnissen und Fertigkeiten. Daraus folgt für die Kammer, dass Menschen mit Behinderung, deren gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft wesentlich auf der behinderungsbedingten Unmöglichkeit der Teilhabe an externer Bildung oder am externen Arbeitsleben beruht und bei denen dies nach der Besonderheit des Einzelfalles (
§ 104 Abs. 1 SGB IX) möglich ist und dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (§ 104
Abs. 2
SGB IX) entspricht, einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe in wesentlichem und regelmäßigem Umfang außerhalb ihrer Wohnung oder ihrer Wohnform haben. Denn nur so kann für Menschen mit Behinderung die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefördert und Benachteiligungen vermieden oder ihnen entgegengewirkt werden. Auch kann Menschen mit Behinderung nur so ein über den eigenen Wohnraum hinausgehenden Sozialraum für eine möglichst selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung erschlossen werden. Dabei wird ein wesentlicher und regelmäßiger Umfang einer solchen externen Tagesstruktur unter Berücksichtigung der Besonderheit des Einzelfalles und orientiert an der Tagesstruktur nichtbehinderter Menschen entsprechenden Alters regelmäßig ohne Vorliegen besonderer Umstände jedenfalls mehrere Stunden an den Tagen von Montag bis Freitag umfassen müssen.
Dies heißt allerdings nicht automatisch, dass eine solche externe Tagesstruktur nur durch eine externe Einrichtung erbracht werden kann. Vielmehr erscheint es durchaus denkbar, dass der für die Leistungserbringung in der Wohnung oder Wohnform des Leistungsberechtigten verantwortliche Leistungserbringer diese so erbringt, dass in wesentlichem und regelmäßigem Umfang externe Sozialräume aufgesucht und die Leistungen der Eingliederungshilfe dort erbracht werden.
Vor diesem Hintergrund ist der Beklagten einzuräumen, dass in dem Falle, in dem sich ein Leistungserbringer eines Pflegeheims oder einer sonstigen Wohnform in der Leistungsvereinbarung nach
§ 125 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX verpflichtet hat, alle im Einzelfall erforderlichen Leistungen der Eingliederungshilfe dem individuellen Bedarf der Leistungsberechtigten entsprechend für die in der Vergütungsvereinbarung nach § 125
Abs. 1
Nr. 2
SGB IX vereinbarte Vergütung zu erbringen, und entsprechende Leistungen der Eingliederungshilfe gewährt worden sind, ein weitergehender Anspruch der Leistungsberechtigten auf eine externe Tagesstruktur in der Regel nicht in Betracht kommt. Dies deshalb nicht, weil der Anspruch der Leistungsberechtigten gegen den Träger der Eingliederungshilfe durch die entsprechende Leistungsgewährung vollumfänglich erfüllt ist. Auch der Umstand einer tatsächlich unzureichenden Leistungserbringung durch den Leistungserbringer rechtfertigt (von hier nicht interessierenden Sonderfällen abgesehen) regelmäßig keinen weitergehenden Anspruch der Leistungsberechtigten. Gegebenenfalls mag insoweit ein Anspruch der Leistungsberechtigten auf heimaufsichtliche Prüfung oder Sanktionierung des Leistungserbringers nach den Vorschriften des Einrichtungenqualitätsgesetz M-V (EQG M-V) bestehen.
Nach diesen Maßstäben ist hier festzustellen, dass das Schwerstpflegeheim des M..., in dem die Klägerin lebt, nach der von der Beklagten vorgelegten aktuell gültigen Leistungs- und Prüfungsvereinbarung über die ergänzende Eingliederungshilfe im Pflegeheim des M... zwischen der evangelischen Stiftung Michaelshof und der Beklagten vom 22.02.2019 gerade nicht regelt, dass der Leistungserbringer alle im Einzelfall erforderlichen Leistungen der Eingliederungshilfe dem individuellen Bedarf der Leistungsberechtigten entsprechend zu erbringen hat.
