Urteil
Kostenerstattung von Aufwendungen für die Unterbringung in einem Blindenwohnheim

Gericht:

VG Frankfurt/Oder 6. Kammer


Aktenzeichen:

6 K 604/03


Urteil vom:

07.11.2007


Grundlage:

  • BSHG § 100 Abs 1 Nr 1 |
  • BSHG § 39 Abs 1 S 1 |
  • BSHG § 2 Abs 1 |
  • BSHGAG BB § 2 Abs 2 |
  • BSHG § 40 Abs 1 S 3 |
  • BSHGAG BB § 4 Abs 2 S 1

Orientierungssätze:

1. Eine (Eingliederungs-)Hilfegewährung ist dann nach den konkreten Umständen notwendig, wenn ohne die Aufnahme in ein Wohnheim die Hilfeempfängerin nicht die Schule für Blinde und Sehgeschädigte hätte besuchen können.

2. Ein Schulbesuch ist schon deshalb kein "überwiegender" anderer Grund i.S. d. § 100 Abs. 1 S. 1 BSHG, weil die Unterbringung in dem Förderinternat bei wertender Gesamtbetrachtung die dem Schulbesuch gleichrangige Aufgabe hatte, der blinden Hilfeempfängerin Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die ihr später ein Leben in der Gemeinschaft ermöglichen sollten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:

Der Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung seines Bescheides vom 27. August 2001 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 27. Februar 2002 und des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2003 verpflichtet, dem Kläger 19.290,71 Euro Eingliederungshilfekosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 04. April 2003 zu erstatten.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Der Kläger strebt eine Kostenerstattung von Aufwendungen an, die er als Eingliederungshilfe für die Unterbringung einer Schülerin in einem Blindenwohnheim im Jahr 2000 aufgewandt hat.
Die Anfang 1986 geborene blinde P. (nachfolgend: Hilfeempfängerin) zog Mitte 1997 mit ihren Eltern aus B. nach F., einem Ort im Kreisgebiet des Klägers; sie war vorher auf eine B. Schule gegangen. Unter dem 15. Mai 1997 stimmte das Staatliche Schulamt für den Landkreis B. ihrer Umschulung an die Brandenburgische Schule für Blinde und Sehbehinderte K. zu. Die Beschulung sei im Landkreis B. nicht möglich, es sei erforderlich, die Schülerin im Wohnheim unterzubringen.

Der Antrag der Hilfeempfängerin auf Eingliederungshilfe für die Unterbringung in dem der Blindenschule zugeordneten Wohnheim wurde mit Bescheid des Klägers vom 17. Juli 1997 zunächst abgelehnt: Allein die Entfernung zwischen Wohn- und Schulort belege nicht, dass Eingliederungshilfe erforderlich sei. Die Hilfeempfängerin legte hiergegen Widerspruch ein. Innerhalb des Widerspruchsverfahrens übermittelte der Landkreis D. als Träger der Schule dem Kläger zunächst einen Hilfeplan und teilte im März 1998 weiter mit, die Hilfeempfängerin sei in dem Internat (und in der Förderschule), weil eine integrative Beschulung und eine ambulante Förderung an ihrem Wohnort nicht möglich gewesen sei; ambulante spezifische Fachkräfte, insbesondere Trainer für Orientierung, Mobilität und lebenspraktische Fertigkeiten, stünden dort nicht zur Verfügung, außerdem seien auch keine Hilfsmittel vorhanden. Betreuung und Förderung in Schule und Internat seien eine komplexe Maßnahme, alle Kinder und Jugendlichen erhielten im Internat spezielles Training. Mit Bescheid vom 08. April 1998 gewährte der Kläger daraufhin der Hilfeempfängerin "auf den Widerspruch" Eingliederungshilfe für die Unterbringung in dem Internat der Schule für Blinde und Sehbehinderte; das Widerspruchsverfahren wurde offenbar formlos eingestellt.

