Urteil
Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 - Feststellungsverfahren

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 29/20


Urteil vom:

22.01.2021


Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.11.2019 geändert und die Klage abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Rechtsweg:

SG Münster, Urteil vom 29. November 2019 - S 13 SB 81/19

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Tatbestand:

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Feststellung eines GdB von 50 in Anspruch.

Mit Bescheid vom 31.05.2013 stellte der Beklagte bei dem im Jahr 1978 geborenen Kläger einen GdB von 40 fest. Dem lag eine gutachtliche Stellungnahme vom 24.05.2013 zugrunde, die als Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers (1.) eine insulinpflichtige Zuckerkrankheit bei Vorhandensein einer Insulinpumpe mit einem Einzel-GdB von 40, (2.) wiederkehrende Rückenschmerzen mit einem Einzel-GdB von 10, (3.) depressive Verstimmungen mit einem Einzel-GdB von 10 sowie (4.) eine Neigung zu Speiseröhren- und Magenschleimhautentzündungen mit einem Einzel-GdB von 10 feststellte. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30.01.2014).

Am 07.06.2018 stellte der Kläger einen Änderungsantrag. Der Beklagte holte Befundberichte von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. H sowie von dem Psychotherapeuten Dipl.-Psych. T ein. Auf dieser Grundlage ging eine vom Beklagten veranlasste gutachtliche Stellungnahme von einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit bei Vorhandensein einer Insulinpumpe (Einzel-GdB: 40), wiederkehrenden Rückenschmerzen (Einzel-GdB: 20), depressiven Verstimmungen (Einzel-GdB: 10) sowie von einer Neigung zu Speiseröhren- und Magenschleimhautentzündungen (Einzel-GdB: 10) aus. Der Gesamt-GdB sei weiterhin mit 40 anzusetzen; eine Änderung gegenüber der letzten Entscheidung sei nicht eingetreten. Gestützt auf diese Stellungnahme lehnte der Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 24.09.2018).

Im Widerspruchsverfahren führte der Kläger aus, die durch den Diabetes mellitus verursachten Beeinträchtigungen hätten zugenommen. Gleichermaßen habe sich seine psychische Verfassung verschlechtert. Daher sei seine Lebenssituation deutlich stärker eingeschränkt als noch im Jahr 2013. Nach Einholung einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme wies die Bezirksregierung N den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 09.01.2019).

Hiergegen hat der Kläger am 08.02.2019 vor dem SG Münster Klage erhoben und unter Vorlage eines Entlassungsberichtes des Rehabilitationszentrums C vom 11.04.2019 vorgetragen: Seine Blutzuckerwerte seien äußerst schwankend. Vier bis sechs Mal pro Woche komme es - überwiegend in der Nacht - zu Hypoglykämien. Aufgrund des nächtlichen Auftretens sei sein Nachtschlaf erheblich gestört. Neben der bereits von seinem Psychotherapeuten mitgeteilten mittelgradigen depressiven Episode bestehe bei ihm eine Agoraphobie mit Panikstörung, die in die Betrachtung seiner gesundheitlichen Situation einzubeziehen sei.


Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 24.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 zu verpflichten, bei ihm ab dem 07.06.2018 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.


Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf den angefochtenen Bescheid gestützt.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung von Gutachten von dem Facharzt für Innere Medizin Dr. M und dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. Der Hauptsachverständige Dr. M hat bei dem Kläger unter Einbeziehung der Ausführungen des Zusatzsachverständigen Dr. S (1.) einen Diabetes mellitus Typ 1 mit einem Einzel-GdB von 50, (2.) eine depressiv gefärbte Anpassungsstörung mit einem Einzel-GdB von 20 sowie (3.) eine diabetische Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 10 festgestellt und einen Gesamt-GdB von 50 gebildet.