Nach dem Inhalt der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung gehören zum in der Einrichtung betreuten Personenkreis Menschen mit geistigen, geistigen und mehrfachen Behinderungen, bei denen eine stationäre Versorgung erforderlich ist, die volljährig sind, die infolge der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht an Maßnahmen der beruflichen Förderung und Eingliederung in einer Werkstatt für behinderte Menschen teilnehmen können und die darüber hinaus je nach ihren individuellen Beeinträchtigungen dauerhaft mindestens auf Anleitung und in erheblichem Umfang stellvertretender Ausführung bei der individuellen Basisversorgung einschließlich heilpädagogischer und pflegerische Hilfen, bei der Haushaltsführung, individuellen und sozialen Lebensgestaltung, Kommunikation mit der Umwelt, Freizeitgestaltung, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und auf psychosoziale Hilfen angewiesen sind. Die Zielstellung der Leistung ist die Überwindung oder Milderung der vorhandenen Behinderung
bzw. deren Folgen. Gleichzeitig soll mit der Leistung die Eingliederung in die Gesellschaft und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sichergestellt werden. Diese allgemeine Zielstellung konkretisiert sich bei der Zielgruppe des Angebots in weiteren spezifischen Zielen. Dazu gehört unter anderem, dass die Nutzung externer tagesstrukturierender Angebote zur Beschäftigung oder Ausbildung (wie zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Förderbereich oder Angeboten anderer Anbieter) durch die Leistungsempfängerrinnen möglich ist. Zu Art, Inhalt und Umfang der Leistungen regelt die Vereinbarung, dass die über die pflegerischen Leistungen hinausgehenden Leistungen nach § 53
SGB XII als ergänzende Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen der Personalbemessung im Rahmen einer Maßnahmenpauschale berücksichtigt werden, dass die Heimbewohner über die pflegerischen Hilfen hinaus Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten benötigen, die erforderlich und geeignet sind, eine Menschen mit geistiger Behinderung die für ihn erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und deshalb für alle Bewohner des Schwerstpflegeheims je nach individuellem Bedarf die beispielhaft beschriebenen Leistungen in vielfältiger Kombination erforderlich sind. Nach Ziffer III.3. der Vereinbarung werden die Leistungen auf der Basis des Bedarfsermittlungsverfahrens entsprechend der vereinbarten Teilhabezielplanung einzelfallorientiert geplant, abgestimmt und personenzentriert oder gemeinschaftlich erbracht. Die Leistungen umfassen dabei die Leistungsbereiche Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktion und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben, indirekt personenbezogene Leistungen und nicht personenbezogene Leistungen, deren Inhalt jeweils weiter ausgeführt wird. Im Leistungsbereich Lernen und Wissensanwendung ist unter anderem der Erhalt der Möglichkeit der Teilnahme an tagesstrukturierenden Angeboten (stellvertretende Durchführung der Organisation/Vorbereitung sowie Beteiligung, Motivation der Leistungsempfänger zur Teilnahme) und die Befähigung zum Treffen einfacher Entscheidungen im Tagesablauf wie zum Beispiel die Teilnahme an verschiedenen Tagesangeboten formuliert. Im Leistungsbereich bedeutende Lebensbereiche ist ausdrücklich die Vorbereitung und Vermittlung von tagesstrukturierenden Angeboten wie der Besuch einer Fördergruppe, einer Interessenvereinigung, Gruppenangeboten und anderen angesprochen.
Nach alledem lässt sich die Leistungs- und Prüfungsvereinbarung nach Auffassung der Kammer nicht dahingehend auslegen, dass der Leistungserbringer die Deckung aller Bedarfe an Eingliederungshilfe der leistungsberechtigten Bewohner schuldet. Vielmehr sieht die Leistungsvereinbarung an verschiedenen Stellen die Erbringung von Eingliederungshilfeleistungen durch externe Angebote und Anbieter vor. So wird ausdrücklich die Nutzung externer tagesstrukturierender Angebote zur Beschäftigung oder Ausbildung wie zum Beispiel im Förderbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen durch die Leistungsempfänger als möglich bezeichnet und die Vorbereitung und Vermittlung des Besuchs einer Fördergruppe und anderer externer Angebote angesprochen. Eingliederungshilfeleistungen zur Vorbereitung und Vermittlung einer externen Fördergruppe sind aber nur dann sinnvoll, wenn der Leistungsempfänger im Anschluss eine solche Fördergruppe auch besuchen kann. Soweit die Leistungs- und Prüfungsvereinbarung dahingehend ausgelegt werden würde, dass neben den Eingliederungshilfeleistungen im Schwerstpflegeheim weitere externe tagesstrukturierende Eingliederungshilfeleistungen ausgeschlossen sind, wären die Leistungen zur Vorbereitung und Vermittlung solcher externen Angebote sinnlos. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vertragsparteien der Leistungsvereinbarung von vornherein die Erbringung sinnloser Leistungen vereinbaren wollten.
