Urteil
Kostenübernahme für eine stationäre Pflege

Gericht:

BSG


Aktenzeichen:

B 8 SO 20/18 R


Urteil vom:

05.09.2019


Leitsatz:

Das vom Sozialhilfeträger antragsgemäß eingeleitete Verwaltungsverfahren ist beendet, wenn der Antrag auf Sozialhilfe trotz fortbestehender Notlage zurückgenommen wird, ohne dass der Sozialhilfeträger ermitteln muss, ob der zur Kenntnis gebrachte Bedarf weiterhin besteht.

Rechtsweg:

SG Köln, Urteil vom 13. Mai 2016 - S 27 SO 279/14
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. März 2018 - L 9 SO 344/16

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Im Streit ist (noch) die Zahlung von 17 305,70 Euro für die stationäre Pflege des L, welche die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin nach § 19 Abs 6 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) geltend macht.

Die Klägerin betreibt ein Pflege- und Betreuungszentrum und erbrachte L ab 15.12.2010 bis zu seinem Tod am 20.10.2011 stationäre Pflegeleistungen. Der mit L geschlossene Wohn- und Betreuungsvertrag sah eine Fälligkeit des monatlichen Heimentgelts innerhalb von zehn Tagen nach Rechnungsstellung vor. Die Tochter und die Ehefrau des L beantragten beim Beklagten die Übernahme der Kosten für die stationäre Unterbringung (Anträge vom 28.4.2011 bzw 4.5.2011), nachdem das Heimentgelt für die Monate Januar bis April 2011 abgerechnet worden war (Rechnung vom 20.4.2011). Mit Schreiben vom 17.5.2011 teilte die Ehefrau des L mit, dass sie den "von ihr gestellten Sozialantrag vom 4.5.2011" zurückziehe. Das von der Klägerin für den Heimplatz von L nach dem Gesetz zur Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes Nordrhein-Westfalen (Landespflegegesetz NRW (PfG NRW) vom 19.3.1996 (GVBl NRW 137), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3.5.2005 (GVBl NRW 498)) beantragte Pflegewohngeld (Antrag vom 24.6.2011) versagte der Beklagte wegen fehlender Mitwirkung (bestandskräftiger Bescheid vom 29.11.2011). Den im Januar 2014 gestellten Antrag der Klägerin, die ungedeckten Heimkosten des L in Höhe von 18 435,25 Euro zu übernehmen, lehnte der Beklagte ab, weil der Verstorbene selbst keinen Anspruch auf Sozialhilfe für die Zeit seines Heimaufenthalts gehabt habe. Die Ehefrau des L habe den Sozialhilfeantrag wieder zurückgenommen (Bescheid vom 10.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 20.5.2014).

Während das Sozialgericht (SG) Köln die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 13.5.2016), hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen den Beklagten unter Abänderung des Urteils des SG verurteilt, an die Klägerin 17 305,70 Euro zu zahlen und die Berufung im Übrigen - in Höhe eines Eigenanteils des L - zurückgewiesen (Urteil vom 15.3.2018). Die Klägerin habe gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme offener Heimkosten aus übergegangenem Recht nach § 19 Abs 6 SGB XII. Der Beklagte habe am 28.4.2011 vom Hilfebedarf Kenntnis erlangt. Weder habe die von der Ehefrau des Leistungsberechtigten erklärte Rücknahme des Antrags auf Sozialhilfe zu einem Entfallen der Kenntnis geführt, noch liege ein Verzicht auf Sozialhilfeleistungen vor.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 18 Abs 1 SGB XII. Sozialhilfe setze erst dann ein, wenn der Sozialhilfeträger positive Kenntnis vom Vorliegen der sozialhilferechtlichen Voraussetzungen erlangt habe. Dabei sei auf den Bedarf und nicht auf die zivilrechtliche Fälligkeit des Anspruchs abzustellen. Schon aus diesem Grund komme eine rückwirkende Bewilligung für die Zeit bis 27.4.2011 nicht in Betracht. Außerdem sei der Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe wirksam zurückgenommen worden. Nach einem Verzicht setze die Sozialhilfe erst wieder ein, wenn dem zuständigen Sozialhilfeträger der Wille, Sozialhilfeleistungen wieder in Anspruch nehmen zu wollen, bekannt werde. Dies müsse entsprechend für die Antragsrücknahme gelten.


Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2018 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13. Mai 2016 insgesamt zurückzuweisen.


Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

II.

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Entgegen der Auffassung des LSG führt die Rücknahme des Antrags im Mai 2011 zur Beendigung des mit der Kenntniserlangung im April 2011 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens und damit zum Wegfall der Leistungspflicht des Beklagten gegenüber L, sofern dieser durch seine Ehefrau wirksam vertreten war. Ob dies der Fall war und ob und wann ggf durch den späteren Antrag auf Pflegewohngeld im Juni 2011 der Beklagte erneut Kenntnis vom Bedarfsfall wegen der Hilfe zur Pflege erlangt hat, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht abschließend entscheiden.

Gegenstand des zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) geführten Verfahrens ist der Bescheid vom 10.2.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2014 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte gegenüber der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des L (vgl § 19 Abs 6 SGB XII in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I 3022) die Übernahme ungedeckter Heimpflegekosten in Höhe von 18 435,25 Euro abgelehnt hat (zur zulässigen Klageart im Fall der Sonderrechtsnachfolge vgl nur Bundessozialgericht (BSG) vom 6.12.2018 ‑ B 8 SO 2/17 R ‑ zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 10; BSG vom 8.3.2017 ‑ B 8 SO 20/15 R ‑ SozR 4-3500 § 77 Nr 3 RdNr 13). Nachdem die Klägerin das Urteil des LSG nicht angefochten hat, sind im Streit nur noch Kosten in Höhe von 17 305,70 Euro.

Nach § 19 Abs 6 SGB XII steht der Anspruch der Berechtigten auf Leistungen für Einrichtungen, soweit die Leistung den Berechtigten erbracht worden wäre, nach ihrem Tode demjenigen zu, der die Leistung erbracht oder die Pflege geleistet hat. Wegen des in § 19 Abs 6 SGB XII geregelten gesetzlichen Forderungsübergangs geht ein möglicher Anspruch des verstorbenen L nur insoweit auf die Klägerin über, als dieser vor seinem Tod einen Anspruch auf Leistungen gehabt hätte (vgl nur Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 19 RdNr 50).

Rechtsgrundlage für einen möglichen Anspruch des L kann nur § 19 Abs 3 SGB XII (in der ab 1.1.2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 ‑ BGBl I 453) iVm §§ 61 ff SGB XII (in der zum bis 31.12.2016 geltenden Normfassung des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) vom 28.5.2008 ‑ BGBl I 874; im Folgenden: alte Fassung (aF) -) sein. Danach wird Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit dem Leistungsberechtigten, seinem nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII nicht zuzumuten ist (§ 19 Abs 3 SGB XII). Für die begehrten Leistungen der Hilfe zur stationären Pflege ist der Beklagte als örtlicher Sozialhilfeträger (§ 1 des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (AG-SGB XII NRW) vom 16.12.2004, GVBl NRW 816) mangels landesrechtlicher Zuweisung der sachlichen Zuständigkeit für Leistungen der Hilfe zur Pflege an den überörtlichen Träger nach § 97 Abs 1 und 2 SGB XII sachlich zuständig. Ob er auch als örtlich zuständiger Träger gehandelt hat, kann der Senat nicht abschließend feststellen, weil das LSG zwar § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII als Grundlage für die örtliche Zuständigkeit genannt, jedoch keine Feststellungen zum gewöhnlichen Aufenthalt des L im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung getroffen hat.