Der Beklagte ist der von dem Sachverständigen Dr. M geäußerten Einschätzung unter Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme entgegengetreten. Das Gutachten liefere keinen Beweis, dass der beim Kläger vorhandene Diabetes schwer einstellbar sei. Ebenso wenig lasse sich aus dem Gutachten ableiten, dass der Kläger durch den Diabetes gravierend in seiner Lebensführung beeinträchtigt sei.

Durch Urteil vom 29.11.2019 hat das SG den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Der Kläger leide aufgrund seines schwer einstellbaren Diabetes mellitus an erheblichen Einschnitten und sei gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Seine stark schwankenden Blutzuckerwerte erforderten im Rahmen des Therapieaufwandes eine hohe Anzahl von Blutzuckerwertmessungen - etwa 15 bis 20 Messungen - teilweise auch mehr als 30 Messungen pro Tag. Dies habe der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung skizziert und werde auch durch die überreichten Protokolle des von ihm verwandten Systems "FreeStyle Libre" bestätigt. Sowohl dem Sachverständigen Dr. M gegenüber als auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung habe der Kläger ausgeführt, diese Messungen teilweise auch nachts durchzuführen, um Entgleisungen seines Blutzuckers zu verhindern und entsprechend Kohlenhydrate zuzuführen oder nachts Insulin zu spritzen. Im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen Dr. M sei der Therapieerfolg als abnehmend zu qualifizieren. Der Diabetes mellitus sei schwer einstellbar, der HbA1c-Wert habe im Rahmen der Untersuchung bei 8,4 %, und damit über dem von der Deutschen Gesellschaft für Diabetologie geforderten Zielwert von 7,5 %, gelegen.

Gegen das ihm am 07.01.2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 29.01.2020 Berufung erhoben.

Unter Vorlage einer ärztlichen Stellungnahme trägt der Beklagte vor: Der den Kläger behandelnde Diabetologe habe im Verwaltungsverfahren weder über eine instabile Stoffwechsellage noch über eine schwere Einstellbarkeit berichtet, sondern vielmehr mitgeteilt, der Kläger komme mit seinem FGM-System gut zurecht. Unbestritten sei die tatsächliche Einstellungsqualität nicht befriedigend. Der Kläger nehme jedoch bewusst erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf, ohne dass dies medizinisch notwendig sei, so dass die schlechte Einstellungsqualität verhaltens- und nicht krankheitsbedingt sei. Abgesehen davon resultierten aus der schlechten Einstellungsqualität keine gravierenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung.


Der Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.11.2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil und erwidert unter Bezugnahme auf Messprotokolle: Seine Lebensführung sei gravierend beeinträchtigt, da jede Freizeitaktivität einen erheblichen planerischen Aufwand erfordere. Auch könne er nicht vollständig auf "blutige Messungen" verzichten und sei in der Vergangenheit aufgrund einer Hypoglykämie auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen gewesen.

Auf Anordnung des Senats hat der Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie Prof. Dr. L ein Gutachten erstattet. In seinem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 02.11.2020 hat der Sachverständige Prof. Dr. L bei dem Kläger einen Diabetes mellitus Typ 1 (mit neurologischen Komplikationen, nicht als entgleist bezeichnet - Einzel-GdB: 40), eine beginnende periphere Polyneuropathie (Einzel-GdB: 10), (in Anlehnung an die Einschätzung des Sachverständigen Dr. S) eine depressive Verstimmung/Dysthymia (Einzel-GdB: 20), eine erektile Dysfunktion (Einzel-GdB: 10), eine Gastroparese (Einzel-GdB: 10), wiederkehrende Rückenschmerzen bei Kyphoskoliose (Einzel-GdB: 10), eine chronische Gastritis/Pankreasatrophie (Einzel-GdB: 10) eine beginnende Krallenzehenbildung (kein GdB) sowie eine Faktor-V-Leiden-Mutation (kein GdB) diagnostiziert. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Diabetes mellitus nicht schwer einstellbar, die Lebensführung des Klägers nicht gravierend beeinträchtigt und auch im Übrigen keine außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellage gegeben sei, scheide die Zuordnung eines Einzel-GdB von 50 aus. Eine Erhöhung auf einen Gesamt-GdB von 50 komme auch unter Zugrundelegung der weiteren Teilhabeeinschränkungen - vor allem der depressiven Störung - nicht in Betracht. Diese wirkten sich im Ergebnis nicht besonders nachteilig auf die durch den Diabetes verursachten Beeinträchtigungen aus.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten.

