Urteil
Anspruch auf Leistungen wegen außergewöhnlicher Belastungen trotz gleichzeitiger Kündigung wegen Betriebsübergang

Gericht:

VGH Hessen 10. Senat


Aktenzeichen:

10 UE 3117/03


Urteil vom:

23.11.2004


Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 1. November 2001 - 6 E 584/01 (3) - geändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 4. Dezember 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. Februar 2001 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 30. Juni 2001 monatliche Geldleistungen wegen der Beschäftigung des Schwerbehinderten G. D. zu gewähren, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

In ihrem weitergehenden Inhalt wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, so dass es insoweit bei der Abweisung der Klage bleibt.

Die Klägerin und der Beklagten haben jeweils die Hälfte der Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der außergerichtlichen Kosten der Beteiligten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, falls nicht der Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin will mit ihrer Klage erreichen, dass der Beklagte als HauptfürsorgesteIle (jetzt:Integrationsamt) verpflichtet wird, ihr als Arbeitgeberin aufgrund des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) monatliche Geldleistungen für die Beschäftigung eines gehörlosen Schwerbehinderten zu gewähren. Solche Geldleistungen hatte sie viele Jahre lang erhalten. Zuletzt hatte der Beklagte diese mit Bescheid vom 3. Dezember 1999 für die Zeit bis 30. November 2000 bewilligt, und zwar in Höhe von 1.050,00 DM monatlich.

Die Klägerin unterhält einen Fliesenverlegebetrieb, in dem der gehörlose G. D. als Fliesenleger tätig war. Aufgrund der Gehörlosigkeit des Arbeitnehmers, der keine Fahrerlaubnis besaß, ergab sich für den Arbeitgeber ein erhöhter Betreuungsaufwand. Der Arbeitnehmer und sein Arbeitsmaterial mussten zu den Baustellen und wieder zurück transportiert werden. Die Einweisungszeiten auf den Baustellen waren deutlich länger als bei den nicht behinderten Arbeitskollegen.

Mit einem Schreiben, das am 1. November 2000 bei dem Beklagten einging, beantragte die Klägerin, ihr weiterhin (ab 1. Dezember 2000) die monatlichen Geldleistungen in Höhe von 1.050,00 DM für die Beschäftigung des Schwerbehinderten G. D. zu gewähren.

Mit einem weiteren Schreiben, das am 14. November 2000 bei dem Beklagten einging, beantragte die Klägerin, der Kündigung des Schwerbehinderten zum 30. Juni 2001 zuzustimmen. Sie gab an, der Grund für die Kündigung liege in der "Betriebsaufgabe aus Altersgründen".

Mit Bescheid vom 23. November 2000 stimmte der Beklagte der beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2001 zu.

Mit einem weiteren Bescheid vom 4. Dezember 2000 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der monatlichen Leistungen in Höhe von
1.050,00 DM ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus: Das Ziel der beantragten Geldleistungen sei es, den Erhalt des Arbeitsplatzes des Schwerbehinderten langfristig zu sichern. Nach den behördlichen Richtlinien entfielen die Voraussetzungen für diese Leistungen, wenn ein Antrag auf Zustimmung zur Kündigung gestellt werde.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 7. Dezember 2000 Widerspruch ein. Sie machte geltend, die wirtschaftlichen Belastungen, die ihr durch die personellen Hilfen für den schwerbehinderten Arbeitnehmer entstünden, bestünden trotz der Kündigung fort. Es bestehe deshalb kein Grund, die Geldleistungen einzustellen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2001 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Er wiederholte und vertiefte die Erwägungen aus dem Bescheid vom 4. Dezember 2000.

Daraufhin hat die Klägerin am 12. März 2001 bei dem Verwaltungsgericht Darmstadt Klage erhoben. Sie hat ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Ergänzend hat sie vorgetragen, ihr Geschäftsführer habe zum 30. Juni 2001 seine Geschäftsanteile an Herrn K. B. verkauft. Dieser führe als neuer Geschäftsführer den Betrieb fort.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 4. Dezember 2000 und den Widerspruchsbescheid derselben Behörde vom 14. Februar 2001 aufzuheben und den Beklagten
zu verpflichten, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis zum 30. Juni 2001 einen monatlichen Zuschuss von 1.050,00 DM wegen der Beschäftigung des schwerbehinderten G. D zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch er hat seinen Antrag begründet.