Die Sozialhilfe setzt (erst) ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen (§ 18 Abs 1 SGB XII in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I 3022). § 18 Abs 1 SGB XII regelt insoweit die Entstehung des Sozialhilferechtsverhältnisses. Ausreichend ist dabei die Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem, sie braucht sich nicht auf die Höhe der zu erbringenden Leistungen zu beziehen (BSG vom 10.11.2011 ‑ B 8 SO 18/10 R ‑ SozR 4-3500 § 44 Nr 2, RdNr 21). Da die Regelung einen niedrigschwelligen Zugang zur Sozialhilfe sicherstellen soll (BSG vom 2.2.2012 ‑ B 8 SO 5/10 R ‑ SozR 4-3500 § 62 Nr 1, RdNr 18), reicht es für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnis auch aus, wenn eine Notlage über Dritte an den Sozialhilfeträger herangetragen wird (Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 18 RdNr 14; Buchner in Oestreicher/Decker, SGB II/SGB XII, Stand März 2019, § 18 RdNr 12). Die Kenntnis leitet wie in anderen Fällen der Leistungsantrag ein Verwaltungsverfahren ein und löst dann die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers aus, den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufzuklären. Eine entsprechende Kenntnis von der Notlage des L erlangte der Beklagte vorliegend durch die Mitteilung (Antrag) der Tochter am 28.4.2011, dass ihre Eltern die Rechnungen für den Heimaufenthalt des L nicht bezahlen könnten (später ergänzt durch den Antrag der Ehefrau des L am 4.5.2011).

Die spätere Erklärung der Ehefrau des L, den von ihr gestellten Antrag auf Sozialleistungen zurückzuziehen, kann auf Grundlage der bindenden Feststellungen des LSG nicht als Verzicht auf Leistungen iS des § 46 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verstanden werden, der das Erlöschen des Leistungsanspruchs zur Folge hätte (Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Juli 2014, K § 46 RdNr 20; Groth in jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, § 46 RdNr 26). Ein Verzicht kann nur mit Wirkung für die Zukunft wieder beseitigt werden (vgl § 46 Abs 1 Halbsatz 2 SGB I) und bedarf einer einseitigen, empfangsbedürftigen Willenserklärung des Sozialleistungsberechtigten, die zum Schutz vor den Folgen übereilten Handelns schriftlich (§ 46 Abs 1 Halbsatz 1 SGB I) erfolgen muss (Groth in jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, § 46 RdNr 22). Zwar brauchen die Begriffe "Verzicht" oder "verzichten" in der Erklärung nicht enthalten zu sein (Groth aaO, RdNr 22; Hänlein in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl 2019, § 46 SGB I RdNr 3); wegen der einschneidenden Wirkungen des Verzichts - das Erlöschen des Sozialleistungsanspruchs - muss der Verzichtswille jedoch unmissverständlich und unzweifelhaft zum Ausdruck kommen. Bei der Auslegung der Erklärung ist nach den §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht allein an ihrem Wortlaut zu haften. Vielmehr sind alle tatsächlichen Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die dafür von Bedeutung sein können, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war.

Bei der Auslegung von Willenserklärungen ist das BSG dabei an die im Urteil des Berufungsgerichts getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, wenn nicht in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsrügen vorgebracht sind (vgl § 163 SGG; dazu nur BSG vom 27.9.1994 - 10 RAr 1/93 - BSGE 75, 92, 95 f = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 S 46). Das Revisionsgericht darf die Würdigung einer Willenserklärung durch ein Tatsachengericht deshalb nur daraufhin prüfen, ob dieses Gericht auf Grundlage seiner Feststellungen die Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) beachtet und nicht gegen anerkannte Auslegungsgrundsätze, Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verstoßen hat (BSG vom 27.9.1994 ‑ 10 RAr 1/93 ‑ BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 S 47 mwN; Bundesgerichtshof (BGH) vom 13.12.1990 ‑ IX ZR 33/90 ‑ juris RdNr 12 f). Auf Grundlage der Feststellungen des LSG, die die Beteiligten nicht angegriffen haben, ist hier nicht zu beanstanden, dass es dem Schreiben der Ehefrau gerade nicht unmissverständlich und unzweifelhaft entnehmen konnte, dass sämtliche möglichen Leistungsansprüche des L erlöschen sollten, ihr Schreiben sich vielmehr ausschließlich auf den - von ihr s