Im Jahre 2000 wandte der Kläger für die Unterbringung der Hilfeempfängerin in dem Internat in K. (unstreitig) 20.742,70 Euro (40.569,19 DM) auf. Er beantragte eine - rechnerisch unstreitige - Kostenerstattung in Höhe 19.290,71 Euro. Mit Bescheid vom 27. August 2001 setzte der Beklagte den erstattungsfähigen Betrag der gesamten Eingliederungshilfekosten für das Jahr 2000 fest. Dabei blieben u. a. die Internatskosten der Hilfeempfängerin unberücksichtigt; sechs Hilfefälle des Internates K. seien keine Fälle des § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG. Nachdem der Kläger gegen diesen Bescheid wegen verschiedener Hilfefälle Widerspruch eingelegt hatte, änderte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 27. Februar 2002 den Erstattungsbetrag, die das Internat der Blindenschule betreffenden Hilfefälle wurden allerdings weiterhin als nicht erstattungsfähig angesehen. Daraufhin hielt der Kläger seinen Widerspruch ausdrücklich aufrecht, der zunächst nicht beschieden wurde.

Die Hilfeempfängerin wurde im Sommer 2002 im Gesundheitsamt des Klägers zur Prüfung, ob stationärer Hilfe noch erforderlich sei, untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass zur Orientierung außerhalb des Raumes ständige Begleitung, ebenso zur Bewältigung lebenspraktischer Anforderungen eine umfassende Hilfe notwendig sei. Die physisch-psychische Belastung müsse "über den ganzen Tag verteilt" werden; "eine besondere Schulform mit Internatsunterbringung" erfülle diese Anforderungen. Hinweise auf seelische Störungen lassen sich dem Gutachten nicht entnehmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2003 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zwar gehöre die Hilfeempfängerin aufgrund ihrer Blindheit zum Personenkreis, der Eingliederungshilfe erhalten könne. Der sonderpädagogische Betreuungsbedarf zum Ausgleich ihrer behinderungsspezifischen Defizite werde indessen vom Schulträger abgedeckt. Maßnahmen, die darüber hinaus als Eingliederungshilfe notwendig seien, seien nicht nachgewiesen. Allein die Tatsache, dass die Hilfeempfängerin im Internat untergebracht sei, genüge für einen Kostenerstattungsanspruch nicht. Dass die Hilfeempfängerin im Wohnheim wohnen müsse, sei nicht durch ihre Blindheit verursacht, sondern durch das Fehlen einer Förderschule in Wohnortnähe. Der Widerspruchsbescheid wurde am 06. März 2003 zugestellt.

Am 04. April 2003 hat der Kläger Klage erhoben. Die Behinderung müsse keineswegs alleiniger Grund der Unterbringung sein, eine überwiegende Mitursächlichkeit sei ausreichend. Maßgebender, wenn nicht sogar alleiniger Grund der Unterbringung sei die Behinderung der Hilfeempfängerin, nicht jedoch die Entfernung zwischen Wohnort und Schule. Der Sozialbericht des Trägers des Internates der Schule, d. h. des Landrates des Landkreises D., vom 01. Juni 2000 zeige, dass für die Hilfeempfängerin weiteres Mobilitätstraining erforderlich gewesen sei, dieses sei auch im Jahre 2000 fortgeführt worden. Der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG greife nicht, da eine systematische Auslegung ergebe, dass Sozialleistungen in diesem Sinne nur solche seien, die aufgrund des Sozialgesetzbuches bzw. der in § 68 Nr. 1 bis 18 SGB I a. F. einbezogenen Gesetze gewährt würden. Der Besuch einer Förderschule stelle nicht die Gewährung einer Sozialleistung in diesem Sinne dar. Im übrigen habe die Hilfeempfängerin im Internat eine umfassende Begleitung benötigt, und zwar täglich außerhalb der Schulzeit. Selbst das spätere amtsärztliche Gutachten vom 02. Juli 2002 habe noch festgestellt, dass die Hilfeempfängerin Beistand über den gesamten Tag benötigt habe, und zwar sowohl pädagogische Hilfe als auch begleitende Unterstützung in lebenspraktischen Anforderungen. Eine entsprechende ambulante Förderung in F. am Wohnort der im Jahre 2000 ja erst 14- jährigen Hilfeempfängerin sei nicht möglich gewesen. Nicht einmal Leiteinrichtungen wie akustische Ampeln existierten dort. Ziel der Eingliederungshilfe sei nicht zuletzt, die Isolation blinder Kinder zu verhindern oder zu beheben. Dies sei nur bei Internatsunterbringung möglich.


Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 27. August 2001 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 27. Februar 2002 und des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2003 zu verpflichten, ihm 19.290,79 Euro Eingliederungshilfekosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 04. April 2003 zu erstatten.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ein eventueller behinderungsbedingter Bedarf habe jedenfalls nicht den Umfang gehabt, der eine vollstationäre Unterbringung rechtfertigen würde; ambulante Maßnahmen reichten hier. Das Mobilitätstraining, das 1998 einen Umfang von ca. 5 Stunden pro Monat gehabt habe, sei 1999 eingestellt worden; ob es 2000 wieder aufgenommen worden sei, sei nicht bekannt. Weitere behinderungsspezifische Maßnahmen mit der Hilfeempfängerin im Internat seien nicht ersichtlich. Obendrein habe der Kläger bei der Leistungsgewährung nicht den Nachranggrundsatz des Sozialhilferechtes beachtet. Denn der Schulträger sei vorrangig für die Unterbringung und Betreuung der Hilfeempfängerin zuständig. Gemäß § 99 Abs. 2 Satz 3 Brandenburgisches Schulgesetz (BbgSchulG) solle der Schulträger ein Wohnheim oder ein Internat bereitstellen, wenn die Schule von Schülerinnen und Schülern besucht werde, denen eine tägliche Anreise nicht zugemutet werden könne und dafür ein Bedürfnis bestehe. Hinzu komme, dass die Landkreise - und damit der Kläger - Träger der Schülerbeförderung seien. Deshalb sei der Kläger selbst für die Beförderung der Hilfeempfängerin an den "An- und Abreisetagen" zuständig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte des Verfahrens 6 K 1069/03 und der von den Beteiligten zu beiden Verfahren eingereichten Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Erstattung der im Haushaltsjahr 2000 angefallenen Kosten des Hilfefalles P.. Der Bescheid des Beklagten vom 27. August 2001, der Änderungsbescheid vom 27. Februar 2002 und sein Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2003 sind rechtswidrig, soweit sie diesen Anspruch ablehnen, §§ 113 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Anspruch folgt aus § 4 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AG-BSHG). Danach erstattet das Land den Landkreisen und kreisfreien Städten zum Ausgleich der Kosten, die durch die Aufgabenübertragung nach § 2 Abs. 2 AG-BSHG entstehen, die angemessenen und notwendigen Kosten bzw. - für das 2. Halbjahr 2000 - 93 vom Hundert der Nettoausgaben der örtlichen Träger der Sozialhilfe. Durch § 2 Abs. 2 AG-BSHG sind den örtlichen Trägern der Sozialhilfe die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) übertragen worden, d. h. die Aufgaben der stationären und teilstationären Eingliederungshilfe. Der Kostenerstattungsanspruch setzt weiter voraus, dass die stationäre oder teilstationäre Eingliederungshilfe rechtmäßig erfolgte; Kosten rechtswidriger Hilfegewährung sind nicht "durch" die Übertragung entstanden, sondern Folge eigener unzulänglicher Verwaltungstätigkeit.

Die Erstattungsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Kosten, die der Kläger geltend macht, sind ihm durch die Aufgabenübertragung entstanden. Er hat der Hilfeempfängerin mit Bescheid vom 08. April 1998 rechtmäßig Eingliederungshilfe im Sinne des § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG gewährt. Ohne die Aufgabenübertragung hätte der Beklagte die Kosten, die der Höhe nach zwischen den Beteiligten nicht streitig sind, als überörtlicher Träger selbst tragen müssen.

