Urteil
Streit um Rente wegen Erwerbsminderung
Gericht:
LSG Hamburg 3. Senat
Aktenzeichen:
L 3 R 100/18
Urteil vom:
13.07.2020
LSG Hamburg 3. Senat
L 3 R 100/18
13.07.2020
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 09.08.2018 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Im Streit ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die am 1962 in Serbien geborene Klägerin lebt seit 1985 in Deutschland. Eine förmliche Ausbildung hat die Klägerin nicht absolviert und war als Reinigungskraft und Zimmermädchen beschäftigt. Die Klägerin hat einen Grad der Behinderung von 20. Die Klägerin erhält laufend Leistungen zur Grundsicherung. Sie versorgt und betreut ihre erwachsene und psychisch beeinträchtigte Tochter.
2008 wurden in einem von der Agentur für Arbeit eingeholtem Gutachten eine psychische Minderbelastbarkeit aufgrund der familiären Situation und diverse Befindlichkeitsstörungen festgestellt. Aus medizinischer Sicht sei die Klägerin in der Lage, täglich sechs Stunden und mehr eine leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeit auszuüben. Allerdings sei ein psychiatrisches Gutachten erforderlich. In dem sodann von Herrn D. erstellten psychologischen Gutachten stellte dieser keine ausreichende psychische Belastbarkeit der Klägerin für eine berufliche Tätigkeit fest. Nach einem weiteren Gutachten im Auftrag der Arbeitsagentur des Neurologen und Psychiaters Dr. H. wurde ein aufgehobenes Leistungsvermögen festgestellt. Unter der Diagnose von Spannungskopfschmerzen und andauernden depressiven Reaktionen und einfach strukturierter Persönlichkeit ergab sich hieraus für die Dauer von etwa zwei Jahren kein Leistungsvermögen. Die Klägerin sei so von der Sorge um die Tochter beherrscht, dass sie weder gedanklich noch aber emotional Raum habe für hiervon unabhängige Aktivitäten. Es handele sich nicht einfach um ein Organisationsproblem bei erhaltener Belastbarkeit, sondern um eine symbiotische Bindung mit Krankheitswert. In dieser Situation entwickele die Klägerin eine depressive Reaktion und funktionell verstärkte körperliche Störungen, die sie schwerpunktmäßig mit Analgetika behandele.
Am 12. Mai 2011 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und verwies auf Kopfschmerzen und psychische Belastungen bei der Pflege der Tochter. Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Neurologe/Psychiater Dr. S. am 31. Juli 2012 ein fachärztliches Gutachten und stellte bei der Klägerin eine depressive Anpassungsstörung bei anhaltender häuslicher Belastungssituation, eine Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule bei Fehlstatik und wiederkehrende Kopfschmerzen fest und hielt die Klägerin grundsätzlich täglich sechs Stunden und mehr leistungsfähig für eine leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeit ohne besondere nervliche Belastung. Die Klägerin habe sich für die Betreuung der Tochter entschieden und sei einem Gespräch über Alternativen nicht zugänglich.
Die Beklagte lehnte sodann den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 15. August 2012 ab.
Die Klägerin erhob am 29. August 2012 Widerspruch mit der Begründung, dass sie immer noch krank sei, unter Kopfschmerzen leide und häufig weinen müsse. Nach für die Klägerin negativen Stellungnahmen der beratenden Ärzte Dr. F. wies die Beklagten den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2016 zurück.
Die Klägerin hat am 14. März 2016 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Sie hat darauf verwiesen, dass sie nicht mehr in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt. So hat die Neurologin Dr. N. auf eine zweimalige Synkope hingewiesen. Der Orthopäde Dr. V. hat auf Beeinträchtigungen seitens der Brust- und Lendenwirbelsäule hingewiesen.
Auf Veranlassung des Sozialgerichts hat sodann die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie L. die Klägerin am 24. Februar 2017 untersucht und am 19. Mai 2017 ein Sachverständigengutachten erstellt. Unter der Diagnose einer permanenten psychosozialen Belastungssituation mit chronischem Erschöpfungssyndrom im Sinne eines Burn-out, eines Analphabetismus mit psychischer Minderbelastbarkeit, einer Minderbegabung mit psychischer Minderbelastbarkeit, einer Migräne, einem Spannungskopfschmerz, einer Insomnie (Einschlafstörung) und Schmerzsyndrom der Wirbelsäule hat die Sachverständige die Klägerin für nicht mehr in der Lage gehalten, eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Die Einschränkung ergebe sich weniger aus dem körperlichen Befund, sondern vielmehr aus den psychiatrischen Erkrankungen. Gründe für das aufgehobene Leistungsvermögen ergäben sich aus der symbiotischen Beziehung zur Tochter, den eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten, dem Analphabetismus mit den damit verbundenen psychischen Problemen und der Burn-out Symptomatik. Die symbiotische Beziehung habe Krankheitswert. Entlastungsangebote würden von der Klägerin als Trennungsmanöver verstanden werden. Möglicherweise spielten auch eigene Schuldgefühle eine erhebliche Rolle, die letztlich von der Klägerin nicht aus eigener Kraft überwunden werden könnten. Andererseits wäre ein Arbeitsversuch hilfreich. Es wird inhaltlich Bezug genommen auf das Sachverständigengutachten vom 19. Mai 2017 der Sachverständigen L ...