Auf Grundlage der Feststellungen des LSG enthält das Schreiben vom 17.5.2011 jedoch die eindeutige Aussage, dass Leistungen jedenfalls im Moment nicht gewünscht sind. Zwar liegt darin keine (rückwirkende) Beseitigung der Kenntnis im Sinne einer sog Negativerklärung; denn die Kenntnis leitet (nur) das Verwaltungsverfahren ein, kann aber nicht dadurch rückwirkend entfallen, dass ein Leistungsantrag nicht mehr weiter verfolgt und ein Antrag zurückgenommen wird. Wird ein Antrag auf Leistungen zurückgenommen, endet aber das Verwaltungsverfahren (Roller in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 8 RdNr 10; Palsherm in jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 8 RdNr 43). Der Träger der Sozialhilfe ist im Falle einer ernstlichen, in Kenntnis der ihn dann treffenden Kostenlast ausgesprochenen Weigerung des Leistungsberechtigten, Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht leistungspflichtig (BSG vom 23.8.2013 - B 8 SO 19/12 R - BSGE 114, 161 = SozR 4-5910 § 121 Nr 1, RdNr 27). Es dürfen Niemandem aus Fürsorgegründen ohne besondere gesetzliche Ermächtigung Leistungen aufgedrängt werden (Buchner in Oestreicher/Decker, SGB II/SGB XII, Stand März 2019, § 18 RdNr 22). Die tatsächlich vorhandene Kenntnis des Sozialhilfeträgers bleibt zwar auch nach einer Rücknahmeerklärung bestehen, sie entfaltet nach Beendigung des Verwaltungsverfahrens jedoch keine rechtliche Wirkung mehr (vgl Mrozynski, ZFSH/SGB 2007, 463, 470). Der Sozialhilfeträger muss deshalb weder die Gründe für das Verhalten des Berechtigten feststellen, sofern an der Ernsthaftigkeit der Erklärung keine Zweifel bestehen, noch muss er ermitteln, ob die materielle Rechtslage der Vorstellung des Leistungsberechtigten entspricht, weil seine Motivation aus oben genannten Gründen (keine aufgedrängten Leistungen) irrelevant ist und nicht hinterfragt werden muss.

Ob die Ehefrau für L vorliegend wirksam mit der Antragsrücknahme erklären konnte, dass dieser keine Leistungen in Anspruch nehmen will, kann der Senat aber nicht abschließend entscheiden. Ausgehend von seiner Rechtsauffassung hat das LSG keine Feststellungen dazu getroffen, ob L im Verwaltungsverfahren durch seine Ehefrau wirksam vertreten wurde (vgl § 13 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ‑ Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz ‑ (SGB X)). Diese Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben, wobei L die Erklärung seiner Ehefrau auch dann gegen sich gelten lassen müsste, wenn er nur den Rechtsschein einer Vollmacht gesetzt hat. Die Grundsätze der sog Duldungs- bzw Anscheinsvollmacht gelten entsprechend im Sozialrecht (vgl zur Anscheinsvollmacht: BSG vom 15.11.2016 ‑ B 2 U 19/15 R ‑ SozR 4-2700 § 131 Nr 2 RdNr 15 mwN). Eine Vermutung, wonach Eheleute sich auch ohne ausdrückliche Bevollmächtigung im Verwaltungsverfahren grundsätzlich gegenseitig vertreten, existiert dagegen nicht (vgl BSG vom 15.10.1981 ‑ 5b/5 RJ 90/80 ‑ BSGE 52, 245 = SozR 2200 § 1303 Nr 22; Pitz in jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 13 RdNr 10). Eine § 38 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ‑ Grundsicherung für Arbeitsuchende ‑ (SGB II) vergleichbare Regelung kennt das SGB XII nicht.

Eine Leistungspflicht kann nach einer ggf wirksam erklärten Rücknahme des Antrags durch die Ehefrau des L allerdings dann wieder eintreten, wenn der Sozialhilfeträger neue Hinweise auf eine Notlage erhält. Im Unterschied zum Verzicht iS des § 46 Abs 1 SGB I, der bis zu einem Widerruf das Erlöschen des Sozialleistungsanspruchs bewirkt, kann sich die Kenntnis nach einer Antragsrücknahme aktualisieren. Dies kommt durch eine Erklärung des Leistungsberechtigten, nun doch Leistungen beanspruchen zu wollen, ebenso in Betracht wie auch durch das Bekanntwerden neuer Tatsachen (ggf durch Dritte), die Anlass für weitere Ermittlungen geben. Ein Anspruch wäre dann, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt, bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen wieder entstanden. Liegt eine Rücknahme des Antrags im Mai 2011 vor, wird das LSG zu prüfen haben, ob dem Beklagten durch die Umstände im Zusammenhang mit der Übersendung des Antrags auf Pflegewohngeld und der darin enthaltenen Auskünfte des L und seiner Ehefrau im Juni 2011 erneut solche Tatsachen bekannt geworden sind, die auf einen Hilfebedarf hinweisen, und ob für den Beklagten dadurch Veranlassung bestand, erneut in Ermittlungen einzutreten. Zwar hat die Klägerin als Anspruchsberechtigte (vgl § 9 Abs 2, § 12 PfG NRW) Ansprüche auf Pflegewohngeld nicht weiter verfolgt; dies hat aber keine Auswirkung für das dann vor dem Tod des L faktisch in Gang gesetzte Verwaltungsverfahren wegen möglicher Ansprüche auf Hilfe zur Pflege, das noch nicht abgeschlossen wäre.