Entscheidungsgründe:

1. Der Senat konnte gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (Schriftsätze vom 18.12.2020 und 21.12.2020).

2. Die Berufung des Beklagten ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 und wird durch den angefochtenen Bescheid 24.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Vor diesem Hintergrund war das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

a) Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, ist Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides § 48 SGB X. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 1 VMG und z.B. BSG, Urteil v. 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R, Rn. 26). Vergleichsmaßstab sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Bescheides vom 31.05.2013. Im Vergleich der Verhältnisse am 31.05.2013 und denen im Zeitraum von der Antragstellung bis zur Entscheidung des Senats vom heutigen Tage ist eine wesentliche Änderung in diesem Sinne nicht eingetreten. Der Gesamt-GdB beläuft sich weiterhin auf lediglich 40.

b) Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 gültigen Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 gültigen Fassung (zuvor § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Nach § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 gültigen Fassung (zuvor § 159 Abs. 7 SGB IX) gelten - in Ermangelung einer Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX - die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnungen - insbesondere Anlage 2 zur Versorgungsmedizinverordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze - VMG) - entsprechend, und zwar im Gesetzesrang (vgl. BSG, Urteil vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R, Rn. 12 a.E.).

Wie das SG ebenfalls ausführlich und zutreffend dargelegt hat, ist die Bemessung des (Gesamt-)GdB in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. z.B. BSG, Beschluss v. 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B, Rn. 5 m.w.N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, Rn. 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (vgl. BSG, Urteil v. 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R, Rn. 25; vgl. zum Ganzen auch Senat, Urteil v. 29.06.2012 - L 13 SB 127/11, Rn. 42 ff. und daran anschließend BSG, Beschluss v. 17.04.2013 - B 9 SB 69/12 B, Rn. 8 ff.).

Der vom Kläger geltend gemachte Gesamt-GdB von 50 wird nach Maßgabe der obigen Voraussetzungen nicht erreicht.

aa) Unter Berücksichtigung der Feststellungen des im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Prof. Dr. L leidet der Kläger im Wesentlichen unter einem Diabetes mellitus Typ 1 (mit neurologischen Komplikationen, nicht als entgleist bezeichnet), einer beginnenden peripheren Polyneuropathie, einer depressiven Verstimmung/Dysthymia, einer erektilen Dysfunktion, einer Gastroparese, wiederkehrenden Rückenschmerzen bei Kyphoskoliose sowie unter einer chronischen Gastritis/Pankreasatrophie.

(1) Im Hinblick auf den Diabetes mellitus ist entgegen der Auffassung des erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen Dr. M lediglich ein Einzel GdB von 40, nicht jedoch ein solcher von 50 festzustellen. Das ergibt sich aus den in jeder Hinsicht überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. L in seinem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 02.11.2020.

Nach Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 VMG erleiden die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung (Satz 1). Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein (Satz 2). Der GdS beträgt 50 (Satz 3).

Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung ist nur unter strengen Voraussetzungen bejahen. Das ergibt sich bereits aus der Formulierung der Regelung, die eine seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält ("erheblich", "gravierend", "ausgeprägt"). Dem Verordnungsgeber ging es ersichtlich darum, mit jedem Absatz des Teils B Nr. 15.1 VMG eine Steigerung der Anforderungen zu verdeutlichen (der auf der Rechtsfolgenseite jeweils ein höherer GdB gegenübersteht). Weiterhin lässt sich aus dem oben dargestellten Zusammenspiel der drei Beurteilungskriterien des Teils B Nr. 15.1 Abs. 4 ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte für sich genommen nicht geeignet sind, eine zusätzliche ("und") gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung zu begründen. Berücksichtigungsfähig ist daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Andererseits kann auch ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Letztlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten (zum Ganzen vgl. BSG, Urteil v. 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R, Rn. 18 ff.).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar ist der Kläger nach den insoweit übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. M gehalten, eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei er die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variieren muss. Allerdings ist, wie es die vorzitierte Regelung der VMG fordert, keine gravierende Teilhabebeeinträchtigung zu erkennen. Eine solche Teilhabeeinschränkung zeichnet sich durch eine ganz erhebliche Beeinträchtigung z.B. bei der Planung des Tagesablaufs, der Gestaltung von Berufsausübung und Freizeit, oder der Zubereitung von Mahlzeiten aus.

Soweit der Kläger geltend macht, seine Lebensführung sei bereits deshalb gravierend beeinträchtigt, weil jede Freizeitaktivität einen erheblichen planerischen Aufwand erfordere, folgt der Senat dem nicht. Zu berücksichtigen ist, dass es sich hierbei, wie der Sachverständige Prof. Dr. L zutreffend ausführt, bei den vorhandenen Einschränkungen um Einschnitte handelt, mit denen jeder Diabetiker konfrontiert ist, der eine intensivierte Insulintherapie durchführt. Dies gilt insbesondere für die aus der Erkrankung resultierenden Einschnitte wie die Einbeziehung von Essenszeiten in die Tagesplanung sowie Änderung und Anpassung von Aktivitäten (Spaziergänge, Einkäufe, sportliche Aktivitäten etc.) aufgrund von entgleisten Blutzuckerwerten. Wenngleich Einschränkungen bei der Berufsausübung insoweit bestehen, dass Hypoglykämien zur Unterbrechung der ausgeführten Tätigkeit mit nachfolgender Aufnahme schnellresorbierbarer Kohlenhydrate und ca. 15 bis 30 minütigem Abwarten mit erneuter Blutzuckermessung führen, ist zu berücksichtigen, dass diese nicht regelmäßig vorkommen und überdies bislang nicht zu nennenswerten Arbeitsunfähigkeitszeiten geführt haben. Gravierende Einschnitte in der Lebensführung lassen sich schließlich nicht durch die vom Kläger vorgenommenen zahlreichen Messungen, die sich auf bis zu 30 pro Tag belaufen können, belegen. Wie der Sachverständige Prof. Dr. L ausgeführt hat, sind ca. vier tägliche Messungen medizinisch ausreichend; nächtliche Messungen sind entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung nicht erforderlich.

Auf der anderen Seite unterliegt der Kläger sowohl bei der Freizeitgestaltung als auch bei der Zubereitung von Mahlzeiten keinen erheblichen Einschränkungen. Hierzu hat der Kläger im Rahmen der Begutachtungen mitgeteilt, dass er regelmäßig Sport treibe (2 bis 3 Mal pro Woche 20 bis 40 km Radfahren, im Winter Walking), sich um seine zwei Töchter kümmere und mit diesen Freizeitausflüge unternehme. Gleichermaßen bestehen bei der Zubereitung von Mahlzeiten keine gravierenden Einschränkungen. Zwar hat der Kläger im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren vorgetragen, dass er Mahlzeiten auslassen müsse, wenn der gemessene Blutzucker zu hoch sei. Nach den zutreffenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. L handelt es sich hierbei jedoch um eine vom Kläger selbst veranlasste Maßnahme, für die sich in der einschlägigen Leitlinie keine Stütze findet.

