Der Bescheid vom 13.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017 wird aufgehoben.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (
GdB) von 70 auf zuletzt 40.
Bei dem am ... 1964 geborenen Kläger war im Herbst 2013 eine Veränderung im rechten Lungenunterlappen festgestellt worden. Nachdem eine Kontrolluntersuchung eine Vergrößerung des Geschehens gezeigt hatte, waren daraufhin der rechte Lungenunterlappen und die Lymphknoten in der rechten Achsel durch Operation am 16.04.2014 vollständig entfernt worden. Die histologische Untersuchung hatte ein Lungenkarzinoid des vorderen rechten Lungenunterlappens im Tumorstadium pT1b pN0 cM0 UICC Stad. I A ergeben. Eine anschließende adjuvante (
d. h. unterstützende chemo-, strahlen-, immun- oder hormontherapeutische) Behandlung war nicht erforderlich geworden.
Der Beklagte hatte bis dahin bei dem Kläger nach einem Herzinfarkt mit nachfolgenden Stentimplantationen und wegen Lendenwirbelsäulen (LWS)-Beschwerden bereits seit 28.02.2013 einen
GdB von 30 festgestellt (Bescheid vom 22.04.2013) und dabei folgende Behinderungen benannt:
- Herzdurchblutungsstörungen, Bluthochdruck, Stenteinpflanzung (
GdB 20)
- Funktionsminderung der Lendenwirbelsäule mit Fußheberschwäche nach operiertem Bandscheibenleiden (
GdB 20).
Im Anschluss an die Lungenerkrankung hatte der Beklagte auf Antrag des Klägers unter Berücksichtigung der bereits zuvor festgestellten Behinderungen mit Bescheid vom 22.07.2014 ab 26.06.2014 einen
GdB von 70 festgestellt und dabei neben den bisherigen Behinderungen als neue Funktionsstörung einen "Teilverlust der rechten Lunge bei Lungenerkrankung in Heilungsbewährung" aufgeführt. Hierzu hatte er wegen der Entfernung des Karzinoides dem Votum des versorgungsärztlichen Dienstes entsprechend für die Dauer der Heilungsbewährung einen Einzel-
GdB von 50 und zusätzlich unter Mitberücksichtigung der Lungenfunktionseinschränkung insgesamt einen Einzel-
GdB von 60 angenommen.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung des Merkzeichens "G", dem er den ärztlichen Entlassungsbericht der stationären Rehabilitationsmaßnahme vom 29.06.2015 beigefügt hatte, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 23.07.2015 abgelehnt.
Im Mai 2016 leitete der Beklagte die Überprüfung der Höhe des
GdB ein und forderte diverse Befundberichte bei den behandelnden Ärzten des Klägers an.
Die Internistin
Dr. B. teilte im Befundbericht vom 26.06.2016 mit, dass der Kläger bislang frei von Tumorrezidiven sei, aber seit der Operation Schmerzen im Operationsbereich habe, über Luftnot klage und seine Belastbarkeit wegen der Lungenteilresektion und der übrigen Erkrankungen, unter anderem einem neu hinzugetretenen Diabetes mellitus, eingeschränkt sei. Es bestehe überdies der Verdacht, dass als Folge der Operation Ösophagusdivertikel (Ausstülpungen der Speiseröhre) aufgetreten seien.
Dr. B. fügte den Entlassungsbericht der Klinik für Thoraxchirurgie der Lungenklinik L. vom 03.02.2016 bei. Danach hatte der Kläger sich vom 27. bis 28.01.2016 dort zur onkologischen Kontrolluntersuchung aufgehalten. In der Anamnese hatte der Kläger Schluckbeschwerden und leichte Schmerzen im Bereich der ehemaligen Operationswunde geschildert. Der Kläger habe in der klinischen Untersuchung keine Atemnot, keine Zyanose und keine kardiopulmonalen Dekompensationszeichen gezeigt. Der periphere Lymphknotenstatus, das Abtasten des Bauchbereiches und das Abhören der Lunge und des Herzens sei ebenso wie die grobe neurologische Untersuchung unauffällig gewesen. Das Atemgeräusch im Bereich der rechten unteren Lunge sei leicht abgeschwächt gewesen. Die Blutgasanalyse habe eine beginnende respiratorische Teilinsuffizienz gezeigt. Röntgen, CT-Thorax, Sonographie des Bauches und eine Bronchoskopie hätten keine Hinweise auf ein Tumorrezidiv oder Metastasen aufgedeckt.