Wurde L durch seine Ehefrau bei Erklärung der Rücknahme nicht wirksam vertreten und liegen die übrigen Leistungsvoraussetzungen vor (dazu sogleich), umfasst der Anspruch der Klägerin auch die Heimkosten, die für den Aufenthalt des L von Januar bis April 2011 entstanden sind. Zwar gilt auch für die Hilfe zur Pflege der Grundsatz des § 18 SGB XII, dass keine Hilfe für die Vergangenheit zu leisten ist (Meßling in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 61 RdNr 174). Zeitpunkt des Bedarfsanfalls ist jedoch der Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung des Leistungserbringers (BSG vom 20.9.2012 - B 8 SO 20/11 R - SozR 4-3500 § 19 Nr 4 RdNr 17), die - ausgehend von der Fälligkeitsvereinbarung im Vertrag zwischen der Klägerin und dem L - erst zehn Tage nach Rechnungsstellung vom 20.4.2011 eintritt.

Ob im Übrigen ein Anspruch des L nach §§ 61 ff SGB XII aF bestand, wird das LSG im Einzelnen zu prüfen haben; die Feststellungen insbesondere zu berücksichtigendem Einkommen und Vermögen reichen insoweit für eine abschließende Beurteilung nicht aus. Auch die Höhe der ggf geschuldeten Vergütung kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG zu den Einzelheiten der zwischen L und der Klägerin getroffenen vertraglichen Regelung über die Heimvergütung und der zwischen den Beteiligten geltenden Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nicht überprüfen und damit auch nicht über die Höhe der ungedeckten Heimkosten entscheiden, die den sozialhilferechtlichen Anspruch auf Hilfe zur Pflege bestimmen.

Der Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten ist nicht verjährt (§ 45 Abs 1 SGB I). Er ist auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG auch nicht verwirkt. Die Einwände des Beklagten im Revisionsverfahren, er habe mit der Geltendmachung von Ansprüchen nicht mehr rechnen müssen, wird das LSG erneut von Amts wegen (vgl nur Mrozynski in Mrozynski, SGB I, 5. Aufl 2014, § 45 RdNr 5) insoweit zu überprüfen haben. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets die verspätete Geltendmachung des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl nur BSG vom 13.11.2012 ‑ B 1 KR 24/11 R ‑ BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSG vom 30.7.1997 ‑ 5 RJ 64/95 ‑ juris RdNr 27; BSG vom 29.7.1982 ‑ 10 RAr 11/81 ‑ juris RdNr 15; BSG vom 25.1.1972 ‑ 9 RV 238/71 ‑ juris RdNr 17). Ein "bloßes Nichtstun" als Verwirkungsverhalten reicht regelmäßig nicht aus (BSG vom 1.7.2010 ‑ B 13 R 67/09 R ‑ SozR 4-2400 § 24 Nr 5, RdNr 33). Allein dass die Klägerin mit der Geltendmachung des übergegangenen Anspruchs mehr als drei Jahre gewartet hat, führt danach nicht zu einer Verwirkung des Anspruchs. Auch die Antragsrücknahme durch die Ehefrau reicht für ein Verwirkungsverhalten nicht aus, wenn sich L dieses nicht zurechnen lassen muss oder nach einer wirksamen Antragsrücknahme im Zusammenhang mit dem Antrag auf Pflegewohngeld Umstände bekannt geworden sind, die auf einen Hilfebedarf hinweisen und es deshalb nicht zulassen, auf die Antragsrücknahme auch zukünftig zu vertrauen.

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Referenznummer:

R/R9453


Informationsstand: 26.07.2022