Mit Urteil vom 1. November 2001 hat das Verwaltungsgericht nach mündlicher Verhandlung die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem
ausgeführt: Die Klage sei unbegründet. Der Beklagte habe es ohne Ermessensfehler abgelehnt, einen Zuschuss zur Abgeltung außergewöhnlicher Belastungen gemäß § 27 der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) zu gewähren. Es sei nicht zu beanstanden, dass unter Ziffer 7 der "Richtlinien für die Gewährung von Hilfen an Arbeitgeber zur Abgeltung außergewöhnlicher Belastungen nach § 31 Abs. 3 Nr. 23 b) ...SchwbG...", die das Hessische Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung am 19. November 1998 erlassen habe, bestimmt sei, dass die Leistungsvoraussetzungen in der Regel vom Monat nach Eingang eines Antrages auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses entfielen. Wie der Beklagte zutreffend dargestellt habe, bezwecke der streitige Zuschuss die Chancen von Schwerbehinderten, einen Arbeitsplatz zu bekommen und auch zu behalten. Die Erfüllung dieses Zweckes sei voraussichtlich nicht mehr möglich, wenn der Arbeitgeber den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses stelle.

Gegen dieses Urteil, das ihr am 17. Januar 2002 zugestellt worden ist, hat die Klägerin sich am 14. Februar 2002 mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung
gewandt. Diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 11. November 2003 - 10 ZU 477/02 - entsprochen.

Nachdem ihr dieser Beschluss am 20. November 2w003 zugestellt worden war, hat die Klägerin am 17. Dezember 2003 die Berufung begründet.

Sie macht geltend: Die Geldleistungen des Beklagten, die sie bis Ende November 2000 erhalten habe, seien weiterhin nötig gewesen, und zwar für Hilfeleistungen,
die erforderlich gewesen seien, damit der schwerbehinderte Arbeitnehmer die Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsvertrag hätte erbringen können. Es sei darum gegangen, den Bestand des Arbeitsverhältnisses vor seinem Ende am 30. Juni 2001 nicht zu gefährden. Dem schwerbehinderten Arbeitnehmer sei angeboten worden, unter dem neuen Geschäftsführer ab 1. Juli 2001 bei ihr weiterzuarbeiten. Dies habe er aber abgelehnt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 1. November 2001 - 6 E 584/01 (3) - zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 4. Dezember 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. Februar 2001 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 30. Juni 2001 einen monatlichen Zuschuss in Höhe von 1.050,00 DM (= 536,86 EUR) wegen der Beschäftigung des Schwerbehinderten G. D. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend: Die Geldleistungen, die im vorliegenden Verfahren im Streit stünden, seien im Abschnitt "Begleitende Hilfen im Arbeitsleben" geregelt. Dabei gehe es darum, dass der Arbeitnehmer unter anderem durch Maßnahmen der Arbeitgeber befähigt werde, sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit nicht behinderten Menschen zu behaupten. Damit werde an die allgemeine Zielsetzung des Schwerbehindertenrechts angeknüpft, Schwerbehinderte dauerhaft und nachhaltig in das Arbeitsleben einzugliedern. Die Ermessensvorschrift des § 27 SchwbAV sei so anzuwenden, wie es dem Zweck ihrer gesetzlichen Ermächtigung entspreche, also zur Verwirklichung einer dauerhaften und nachhaltigen Eingliederung in das Arbeitsleben. Ein in Kündigung befindliches Arbeitsverhältnis erfülle diese Voraussetzungen nicht. Zwar müsse der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiterbeschäftigen, dies geschehe jedoch nicht auf dem Hintergrund der anzustrebenden Eingliederung, sondern allein deshalb, weil der Arbeitgeber zur Wahrung der Schutzrechte des Arbeitnehmers eine Kündigungsfrist einhalten müsse.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt, dass der Senat ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheidet.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten,das angefochtene Urteil und den Inhalt der beigezogenen Behördenakte des Beklagten (2 Hefte).

Rechtsweg:

VG Darmstadt, Urteil vom 1. November 2001 - 6 E 584/01 (3)

Quelle:

Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH)

Entscheidungsgründe:

Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden.

Die Berufung der Klägerin, die der Senat zugelassen hat und die rechtzeitig begründet worden ist, ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist teilweise begründet. Denn die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über ihren Antrag auf Geldleistungen für den Zeitraum von Dezember 2000 bis Juni 2001 erneut entscheidet, und zwar unter Beachtung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts.

Die Rechtsgrundlage für diesen Anspruch der Klägerin bildet die Vorschrift des § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 b des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) in der Fassung, in der sie in der Zeit von November 2000 bis zum 30. Juni 2001 galt, in Verbindung mit § 27 der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) in der entsprechenden Fassung. Das Schwerbehindertengesetz ist hier in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGB!. I S. 1421, 1550), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29. September 2000 (BGBl. I S. 1394), anzuwenden,Während die Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung vom 28. März 1988 (BGB!. I S. 484) mit der letzten Änderung durch Artikel 5 des genannten Gesetzes vom 29. September 2000 anzuwenden ist.