Dr. B. fügte ferner den Entlassungsbericht der Medizinischen Klinik II des Klinikums B. vom 20.04.2016 bei, wo der Kläger zur geplanten Herzkatheteruntersuchung zum Ausschluss des Voranschreitens der bekannten koronaren Herzerkrankung vom 31.03. bis 02.04.2016 stationär aufgenommen worden war. Anamnestisch hatte der Kläger angegeben, seit zwei Wochen Druckgefühle in der Brust bereits bei minimaler Belastung und manchmal auch in Ruhe zu verspüren. Ärztlicherseits war ein gutes Langzeitergebnis nach der Stentimplantation bestätigt worden. Das EKG habe einen normalen Erregungsablauf gezeigt.
Der beteiligte versorgungsärztliche Dienst des Beklagten empfahl nach Ablauf der Heilungsbewährung eine Herabsetzung des Einzel-
GdB für den Zustand nach der Lungenerkrankung auf 20 und insgesamt auf 30. Mit Schreiben vom 25.08.2016 teilte der Beklagte dies dem Kläger mit und gab ihm Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Der Kläger wandte dagegen mit Schreiben vom 09.09.2016 ein, die Tumorerkrankung sei erst zwei Jahre rezidivfrei, er meine, es seien mindestens fünf Jahre abzuwarten. Er habe nach wie vor Beschwerden, daher betrachte er die Erkrankung nicht als ausgeheilt. Zudem habe er Schmerzen wegen des operierten Bandscheibenvorfalls und nach dem Herzinfarkt, so dass er in der Belastbarkeit sehr eingeschränkt sei, weil er schnell außer Atem sei.
Mit Bescheid vom 13.10.2016 hob der Beklagte den Bescheid vom 22.07.2014 auf und stellte wegen Änderung der Verhältnisse aufgrund des Ablaufs der Heilungsbewährung mit Wirkung vom 01.11.2016 einen
GdB von 30 fest. Hierbei führte er folgende Behinderungen auf:
- Funktionsminderung der Lendenwirbelsäule mit Fußheberschwäche nach operiertem Bandscheibenleiden (
GdB 20).
- Herzdurchblutungsstörungen, Bluthochdruck, Stenteinpflanzung (
GdB 20)
- Teilverlust der rechten Lunge, Lungenfunktionsstörung (
GdB 20).
Dagegen legte der Kläger am 09.11.2016 Widerspruch ein und wiederholte sein Vorbringen sowie die Auffassung, dass eine Heilungsbewährung von fünf Jahren abzuwarten sei, wie dies
Teil B Nr. 8.4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei einem malignen Lungentumor oder einem Bronchialtumor vorsehe. Auch das LWS- Leiden mit der Fußheberschwäche sei zu gering bewertet worden. Er habe infolgedessen rechts eine erhebliche Gehbehinderung. Zudem sei sein Herz geschädigt, nach dem infolge des Vorderwandinfarktes fünf Stents eingepflanzt worden seien.
Der Beklagte forderte erneut einen Befundbericht von
Dr. B. an. Mit Bericht vom 02.01.2017 schilderte die Internistin, die Atemfähigkeit des Klägers sei trotz der Rezidivfreiheit eingeschränkt. Als Befund (letzte Behandlung zuvor 17.11.2016) gab sie an, der Kläger leide unter Atemnot in Ruhe und beim Sprechen, die vermutlich durch eine Kombination aus Herz- und Lungenfunktionseinschränkung verursacht werde und die Belastbarkeit des Klägers beschränke. Nach akuten LWS-Beschwerden im Juli 2016 sei eine Besserung eingetreten. Ausfälle des Peronaeusnervs oder andere neurologische Störungen lägen nicht vor. Der Blutdruck betrage 130/80 mmHg mit normalen Werten. Neu sei eine unklare Sehstörung.