Es bleibt also festzuhalten, dass das Schwerstpflegeheim des M... nach der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung vom 22.02.2019 nur zur Erbringung von Teilleistungen der Eingliederungshilfe und gerade nicht zur Deckung des vollständigen Eingliederungshilfebedarfs der Bewohner und damit auch der Klägerin verpflichtet ist. Soweit die Beklagte möglicherweise eigentlich etwas anderes vereinbaren wollte, hat dies in der Vereinbarung keinen Niederschlag gefunden.
Schließlich ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Eingliederungshilfe zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten auch nicht durch die tatsächlich im Schwerstpflegeheim des M... erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe erfüllt. Schon in der Widerspruchsbegründung ist für die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass die der Klägerin aktuell gewährten Leistungen nur die Leistungserbringung im Pflegeheim umfassten, mit der Antragstellung aber eine Leistungserbringung gerade außerhalb des Wohnumfeldes begehrt werde. Der Klägerin fehle nach dem Ausscheiden aus der Schule eine externe Tagesstruktur. Diese könne auch durch die pädagogischen Fachkräfte der Wohngruppe nicht kompensiert werden. Hier ist für die Kammer nichts dafür ersichtlich, dass dieser Vortrag unzutreffend sein könnte. Auch die Beklagte hat nichts Konkretes dazu vorgetragen ob, in welcher Form und in welchem Umfang die Klägerin vom Schwerstpflegeheim tatsächlich Eingliederungshilfeleistungen in Form einer regelmäßigen externen Tagesstruktur erhält. Daher geht die Kammer davon aus, dass jedenfalls der ganz überwiegende Teil der der Klägerin erbrachten ergänzenden Eingliederungshilfeleistungen im Schwerstpflegeheim und gerade nicht in externen Sozialräumen erbracht werden.
Die Kammer hat hier schließlich nicht verkannt, dass die Beklagte nach
§ 107 Abs. 2 SGB IX über Art und Maß der Leistungserbringung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat. Dies schließt in der Regel die (Auswahl-)Entscheidung darüber ein, ob die externen tagesstrukturierenden Leistungen der Eingliederungshilfe in der Fördergruppe einer Werkstatt für behinderte Menschen oder einem anderen Angebot erbracht werden und in welcher Fördergruppe oder welchem Angebot sie konkret erbrachte werden.
Regelmäßig ist es Folge des Ermessensspielraums der Verwaltung, dass das Vorliegen eines bestimmten Tatbestands mehrere (mindestens zwei) verschiedene Rechtsfolgen ermöglicht. Führen aber sämtliche anzustellenden Ermessenserwägungen zu einem einzigen ermessensgerechten Ergebnis, so spricht man von Ermessensreduzierung auf Null. Der Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung nach § 39
SGB I erstarkt zu einem Anspruch auf die Leistung (oder zum Verbot, einen dem Ermessen unterliegenden belastenden Verwaltungsakt zu erlassen). Im Gerichtsverfahren ergeht in solchen Fällen kein Bescheidungsurteil, sondern ein Leistungsurteil (Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB I, 3. Aufl., § 39
SGB I (Stand: 15.03.2018), Rn. 49).
So liegt die Sache auch hier. Eine andere ermessengerechte Auswahlentscheidung als die Erbringung der externen tagesstrukturierenden Eingliederungshilfeleistungen in der Fördergruppe der Werkstatt für behinderte Menschen des M... kam hier nicht in Betracht, weil die Klägerin bereits in räumlicher Nähe im Schwerstpflegeheim des M... lebt, die Fördergruppe der Werkstatt des M... aus einem 2019 absolvierten Werkstattpraktikum bereits kennt und die Leistungserbringung dort ihrem Wunsch (§ 104
Abs. 2
SGB IX) entspricht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) und orientiert sich am Obsiegen der Klägerin in der Sache.