Eine Erhöhung des Einzel-GdB auf 50 kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer außergewöhnlich schwer regulierbaren Stoffwechsellage gemäß Teil B Nr. 15.1 VMG in Betracht. Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen liegen sowohl bei Hypoglykämien vor, die jeweils der dokumentierten invasiven Fremdhilfe bedürfen, als auch bei schweren hyperglykämischen Stoffwechselentgleisungen. Diese sind beispielsweise dann gegeben, wenn nur durch wiederholte stationäre Behandlungen eine zufriedenstellende Einstellung gelingt oder wiederholt Stoffwechselentgleisungen ohne erklärbare Ursachen auftreten. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger indes nicht, wie sich den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. L entnehmen lässt.

Wiederholt stationäre Behandlungen waren bei dem Kläger bislang nicht notwendig. Auch schwere hyperglykämische Stoffwechselentgleisungen, wie ein diabetisches Koma oder die diabetische Ketoazidose sind bei dem Kläger bisher - abgesehen von der Erstdiagnose - nicht mehr vorgekommen. Die letzte schwere Hypoglykämie, bei der es der Fremdhilfe durch die Ehefrau bedurfte, ist vor 15 Jahren aufgetreten. Eine Hypoglykämiewahrnehmungsstörung besteht ebenfalls nicht. Im Hinblick auf die Forderung wiederholter Stoffwechselentgleisungen ohne erklärbare Ursachen habe der Kläger, so der Sachverständige Prof. Dr. L, zwar berichtet, dass der Blutzucker häufig ohne erklärbare Ursache erhöht sei (z.B. unabhängig davon, ob zuvor Nahrung aufgenommen wurde oder nicht). Wie bereits der für den Beklagten tätige Arzt Baumeister in seiner im Berufungsverfahren übermittelten Stellungnahme überzeugend ausgeführt hat, führt der Kläger jedoch aus freien Stücken und ohne medizinische Erforderlichkeit (aus Angst zu unterzuckern) einen erhöhten Blutzucker selbstständig herbei, so dass die erhöhten Blutzuckerwerte erklärbar sind.

Soweit der erstinstanzlich bestellte Sachverständige Dr. M davon ausgegangen ist, dass der Diabetes des Klägers schwer einstellbar und tatsächlich nicht befriedigend eingestellt sei und vor diesem Hintergrund einen Einzel-GdB von 50 angesetzt hat, ist dem nicht zu folgen. Der Sachverständige Prof. Dr. L hat hierzu dargelegt, dass die Güte der Stoffwechseleinstellung allein im Rahmen der Frage, ob ein Einzel-GdB von 30 oder 40 festzustellen ist, eine Rolle spielt. Nach den Vorgaben der VMG können demgegenüber lediglich außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen höhere Einzel-GdB bedingen. Wie oben ausgeführt, ist dieses Erfordernis beim Kläger jedoch nicht erfüllt. Zutreffend hat der Sachverständige Prof. Dr. L darauf verwiesen, dass der Sachverständige Dr. M augenscheinlich fälschlicherweise auf Teil A Nr. 26.15 der bis Ende 2008 gültigen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (im Folgenden: Anhaltspunkte) abgestellt hat. Danach war bei schwerer Einstellbarkeit eines Diabetes mellitus ein Einzel-GdB von 50 zuzuerkennen.

(2) Im Hinblick auf die beim Kläger vorhandene depressive Verstimmung/Dysthymia setzt der Senat in Übereinstimmung mit der von dem erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. S geäußerten Einschätzung einen Einzel-GdB von 20 an. Gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. L hat der Kläger berichtet, aktuell arbeitsunfähig geschrieben zu sein sowie unter Durchschlafstörungen zu leiden. Diese Ausführungen stimmen im Wesentlichen mit den gegenüber Dr. S getätigten Ausführungen überein. Abgesehen davon hat der Kläger im Berufungsverfahren keine Verschlimmerung geltend gemacht oder weitere Ermittlungen von Amts wegen angeregt.