Dr. B. fügte einen Entlassungsbericht der Lungenklinik L. vom 10.06.2016 bei. Danach hatte der Kläger sich dort vom 08. bis 10.06.2016 zur diagnostischen Abklärung einer Husten- und Auswurfsymptomatik aufgehalten. Bei der Untersuchung waren keine Lymphknotenschwellungen festgestellt worden. Die Herzaktion sei rhythmisch mit reinen Herztönen und das Abtasten des Bauchbereiches sei unauffällig geblieben. Das Abhören der Lunge hatte eine Vesikuläratmung ohne Rasselgeräusche ergeben. An der Wirbelsäule gebe es keinen Klopfschmerz und der Kläger könne alle Gliedmaßen frei bewegen. Es geben keinen Druckschmerz, keine Beinumfangsdifferenzen, keine Ödeme und keine neurologischen Defizite. Der Blutdruck betrage 115/85 mmHg mit einem Puls von 81; das EKG habe keine Erregungsausbreitungs- und -rückbildungsstörungen gezeigt. Die Ganzkörperplethysmographie habe formal eine restriktive Ventilationsstörung bei Zustand nach Entfernung des rechten Lungenunterlappens ergeben (FEV1 63,7% vom Sollwert; FVC 59,4% des Sollwertes). Die Röntgenbilder des Thoraxes, der Hypopharynx und des Ösophagus hätten außer dem Operationsgeschehen keine Auffälligkeiten, insbesondere keine Ösophagusdivertikel oder -einengung und kein Refluxgeschehen aus dem Magen gezeigt. Als Zusammenfassung hielten die Ärzte fest, es habe sich weder laborchemisch noch lungenfunktionell, bronchoskopisch und röntgendiagnostisch ein wegweisender krankhafter Befund gezeigt.
Dr. B. fügte zudem den Befund der Medizinischen Klinik II des Klinikums W. vom 03.10.2016 über die Ösophagus-Gastroenterologie-Duodenoskopie am 27.09.2016 bei (Spiegelung der Speiseröhre, des Magens und des Zwölffingerdarmes). Dabei war ein Polyp abgetragen worden, der sich als nicht bösartig herausgestellt hatte.
Schließlich übersandte sie den Befund über ein MRT des Kopfes, welches wegen eines plötzlichen Sehverlustes des Klägers angefertigt worden war (Befundbericht vom
Dr. D. 20.10.2016). Danach hatte sich ein altersentsprechendes unauffälliges Neurokranium ohne Anzeichen auf einen entzündlichen oder metastatischen Herd oder eine intrakranielle Raumforderung dargestellt.
Der beteiligte versorgungsärztliche Dienst empfahl daraufhin die Berücksichtigung der Lungenerkrankung mit einem Einzel-
GdB von 30 und einen Gesamt-
GdB von 40. Dies stellte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.02.2017 ab 01.11.2016 fest, wies den Widerspruch im Übrigen zurück und führte unter anderem aus, dass die Heilungsbewährung des Lungenkarzinoids zutreffend zwei Jahre betragen habe. Unter Berücksichtigung der danach verbliebenen Lungenfunktionswerte und der Beschwerden im Operationsbereich sei nunmehr ein Einzel-
GdB von 30 angemessen.
Mit der dagegen am 21.03.2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er wiederholt seine bisherigen Gründe und betont, es sei unzulässig, die in den
Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) Teil B Nr. 10.2.2 vorgesehene Verkürzung der Heilungsbewährung bei Darmkarzinoiden auf zwei Jahre analog auch bei Lungenkarzinoiden anzuwenden. Ohne ausdrückliche Regelung bleibe es bei der allgemeinen Annahme einer Heilungsbewährung von fünf Jahren nach Entfernung eines Lungentumors.
Der Kläger beantragt seinem Vorbringen nach,
den Bescheid vom 13.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte erwidert, bereits im März 2011 hätten sich die versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärzte der Länder und der Bundeswehr in einem Arbeitskompendium darauf verständigt, die Bewertung von Karzinoiden auch bei anderen Lokalisationen als im Darm nach den verbindlichen Vorgaben der
VMG Teil B
Nr. 10.2.2 zu richten, so dass entsprechend der dortigen Regelung auch bei einem Lungenkarzinoid eine Heilungsbewährung von zwei Jahren gelte.
Auf Nachfrage der Kammer hat das Bundeministerium für Arbeit und Soziales Kopien der Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 24.04.1985 zur "Beurteilung der
MdE bei Karzinoiden", vom 29./30.03.2000 zur "Gutachtlichen Beurteilung des
GdB/
MdE-Grades bei Karzinoiden außerhalb des Magen-Darm-Traktes" und vom 04.06.2009 zur "Änderung Teil B
Nr. 10.2.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze" übersandt. Die Beteiligten haben die Gelegenheit gehabt, hierzu Stellung zu nehmen.