Nach diesen Bestimmungen kann die Hauptfürsorgestelle Geldleistungen an Arbeitgeber erbringen, und zwar für "außergewöhnliche Belastungen, die mit der Beschäftigung Schwerbehinderter verbunden sind, vor allem, wenn ohne diese Leistungen das Beschäftigungsverhältnis gefährdet würde".

Die Voraussetzungen für Geldleistungen nach diesen Vorschriften sind entgegen der Ansicht des Beklagten und des Verwaltungsgerichts auch für den hier allein streitigen Zeitraum von Dezember 2000 bis Ende Juni 2001 erfüllt. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Geldleistungen, die der Beklagte aufgrund dieser Vorschriften für den Zeitraum bis November 2000 gewährt hatte, deckten die Kosten ab, die der Klägerin für Hilfeleistungen entstanden, die nötig waren, damit der schwerbehinderte Arbeitnehmer G. D. die Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsvertrag erbringen konnte. Wenn diese Hilfeleistungen wegfielen, war der Schwerbehinderte nicht mehr in der Lage, die vertragliche Arbeitsleistung zu erbringen. Dies konnte eine außerordentliche Kündigung zu einem Zeitpunkt vor dem 30. Juni 2001 rechtfertigen. Daher waren die Geldleistungen des Beklagten auch nach Ablauf des Monats November 2000, in dem die Klägerin
sich entschlossen hatte, das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2001 zu kündigen, noch nötig, um den Bestand des Beschäftigungsverhältnisses des Schwerbehinderten nicht zu gefährden. Damit war der Zweck der Geldleistungen, wie er in § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 b SchwbG und § 27 Abs. 1 SchwbAV bestimmt ist, weiterhin gegeben. Ohne die Geldleistungen war das Beschäftigungsverhältnis "gefährdet".

Andererseits ist zu beachten, dass es in den genannten Bestimmungen heißt, dass die HauptfürsorgesteIle die Leistungen erbringen "kann". Die Leistungen sind damit in das Ermessen der Behörde gestellt. Dieses Ermessen ist entsprechend der Ermächtigung auszuüben.

Soweit der Beklagte die gesetzliche Ermächtigung dahin versteht, dass nur eine dauerhafte Eingliederung in das Arbeitsleben zu fördern sei, ist dem nicht zu folgen. Denn in § 31 Abs. 2 Satz 3 SchwbG (in der ab dem 1. Oktober 2000 geltenden Fassung des Gesetzes vom 29. September 2000) war ausdrücklich bestimmt, das als (förderungsfähige) Arbeitsplätze auch Stellen gelten, auf denen Schwerbehinderte befristet beschäftigt werden. Das Arbeitsverhältnis des Schwerbehinderten G. D. ist in dem Zeitraum von Dezember
2000 bis Juni 2001 vom Förderungszweck des § 31 SchwbG her gesehen nicht schlechter zu behandeln als ein befristetes Arbeitsverhältnis.

Soweit es in den Richtlinien des Hessischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Sozialordnung vom 19. November 1998 (Staatsanzeiger 1998 S. 3873 f.) unter Ziffer 7 heißt, dass die Leistungsvoraussetzungen in der Regel entfallen, wenn der Arbeitgeber einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Schwerbehinderten gestellt hat, trägt dies der neuen Fassung des § 31 Abs. 2 Satz 3 SchwbG nicht Rechnung.

Bei dieser Sicht ist ein Grund für eine vollständige Versagung der Geldleistungen für die Zeit von Dezember 2000 bis Juni 2001 nicht gegeben. Doch bleibt der Beklagte berechtigt, in Rahmen seiner Ermessensentscheidung darüber zu befinden, ob die außergewöhnliche
Belastung des Arbeitgebers voll nach dem vom Arbeitgeber angesetzten Stundenlohn der Hilfsperson oder in Pauschalbeträgen von höchstens 40,00 DM pro Stunde entsprechend Ziffer 4.3 der genannten Richtlinien von 19. November 1998 abgedeckt wird.

Daher kann der Beklagte nicht verpflichtet werden, die zuvor gewährten Leistungen in Höhe von monatlich 1.050,00 DM weiter zu gewähren. Vielmehr ist er lediglich zu verpflichten, über den Leistungsantrag der Klägerin vom 31. Oktober 2000 unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Berufungsgerichts neu zu entscheiden. Da der Antrag der Klägerin darüber hinausgeht, ist er im Übrigen zurückzuweisen.

Nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten erscheint es nach § 155 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angemessen, dass die Beteiligten jeweils die Hälfte der Kosten des gesamten Verfahrens tragen. Gerichtskosten werden
nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 und § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO sind nicht erfüllt. Insbesondere scheidet eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus, da die Anwendung von auslaufendem Recht im Streit steht.

Referenznummer:

R/RBIH6809


Informationsstand: 05.08.2015