1. a) Die Hilfeempfängerin gehörte im maßgeblichen Zeitraum als nicht nur vorübergehend körperlich wesentlich behindertes Kind zum Personenkreis des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Auf die außerschulische Förderung und Betreuung im Internat hatte sie Anspruch auf Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG a. F.), aber auch Anspruch auf Allgemeine Ausbildungshilfe für behinderte Menschen nach § 16 Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV).

b) Es war auch erforderlich, die Hilfeempfängerin ganztägig in der Wohnstätte unterzubringen. Erforderlich ist eine stationäre Unterbringung stets dann, wenn die Behinderung oder das Leiden und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen eine Heimunterbringung gebieten. Der unbestimmte Rechtsbegriff "erforderlich" ist stets im Sinne von "notwendig" zu gebrauchen.

vgl. Schellhorn, BSHG-Kommentar, 16. Aufl., § 100 Rn. 26.

Nach diesen Maßstäben war die Hilfegewährung nach den konkreten Umständen notwendig. Denn ohne die Aufnahme in das Wohnheim hätte die Hilfeempfängerin nicht die Schule für Blinde und Sehgeschädigte besuchen können. Es war auch gerade die Behinderung der Hilfeempfängerin, wegen derer sie nicht an ihrem Wohnort zur Schule gehen konnte. Auch der weitere Hilfebedarf auf die Allgemeine Ausbildungshilfe für behinderte Menschen nach § 16 EinglHV ist nachgewiesen. Wenn der Beklagte einwendet, bei unterstellter wohnortnaher Beschulung der Hilfeempfängerin wäre eine ambulante Hilfe in ihrem Heimatort ausreichend gewesen, verkennt er, dass fiktive Vergleichsbetrachtungen in diesem Zusammenhang nicht statthaft sind. Hypothetische Fragen "Was wäre, wenn." - etwa: Was wäre, wenn es eine geeignete Schule am Wohnort gäbe oder was wäre, wenn der Hilfeempfänger näher am Schulort wohnte? - sind unzulässig,

vgl. Schellhorn, BSHG-Kommentar, 16. Aufl., § 100 Rn. 21 m. N. auf höchstrichterliche Rechtsprechung.

c) "Überwiegend andere Gründe" i. S. d. § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, die zu der Hilfegewährung in der Einrichtung geführt haben, sind nicht ersichtlich. Primär erzieherischer Bedarf wird im hier streitgegenständlichen Zeitraum in keiner der aufgeführten Unterlagen genannt, er ist auch sonst nicht zu erkennen. Die Sicherung des Schulbesuches, die nach Ansicht des Beklagten im Vordergrund der Hilfegewährung stand, dürfte von vornherein kein "anderer" Grund sein, denn § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG a. F. beinhaltet gerade die Hilfe zur schulischen Ausbildung. Jedenfalls war der Schulbesuch schon deshalb kein "überwiegender" anderer Grund i. S. d. § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, weil die Unterbringung in dem Förderinternat bei wertender Gesamtbetrachtung die dem Schulbesuch gleichrangige Aufgabe hatte, der blinden bzw. sehbehinderten Hilfeempfängerin Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die ihr später ein eigenständiges Leben in der Gemeinschaft möglich machen sollten. Es ging bei der Gewährung von Eingliederungshilfe nicht darum, der Hilfeempfängerin irgendeine Bleibe in K. zu verschaffen und so den Schulbesuch zu sichern. Ziel war auch, ihr als Insassin des Blindenwohnheims - unabhängig von der Schule - durch Hilfe in der alltäglichen Lebensführung, bei dem Gestalten sozialer Beziehungen, der Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, bei Kommunikation und Orientierung zu fördern und aktivieren, wie aus dem Entwicklungs- und Sozialbericht vom 01. Juni 2000 im einzelnen hervorgeht. Die Hilfeempfängerin sollte etwa lernen, ihren Haushalt soweit wie möglich unabhängig von fremder Hilfe besorgen zu können - Hilfe i. S. § 16 Nr. 3 EinglHV - oder sich ohne fremde Hilfe sicher im Verkehr bewegen zu können (s. § 16 Nr. 4 EinglHV). Zuvor hatte der Hilfeplan für die Hilfeempfängerin vom 03. Februar 1998 dargestellt, dass die Hilfeempfängerin in der Wohnstätte in allen Bereichen des Alltages gefördert werden sollte: etwa bei der Auswahl der täglichen Kleidung, beim Zusammenlegen von Kleidungsstücken, bei kleiner Handwäsche, beim Essen mit Messer und Gabel, bei der Zubereitung einfacher Speisen mit Hilfe des Erziehers, bei der Handhabung verschiedener technischer Geräte, beim selbständigen Decken und Abräumen des Tisches etc. Da die Konzeption des Blindenwohnheims generell auf Förderung und Aktivierung der Eingliederungshilfeberechtigten ausgerichtet war - ohne eine solche Ausrichtung wäre das Internat im übrigen schon keine Einrichtung im Sinne des § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG - kommt es auch regelmäßig nicht darauf an, ob bzw. in welchem Umfang die Bewohner zusätzlich speziellen Förderbedarf aufweisen oder welcher Hilfebedarfsgruppe sie zuzuordnen sind. Allenfalls dann, wenn - anders als hier - ein blinder Schüler alle lebenspraktischen Fertigkeiten, die im Internat vermittelt werden, bereits sicher beherrscht, wäre sein Aufenthalt in dem Blindenwohnheim überwiegend aus anderen Gründen, nämlich schulischen Gründen, erforderlich. In einem solchen Fall könnte der Schüler grundsätzlich auch außerhalb des Blindenwohnheims, etwa in einer Pension oder einem möblierten Zimmer, untergebracht werden.