Der Beklagte hat sich mit Schriftsätzen vom 14.02.2018
bzw. 17.01.2019 und der Kläger mit Schriftsätzen vom 23.03.2018
bzw. 29.01.2019 mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Die zulässige Klage ist begründet, denn der Bescheid des Beklagten vom 13.10.2016 in der Fassung seines Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017 ist rechtswidrig. Der Beklagte war zu diesem Zeitpunkt nicht berechtigt, den
GdB des Klägers herabzusetzen, denn die Heilungsbewährung war noch nicht abgelaufen.
Gegenstand des Klageverfahrens ist die Anfechtung des Bescheides vom 13.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017, denn mit diesen Entscheidungen hat der Beklagte den Bescheid vom 22.07.2014, mit dem er einen
GdB von 70 festgestellt hatte, aufgehoben und den
GdB neu in Höhe von letztlich 40 festgesetzt.
Der Beklagte ist ermächtigt, einen rechtmäßigen und bestandskräftigen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, wenn die Voraussetzungen des § 48
Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (
SGB X) erfüllt sind. Danach ist ein Dauerverwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Maßgeblicher Zeitpunkt der zu beurteilenden Sach- und Rechtslage ist im Fall der Anfechtungsklage, die sich gegen die Aufhebung einer begünstigenden Festsetzung des
GdB richtet, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, Kommentar, 12. Aufl., § 54 Rn 33 m. w. N.). Maßgeblich ist daher die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides des Beklagten, die diesen dazu bewogen hat, mit Wirkung vom 01.11.2016 eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers anzunehmen.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen im vorliegenden Zusammenhang dann wesentlich, wenn sie dazu führt, dass sich der
GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. In dem Fall ist die bisherige Feststellung aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen. Ob eine derartige Änderung eingetreten ist, wird durch den Vergleich des gegenwärtigen Zustandes mit dem zuletzt bindend festgestellten Behindertenzustand ermittelt.
Der Bescheid vom 22.07.2014, mit dem der Beklagte bei dem Kläger einen
GdB von 70 festgestellt hatte, ist ein begünstigender Dauerverwaltungsakt. Der Beklagte war nach der zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 24.02.2017 maßgeblichen Sach- und Rechtslage nicht berechtigt, den
GdB bei dem Kläger ab 01.11.2016 auf 40 herabzusetzen, weil zu diesem Zeitpunkt keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten war.
Nach
§ 69 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX a. F.), durch
Art. 1 des BundesteilhabeG vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I
S. 3234) ab 1. Januar 2018 neugefasst in
§ 152 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB IX (n. F.), stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Auswirkung auf die Teilhabe eines Menschen am Leben in der Gesellschaft wird gemäß des neugefassten
§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX als Behinderung angesehen, wenn sie den Menschen körperlich, seelisch, geistig oder in seinen Sinnen beeinträchtigt und sie ihn in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern kann. Eine Beeinträchtigung im vorgenannten Sinne liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2
Abs. 1 Satz 2
SGB IX n. F.; § 2
Abs. 1 Satz 1
SGB IX a. F.). Schwerbehindert sind Menschen, wenn bei ihnen wenigstens ein
GdB von 50 vorliegt (§ 2
Abs. 2
SGB IX n.
u. a. F.). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der
GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 152
Abs. 3 Satz 1
SGB IX n. F.; § 69
Abs. 3 Satz 1
SGB IX a. F.).
Die Höhe des
GdB richtet sie sich nach den in der
Rechtsverordnung aufgestellten Grundsätzen, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit Zustimmung des Bundesrates in § 70
Abs. 2
SGB IX in der seit 15. Januar 2015 geltenden alten Fassung
bzw. nunmehr in
§ 153 Abs. 2 SGB IX n. F. ermächtigt worden ist (Versorgungsmedizin-Verordnung nebst den als Anlage zu dieser
Rechtsverordnung aufgestellten "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" -
VMG). Für die Bildung des
GdB sind die Werte der Tabelle in Teil B. der
VMG heranzuziehen. Die aufgeführten Werte beinhalten die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer gesundheitlichen Funktionsbeeinträchtigung in allen Lebensbereichen einschließlich der Einschränkung im allgemeinen Erwerbsleben, wobei der
GdB grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen ist (
VMG Teil A. Nr. 2 Buchst. a und b).