(3) Im Übrigen sind für die beginnende periphere Polyneuropathie, eine erektile Dysfunktion, eine Gastroparese, wiederkehrende Rückenschmerzen bei Kyphoskoliose sowie für die weiterhin diagnostizierte chronische Gastritis/Pankreasatrophie jeweils Einzel-GdB von 10 anzusetzen, die sich nicht erhöhend auswirken können (Teil A Nr. 3d ee VMG). Einwände zur Feststellung dieser Einzel-GdB hat der Kläger nicht erhoben.

bb) Nach alledem sind die beim Kläger vorhandenen Teilhabeeinschränkungen wie folgt festzustellen:

Diabetes mellitus Typ 1 (mit neurologischen Komplikationen, nicht als entgleist bezeichnet) - Teil B Nr. 15.1 VMG: Einzel-GdB von 40

Depressive Verstimmung/Dysthymia - Teil B Nr. 3.7 VMG: Einzel-GdB von 20

Beginnende periphere Polyneuropathie - Teil B Nr. 3.11 VMG: Einzel-GdB von 10

Erektile Dysfunktion - Teil B Nr. 13.2 VMG: Einzel-GdB von 10

Gastroparese - Teil B Nr. 10.2 VMG: Einzel-GdB von 10

Wiederkehrende Rückenschmerzen bei Kyphoskoliose - Teil B Nr. 18.9 VMG: Einzel-GdB von 10

Chronische Gastritis/Pankreasatrophie Teil B Nr. 10.2 und 10.3.6 VMG: Einzel-GdB von 10

Als führendes Leiden ist der Diabetes mellitus Typ 1 mit einem Einzel-GdB von 40 anzusehen. Dieser Wert wird durch den Einzel-GdB von 20 für die depressive Verstimmung/Dysthymia (Teil B Nr. 3.7 VMG) nicht auf 50 erhöht. Wie Prof. Dr. L überzeugend ausführt, sind die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen durch die psychische Störung mit einem Einzel-GdB von 20 sind von denen des Diabetes mellitus unabhängig und betreffen verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens. Sie neutralisieren sich nicht und wirken sich nicht besonders nachteilig auf die Funktionsbeeinträchtigung des Diabetes mellitus aus. Im Übrigen hat auch der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. M der depressiven Störung keine erhöhende Wirkung beigemessen.

cc) Schließlich lässt der abschließend gebotene Gesamtvergleich die Annahme eines GdB von 50 nicht zu. Die VMG sehen einen GdB von 50 etwa bei folgenden Einzelleiden vor: Verlust der ganzen Hand (Teil B Nr. 18.13) oder Verlust eines Beines im Unterschenkel (Teil B Nr. 18.14 VMG). Hiermit ist die Gesamtheit der funktionellen Beeinträchtigungen des Klägers, der maßgeblich unter einem Diabetes mellitus Typ 1 und leicht bis mittelgradigen psychischen Beeinträchtigungen leidet, aus Sicht des Senats nicht vergleichbar.

c) Dem vom Kläger geltend gemachten Antrag auf erneute Anhörung des Sachverständigen Dr. M zu den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. L (Schriftsatz vom 07.12.2020) musste der Senat nicht nachgehen, wobei offen bleiben kann, ob es sich lediglich um eine Anregung oder um einen "echten" Beweisantrag gehandelt hat. Wie bereits dargelegt, hat Dr. M in seinem Gutachten zur Begründung eines Einzel-GdB von 50 allein auf Einstellung und Einstellbarkeit des Diabetes abgestellt. Es deutet vieles darauf hin, dass er dabei allein auf die Vorgaben der sich nicht mehr in Kraft befindlichen Anhaltspunkte abgestellt hat und auf diese Weise zu einer nicht (mehr) zutreffenden Schlussfolgerung gelangt ist (vgl. auch Hinweis des Senats vom 09.12.2020).

Ungeachtet dessen hat der Kläger mit seiner vorbehaltlosen Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zum Ausdruck gebracht, dass sich etwaige Beweisanträge erledigt haben (vgl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Aufl. 2020, § 124 Rn. 4b m.w.N. aus der Rspr.).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

4. Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).

Referenznummer:

R/R9539


Informationsstand: 10.03.2023