Nach Anhörung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung hat das Sozialgericht die Beklagte mit Urteil vom 9. August 2018 unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 12. Mai 2011 bis zum 31. Juli 2021 zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, in einem Umfang von mindestens drei Stunden täglich Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dies folge aus dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten und aus dem Eindruck, den die Kammer von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnen habe. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, sich aus eigener Kraft von der symbiotischen Beziehung zu ihrer Tochter zu lösen. Nach dem Sachverständigengutachten sei eine Besserung jedoch nicht unwahrscheinlich, so dass die Rente zu befristen sei.
Gegen das ihr am 17. August 2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. September 2018 Berufung eingelegt. Eine ausreichende medizinische Begründung für eine tatsächlich krankhafte symbiotische Beziehung zu der Tochter habe die Sachverständige nicht herleiten können. Hinzu komme, dass an drei Tagen in der Woche eine externe Betreuung erfolge und es sei nicht erkennbar, warum die Klägerin zumindest an diesen Tagen nicht arbeiten und darüber hinaus die Betreuung nicht erweitert werden könne. Die ausgesprochene Befristung sei in sich unschlüssig, weil nicht erkennbar sei, was sich in drei Jahren an dem beschriebenen Zustand ändern solle. Das Sachverständigengutachten sei nicht leitliniengerecht erstellt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. August 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Die Klägerin leide unter Konzentrationsschwierigkeiten, sei weitschweifig, eine Verständigung kaum möglich. Die Tochter nehme an Gruppenangeboten des Pflegedienstes teil, die nur wenige Stunden dauern würden. Eine Tätigkeit könne in dieser Zeit nicht verrichtet werden.
Auf Veranlassung des Berufungsgerichts ist ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Der Sachverständige Dr. B. ist in seinem Sachverständigengutachten vom 12. September 2019 nach Untersuchung der Klägerin bei der Diagnose einer persönlichkeitsgetragenen und durch vielfältige lebenssituative Einflüsse ausgelöste und unterhaltene Anpassungsstörung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mit durchschnittlicher geistiger Beanspruchung mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Es imponiere aus psychologischer Sicht ein eher resolutes Auftreten, die Klägerin wirke nicht willensschwach und es seien keine seelisch-geistigen Behinderungen nachweisbar. Die festgestellten Auffälligkeiten seien der fehlenden Schulbildung geschuldet, aus neurologisch-psychiatrischer Sicht gebe es keinerlei Hinweise für ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Die Beziehung zur Tochter sei eine psychologisch verstehbare Haltung, von der sich die Klägerin kaum werde abhalten lasse. Gründe seien eine persönlichkeitsgetragene aber keineswegs krankhaft begründbare Haltung, die es zu respektieren gelte. Die Klägerin habe die Fähigkeit, sich gegen Widrigkeiten zu behaupten und eigene Auffassungen zu vertreten, sie sei nicht willenlos.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat Einwände gegen das Sachverständigengutachten erhoben und vorgetragen, dass sich die Klägerin in dem Gutachten nicht erkennen könne. Sie sei vollständig unfähig, sich gedanklich mit der Möglichkeiten zu beschäftigen, dass die Tochter unabhängiger werde könne. Das sei pathologisch. Die Klägerin sei laut, unsortiert, unstrukturiert, ausweichend, misstrauisch und könne sich nicht konzentrieren. Bei der Annahme, dass die Klägerin willensstark und durchsetzungsfähig sei, handele es sich um eine Fehlinterpretation. Es sei im Übrigen auf das Sachverständigengutachten von Frau L. und das Gutachten von Dr. H. zu verweisen.
Der Sachverständige Dr. B. ist in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. Dezember 2019 bei seiner Einschätzung geblieben. Frau L. und Dr. H. seien in ihrer Argumentation nicht frei von Widersprüchen, so habe Dr. H. ausgeführt, die mangelnde Fähigkeit, ihr Leben zu bewältigen komme von der Persönlichkeitsstruktur der Klägerin. Dagegen spreche jedoch, dass sich die Klägerin in ihrer früheren Tätigkeit im Arbeitsleben durchaus habe behaupten können. Sie habe zudem auch die Schwierigkeiten im privaten Bereich meistern können. Aus früheren Befundberichten sei jedoch erkennbar, dass die Klägerin wenig Arbeitsmotivation gehabt habe. Erst 2008 sei durch Dr. H. auf die symbiotische Beziehung zu der Tochter hingewiesen worden. Die Sachverständige L. habe einerseits eine symbiotisch krankhafte Beziehung zur Tochter festgestellt und andererseits hervorgehoben, dass es bemerkenswert sei, dass die Klägerin es trotz der Einschränkungen geschafft habe, sich über viele Jahre über Wasser zu halten, weshalb auch ein Arbeitsversuch hilfreich sei, um dem ständigen Kreisen um das Wohlergehen der Tochter zu entkommen. Beide Sachverständige seien daher von beeindruckenden gesundheitlichen Ressourcen der Klägerin überzeugt. Dass die Klägerin hierauf nicht zurückgreife, sei ihre Entscheidung. Hierdurch sei es auch zu einer Arbeitsentwöhnung gekommen. Es handele sich jedoch um eine frei gewählte Entscheidung, die Klägerin nehme auch Hilfsangebote zur Betreuung der Tochter war und nutze die Zeit für sich selbst. Eine synoptische Betrachtung der ärztlichen Stellungnahmen seit 1998 würde die Auffassung, dass nicht von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgegangen werden könne, stützen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung allein durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung erteilt. Die Sach- und Rechtslage ist im Erörterungstermin vom 7. Juli 2020 erörtert worden.
Die Verwaltungsakten haben dem Berufungsgericht vorgelegen und sind Grundlage der Entscheidung gewesen.
R/R9149
Informationsstand: 21.01.2021