Gemäß den
VMG Teil A Nr. 7 Buchst. b) ist der Ablauf der Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48
SGB X (
vgl. hierzu auch Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 30.08.2017,
L 7 SB 8/16, Rn 39, und
L 7 SB 19/16, Rn 33; zitiert nach www.juris.de). Der Beklagte hatte im Bescheid vom 22.07.2014 zwar zutreffend angenommen, dass nach der Entfernung des Lungenkarzinoids im rechten Lungenunterlappen des Klägers bei der anschließenden Bildung des
GdB eine Heilungsbewährung zu berücksichtigen ist, denn gemäß
VMG Teil B Nr. 8.4 ist nach Entfernung eines malignen Lungentumors oder eines Bronchialtumors eine Heilungsbewährung abzuwarten. Die Überprüfung des
GdB hinsichtlich der Tumorerkrankung ab Mai 2016 entsprach jedoch nicht den anzuwendenden Vorschriften, denn nach
VMG Teil B
Nr. 8.4 beträgt die Heilungsbewährung fünf Jahre; in deren Lauf ein
GdB von wenigstens 80; bei Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades und mehr ein
GdB von 90 oder 100 anzunehmen ist. Der Beklagte hatte indes ausweislich des versorgungsärztlichen Votums wegen der Entfernung des Lungenkarzinoids für die Dauer der Heilungsbewährung von zwei Jahren einen Einzel-
GdB von 50 angenommen, weil er einer Vereinbarung der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärzte der Länder und der Bundeswehr vom März 2011 folgend, die Regelung in den
VMG für lokalisierte Darmkarzinoide (
VMG Teil B Nr. 10.2.2) auf Karzinoide aller Lokalisationen,
d. h. auch in der Lunge, entsprechend angewandt hat. Aus diesem Grund hatte er die Überprüfung des
GdB bereits im Mai 2016, also zwei Jahre nach der Resektion am 16.04.2014 eingeleitet.
Diese Vorgehensweise war nach Ansicht der Kammer rechtswidrig.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Beklagte den Kläger nicht infolge der Bestandkraft des Bescheides vom 22.07.2014 an eine zweijährige Heilungsbewährung hat binden können. Die mangels Widerspruch gemäß § 77
SGG eingetretene Bindungswirkung des Bescheides erfasst die Feststellung des
GdB von 70, nicht jedoch die Dauer der Heilungsbewährung. Zwar kann der Kläger eine Abänderung des mit diesem Bescheid festgestellten
GdB im vorliegenden Verfahren nicht erreichen, denn dieser Bescheid ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits, weil er nicht angefochten wurde. Die Dauer der Heilungsbewährung, also des Zeitraumes, in dem abgewartet wird, ob bei einer Krebserkrankung ein Rezidiv oder Metastasen auftreten, war aber nicht Bestandteil des dem Kläger bekanntgegebenen Verwaltungsakts. Ohnehin ist die Dauer der Heilungsbewährung keine Regelung, die als Bestandteil eines Bescheides individuell verbindlich festgelegt werden kann, da dies dem Charakter der Heilungsbewährung entgegensteht.
VMG Teil B Nr. 1 Buchst. c) legt hierzu fest, dass eine Heilungsbewährung abzuwarten ist nach Transplantationen innerer Organe und nach der Behandlung von Krankheiten, bei denen dies in der Tabelle vorgegeben ist. Dazu gehören vor allen bösartige Geschwulstkrankheiten. Für die häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten sind Anhaltswerte für den
GdB angegeben. Sie sind auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen. Der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre; kürzere Zeiträume werden in der Tabelle vermerkt. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Der aufgeführte
GdB bezieht den regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein. Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung -
z. B. lang dauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind zu berücksichtigen. Bei den im Folgenden (
d. h. in den
VMG Teil B
Nr. 2
ff. nicht genannten malignen Geschwulstkrankheiten ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach der Geschwulstbeseitigung - ist in den Fällen, in denen der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden für sich allein keinen
GdB von wenigstens 50 bedingt, im Allgemeinen nach Geschwulstbeseitigung im Frühstadium ein
GdB von 50 und nach Geschwulstbeseitigung in höheren Stadien ein
GdB von 80 angemessen. Bedingen der verbliebene Körperschaden oder die Therapiefolgen einen
GdB von 50 oder mehr, ist der bis zum Ablauf der Heilungsbewährung anzusetzende
GdB entsprechend höher zu bewerten.