2. Der Einwand des Beklagten, die verfügte Hilfegewährung sei rechtswidrig gewesen, weil der Kläger gegen den Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG verstoßen habe, geht fehl.

a) Der Schulträger war nach § 99 Abs. 2 Satz 3 BbgSchulG schon deshalb nicht vorrangig in Anspruch zu nehmen, weil sich aus der genannten Bestimmung kein Anspruch auf Unterbringung in einem integrierten Förderwohnheim ergibt. Wohnheime i. S. d. § 99 Abs. 2 BbgSchulG sollen allein die Unterbringung der Schüler sichern. Die Blindenwohnstätte, die der Hilfeempfänger seinerzeit bewohnte, war, wie dargestellt, kein solches Wohnheim. Nach § 99 Abs. 2 Satz 3 BbgSchulG soll der Schulträger ein Wohnheim oder ein Internat bereitstellen, wenn eine Schule von Schülern und Schülerinnen besucht wird, denen eine tägliche Anreise nicht zugemutet werden kann, wenn dafür ein Bedürfnis besteht, insbesondere in den ländlichen, dünn besiedelten Gebieten und bei Schulen mit landesweiter Bedeutung. Der Anspruch ist nicht auf Unterbringung in einem Wohnheim mit zusätzlicher, integrierter Förderung gleich welcher Art gerichtet. Dies gibt schon der Wortlaut des Gesetzes nicht her. Er vermittelt allen Schülern allenfalls Anspruch auf reine Unterbringung (und ggf. Beaufsichtigung) . Dass der Gesetzgeber schulrechtlich Eingliederungshilfeberechtigte nicht zusätzlich begünstigen wollte, lässt sich auch unschwer aus dem bestehenden sozialhilferechtlichen Anspruch auf Eingliederungshilfe erklären, der den Behinderten zur Seite steht. Eine gesetzessystematische Auslegung bestätigt dieses Ergebnis. Die Kostenbeteiligung der Internatsunterbringung, die in § 114 Abs. 4 BbgSchulG geregelt ist, sieht in § 114 Abs. 4 Satz 4 BbgSchulG einen ermäßigten Satz für Spezialschulinternate vor, nicht aber für Behindertenwohnheime. Wären Behindertenwohnheime Internate im Sinne des Schulrechts, dann sollte schon wegen des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbotes (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz) zu erwarten sein, dass die behinderten Insassen in den Genuss ermäßigter Wohnheimplätze kommen.

