Urteil
Kraftfahrzeughilfe für kleinwüchsige Menschen

Gericht:

SG Mainz


Aktenzeichen:

S 1 R 701/13


Urteil vom:

19.11.2015


Pressemitteilung:

(des SG Mainz Nr. 9/2015 v. 08.01.2016)

Das SG Mainz hat entschieden, dass kleinwüchsige Menschen einen Anspruch auf Kraftfahrzeughilfe haben können, wenn sie zur Zurücklegung der Wegstrecken zwischen Wohnung und Arbeitsplatz auf ein Auto angewiesen sind.

Der Kläger verlangte von der beklagten Rentenversicherung einen Zuschuss für die Neuanschaffung eines PKW und dessen behindertengerechten Umbau.

Nach Auffassung des Sozialgericht ist es nicht erforderlich, dass die Behinderung die alleinige Ursache für das Angewiesensein auf ein Auto ist. Die Ursächlichkeit im Rechtssinne entfalle nicht schon deshalb, weil zusätzlich andere Gründe - im vorliegenden Fall eine ungünstige Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln - die Benutzung eines PKW erforderlich machten. Ob auch ein Nichtbehinderter in der gegebenen Situation zur Erreichung seines Arbeitsplatzes auf ein Auto angewiesen sei, stelle daher kein entscheidendes Abgrenzungskriterium dar. Dies ergebe sich unter anderem aus einer Gesetzesauslegung unter Berücksichtigung der Inklusion Behinderter im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Konvention sei zudem bei der Ausübung des dem Leistungsträger in solchen Fällen eingeräumten Ermessens zu berücksichtigen. Daher müsse die beklagte Rentenversicherung dem Kläger einen Zuschuss für die Neuanschaffung eines PKW und den entsprechenden behindertengerechten Umbau gewähren.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Kurzfassung:

Streitig ist, ob der Rentenversicherungsträger einen Zuschuss zu den Kosten für ein Kraftfahrzeug mit behindertengerechter Ausstattung zum Zwecke der beruflichen Rehabilitation leisten muss.

Der 1969 geborene Kläger ist 134 cm groß und hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 mit dem Merkzeichen "G".

Er arbeitet als Pförtner im Drei-Schicht-Dienst an sieben Tagen die Woche. Für die Fahrten zu seiner Arbeitsstelle benötigt er ein Auto. Der Grund hierfür liegt unter anderem darin, dass nachts keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung stehen.

Im Februar 2013 beantragte er daher bei seinem Rentenversicherungsträger (Beklagte) finanzielle Hilfe zur Anschaffung eines Kfz mit Zusatzausstattung.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts holte die Beklagte ein medizinisches Gutachten ein. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass es dem Kläger nicht zumutbar sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Aufgrund seiner geringen Körpergröße habe er Schwierigkeiten aus dem Bus auszusteigen. Er könne die Stufen nicht abwärts gehen, sondern müsse springen.

Dennoch lehnte der Rentenversicherungsträger den Antrag ab. Der Kläger könne trotz bestehender gesundheitlicher Einschränkungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln seinen Arbeitsplatz erreichen. Die schlechte nächtliche Anbindung begründe keinen Anspruch auf Kfz-Hilfe. Vielmehr wäre der Kläger auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung auf ein Auto angewiesen, so dass die Behinderung nicht kausal für den Bedarf sei. Auf das Ergebnis des medizinischen Gutachtens ging die Beklagte nicht ein.

Hiergegen wendete sich der Kläger mit seiner Klage vor dem Sozialgericht (SG) und machte geltend, die Beklagte habe bei ihrer Entscheidung den Sinn und Zweck der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nicht beachtet. Nach Art. 27 und Art. 29 UN-BRK seien Mobilitätshilfen zum Erhalt des Arbeitsplatzes zu treffen. Diese Vorschriften führten zu einer Ermessensreduzierung der Beklagten.

Die Klage hatte teilweise Erfolg,

Das SG stellte zunächst klar, dass dem Kläger grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch den Rentenversicherungsträger gem. §§ 10 ff. SGB VI zustehe.

Es prüfte im Folgenden die besonderen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kraftfahrzeughilfe gem. § 16 SGB VI i.V.m. § 33 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. Abs. 8 Nr. 1 SGB IX und §§ 3, 4 Kraftfahrzeughilfeverordnung (KfzHV). Danach müsse der Kläger infolge seiner Behinderung auf ein Kfz angewiesen sein, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Dieses Erfordernis sah das Gericht als erfüllt an.

Eine Behinderung des Klägers läge in dessen Kleinwuchs begründet. Die geringe Körpergröße entspräche nicht der für das Lebensalter des Klägers typischen Größe. Sie stelle eine längerfristige körperliche Beeinträchtigung dar, die den Kläger an einer gleichberechtigten, gesellschaftlichen Teilhabe hindere. Die Voraussetzungen für eine Behinderung nach der Definition des § 2 SGB IX als auch nach der UN-BRK seien damit erfüllt.

Auch nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen handele es sich bei der Körpergröße des Klägers von 134 cm um eine Behinderung. Danach sei ein GdB zwischen 30 und 40 bei einer Körpergröße zwischen 130 und 140 cm anerkannt.

Der Kläger sei darüber hinaus auf ein Kfz angewiesen, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Ausweislich des Gutachtens der Beklagten sei es ihm nicht zumutbar, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Aufgrund seiner kurzen Beine könne er nicht ordnungsgemäß aus dem Bus aussteigen. Diese Beurteilung habe sich im Termin zur mündlichen Verhandlung nach dem persönlichen Eindruck der Kammer bestätigt.

Schließlich bestehe der Bedarf des Klägers nach der Kfz-Hilfe auch infolge seiner Behinderung.

Zwar sei die schlechte, nächtliche Anbindung der Arbeitsstelle mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ein weiterer Grund für den Bedarf des Klägers. Dies führe jedoch nicht dazu, dass die Behinderung als Ursache quasi verdrängt werde. Es komme vielmehr darauf an, dass die Behinderung allein reiche, den Betroffenen zur Nutzung eines Kfz zu zwingen.

Diese Voraussetzung sah das Gericht aufgrund des von der Beklagten eingeholten Gutachtens als erfüllt an.

Das SG billigte dem Kläger noch keinen Leistungsanspruch zu. Die Gewährung von Kfz-Hilfe liege im Ermessen des zuständigen Leistungsträgers. Die Beklagte könne insbesondere entscheiden, in welchem Umfang sie Kfz-Hilfe gewähre. Der Kläger habe daher nur einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Auch die Berücksichtigung der UN-BRK führe zu keinem anderen Ergebnis. Zwar sei die UN-BRK bei der Auslegung von nationalen Vorschriften zu berücksichtigen, die Einzelheiten ergäben sich aber aus dem jeweils anwendbaren nationalen Recht. Danach bestehe keine Ermessensreduzierung.

Quelle: Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 3/2016

Referenznummer:

R/R6873


Informationsstand: 18.01.2016