Die
VMG Teil B
Nr. 8.4 knüpfen bei der Bewertung und der Dauer der abzuwartenden Heilungsbewährung an bösartige Tumore in Lunge und Bronchien an, unterscheiden dort aber nicht, wie bei Darmtumoren in
VMG Teil B
Nr. 10.2.2, zwischen einem bösartigen Tumor im Stadium (T1 bis T2) N0 M0 (
d. h. Tumore begrenzter Größe ohne eines evidenten Befalls von Lymphknoten und ohne Nachweis von Fernmetastasen) oder einem lokalisierten Karzinoid einerseits (
GdB 50, Heilungsbewährung zwei Jahre) und andererseits bösartigen (Darm-) Tumoren in anderen Stadien (
GdB wenigstens 80 und Heilungsbewährung fünf Jahre). In Ermangelung dessen greift bei "nicht genannten malignen Geschwulstkrankheiten" der allgemeine Grundsatz aus
VMG Teil B
Nr. 1 Buchst c), wonach ein
GdB von mindestens 50 für die Dauer einer Heilungsbewährung von fünf Jahren gilt.
Für die von den versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärzte der Länder und der Bundeswehr vorgegebene Regelung, die für die lokalen Darmkarzinoide aufgeführten Werte auf andere Bereiche analog anzuwenden, ist rechtlich kein Raum. Die Interpretation dieses Gremiums überschreitet die Grenzen, die die
VMG den Anwendern einräumen. Zwar bieten die
VMG einen - gerichtlich voll überprüfbaren - Beurteilungsspielraum bei der Anwendung des durch die Tabellenwerte gesteckten Rahmens, weil nicht alle möglichen Erkrankungen und Funktionsstörungen in diesem Regelwerk erfasst werden können. Dieser Rahmen erfährt allerdings Grenzen, die
u. a. von den
VMG selbst gesetzt werden, so dass Abweichungen von den Vorgaben der Verordnung (
bzw. der Anlage) unzulässig sind. Der aus den
VMG zitierte Grundsatz zieht eine solche Grenze. Maligne Geschwulstkrankheiten, die nicht in den
VMG genannt worden sind, bedingen bis zum Ablauf der regelmäßigen Heilungsbewährung von fünf Jahren nach der Geschwulstbeseitigung auch in den Fällen, in denen der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden für sich allein keinen
GdB von wenigstens 50 bedingt, im Allgemeinen einen
GdB von wenigstens 50.
Damit ist in der rechtlichen Systematik der
VMG verankert, dass die Heilungsbewährung regelmäßig fünf Jahre beträgt und nur in Ausnahmefällen, nämlich in den in der Tabelle benannten Fällen, kürzer bemessen ist. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis setzt insbesondere dann bei der Anwendung rechtlich enge Grenzen, wenn zum Nachteil des behinderten Menschen abgewichen werden soll. Der Beklagte beruft sich auf eine "ungeschriebene" Ausweitung durch analoge Anwendung einer für Betroffene nachteilige Ausnahmeregelung, weil dadurch die Dauer der Heilungsbewährung verkürzt und der anzunehmende
GdB reduziert wird. Hierfür gibt es nach Auffassung der Kammer keine rechtliche Grundlage.
Die Kammer sieht bereits keine Lücke, welche durch die entsprechende Anwendung einer vergleichbaren Regelung gefüllt werden müsste. Das Fehlen der Einordnung von Karzinoiden im Funktionssystem Atmung ("Brustkorb, tiefere Atemwege und Lungen") in Teil B
Nr. 8.4 der
VMG bedeutet nicht, dass eine Lücke vorliegt. Vielmehr spricht die ausdrückliche Erwähnung von Karzinoiden bei den
GdB-Werten für Darmerkrankungen dafür, dass lediglich bei den bösartigen Tumorerkrankungen des Darmes genauer zu differenzieren ist, als bei Krebserkrankungen an anderen Lokalisationen.