b) Im übrigen ist ein Verstoß gegen den Nachranggrundsatz schon deswegen nicht zu verzeichnen, weil andere Hilfen - etwa vom Schulträger finanzierte Unterbringung - jedenfalls tatsächlich nicht gewährt wurden; der Frage, ob sich aus § 99 Abs. 2 Satz 3 BbgSchulG überhaupt subjektiv-öffentliche Rechte des einzelnen Schülers und/oder der Eltern herleiten lassen oder ob es sich nicht vielmehr um eine objektive Organisationsvorschrift handelt, muss deshalb an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Denn nur bereite Mittel hätte die Klägerin dem Hilfeempfänger seinerzeit entgegen halten können. Es kommt nicht entscheidend darauf, ob der Hilfesuchende einen Rechtsanspruch gegen einen Dritten hat, sondern darauf, ob er die benötigte Hilfe auch tatsächlich erhält oder erhalten kann, der - vermeintliche - Anspruch gegen den Dritten also rechtzeitig realisiert werden kann,

vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. September 2003 - 5 B 259.02 -, Juris, m. w. N.

Bereite Mittel in diesem Sinne standen hier nicht zur Verfügung. Denn Schulträger und Schule haben seinerzeit eindeutig zu erkennen gegeben, dass ihrer Ansicht nach die Hilfeempfängerin einen schulrechtlichen Anspruch auf Unterbringung nicht habe und sie ausschließlich über Eingliederungshilfe zu einem Förderwohnheimplatz gelangen könne. So teilte die Schule in K. den Eltern der Hilfeempfängerin im Mai 1997 mit, es sei dringend erforderlich, dass schnellstens Eingliederungshilfe beantragt werde, falls der zuständige Sozialhilfeträger die Eingliederungshilfe ablehnte, sollten sie "nicht nachgeben" (!), erst wenn "diese" Kostenübernahme - d. h. die Kostenübernahme nach Eingliederungshilferecht - im Internat vorliege, könne P. in das Wohnheim aufgenommen werden. Entsprechende Äußerungen des Schulträgers aus demselben Zeitraum, in denen dieser strikt und unmissverständlich ablehnt, blinde und sehschwache Schüler in dem Blindenwohnheim aufzunehmen, wenn nicht eine Kostenübernahmeerklärung des örtlichen Sozialhilfeträgers nach Eingliederungshilferecht vorliegt, sind der Kammer aus anderen Verfahren bekannt. Dem sehgeschädigten Hilfeempfänger war es angesichts dieser Sachlage nicht zuzumuten, nur wenige Wochen vor Schuljahresbeginn die zumindest zweifelhafte und letztlich ungeklärte behördliche Zuständigkeit für die Internatskosten mit Hilfe der Gerichte klären zu müssen.

3. Der Anspruch auf Prozesszinsen folgt aus § 291 Satz 1 BGB. Die Vorschrift ist im öffentlichen Recht entsprechend anwendbar, wenn das einschlägige Fachgesetz keine gegenteilige Regelung enthält. Wird nicht unmittelbar auf Leistung des Geldbetrages geklagt, sondern mittels der Verpflichtungsklage auf Erlass eines Verwaltungsakts, der seinerseits die Auszahlung eines Geldbetrages anordnet, können Prozesszinsen verlangt werden, wenn der Kläger, wie vorliegend, einen Verwaltungsakt anstrebt, der die Zahlung unmittelbar auslöst,

vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1973 - BVerwG 7 C 21.72 -, Buchholz 451.80 Nr.19; zuletzt Beschluss vom 9. Februar 2005 - 6 B 80.04 -, Juris.

Der Zinsanspruch besteht ab Rechtshängigkeit, auch wenn der Kläger seinen Antrag erst im Laufe des Verfahrens beziffert hat. Denn rechnerisch konnte die Geldforderung von vornherein ohne weiteres und unzweifelhaft ermittelt werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 19.290,71 Euro festgesetzt.

Gründe:

Der Streitwert ist festzusetzen, denn das Verfahren ist nicht gerichtskostenfrei, § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO i. V. m. § 194 Abs. 5 VwGO. Der festgesetzte Betrag beruht auf § 72 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i. V. m. § 13 Abs. 2 GKG alte Fassung.

Referenznummer:

R/R3208


Informationsstand: 02.09.2009