Mit Blick auf den Sachverstand der Autoren des Kompendiums der Leitenden Ärzte mögen Gründe dafür vorliegen, Karzinoide gleich zu behandeln und die Heilungsbewährung gleichförmig auf zwei Jahre zu verkürzen. Es spricht aber nach Ansicht der Kammer mehr dafür, dass der Verordnungsgeber bei Karzinoiden an anderen Lokalisationen bewusst von einer Differenzierung der Heilungsbewährung abgesehen hat. Denn die Verordnung kennt in diesem medizinischen Zusammenhang "vor die Klammer" gezogene Bewertungsgrundlagen. In
VMG Teil B
Nr. 1 Buchst. d) wird beispielsweise geregelt, dass ein Carcinoma in situ (Cis) grundsätzlich kein Abwarten einer Heilungsbewährung rechtfertigt. Ausgenommen hiervon sind das Carcinoma in situ der Harnblase und das Carcinoma in situ der Brustdrüse (intraduktales und lobuläres Carcinoma in situ), bei denen wegen klinischer Besonderheiten bei Vorliegen
o. g. Voraussetzungen das Abwarten einer Heilungsbewährung begründet ist.
Diese Regelung belegt die differenzierende Herangehensweise der
VMG einschließlich der ausdrücklich zugelassener Ausnahmen. Die Bewertung von Karzinoiden ist seit Jahren und auch schon vor dem Wechsel von den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" zu den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" ab 01.01.2009 Thema des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin gewesen (Tagungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 24.04.1985, zu Punkt 2.1.1 und vom 29./30.03.2000 zu Punkt 1.1.1). Der Verordnungsgeber hat weder den Wechsel zu den
VMG als Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung noch deren spätere Änderungen (zuletzt mit Wirkung vom 30.12.2016, Gesetz vom 23.12.2016, BGBl. I
S. 3234) als Gelegenheit zum Anlass genommen, die Überlegungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats oder die vom Beklagten in Bezug genommene Verständigung der Ärzte von März 2011 aufzugreifen und die
VMG zu ergänzen. Dies bedeutet für die Kammer im Umkehrschluss, dass es nicht dem Willen des Verordnungsgebers entspricht, die von den Leitenden Ärzten gefundene Abweichung einzufügen. Die versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärzte der Länder und der Bundeswehr besitzen indes nicht die Regelungskompetenz, diesen Willen zum Nachteil der behinderten Menschen außer Kraft zu setzen.
Mangels ausdrücklicher Ausnahmeregelung ist die Heilungsbewährung für Lungenkarzinoide nicht auf zwei Jahre zu verkürzen, sondern es bleibt bei der allgemeinen Regelung, also bei einer Heilungsbewährung von fünf Jahren (
vgl. im Ergebnis ähnlich zur Höhe des
GdB, Sozialgericht Gießen, Urteil vom 31.03.2014, S 21 SB 281/12, zitiert nach www.juris.de).
Weder am 01.11.2016 noch bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017 war die fünfjährige Heilungsbewährung bei dem Kläger abgelaufen, denn diese dauerte bis zum 16.04.2019 an. Die Heilungsbewährung begann nach Entfernung des Tumors, also nach der Resektion des rechten Lungenunterlappens am 16.04.2014 und endete fünf Jahre später, also frühestens am 16.04.2019. Dieses Datum markiert den frühesten Zeitpunkt, zu dem der Beklagte berechtigt gewesen war, wegen des Ablaufs der Heilungsbewährung zu prüfen, ob aufgrund des dauerhaften Ausbleibens von Rezidiven oder Metastasen eine Änderung der Verhältnisse hätte angenommen werden dürfen. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt noch andauernden Heilungsbewährung durfte der Beklagte den Bescheid vom 22.07.2014 nicht mit Wirkung vom 01.11.2016 aufheben, so dass der Bescheid vom 13.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2017 rechtswidrig war, dadurch in die Rechte des Klägers eingriff, ihn beschwerte und daher aufzuheben war.
Darauf, dass der Zeitraum der fünfjährigen Heilungsbewährung während des Gerichtsverfahrens abgelaufen ist, kommt es nicht an. Die Überprüfung des Gesundheitszustandes des Klägers seit diesem Zeitpunkt ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits, sondern der Überprüfung durch den Beklagten in einem eigenständigen Verwaltungsverfahren vorbehalten.
Die Kostenentscheidung gemäß § 193
SGG folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits. Der unterlegene Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.