Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. September 2020 geändert.
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 26. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2017 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 20. März 2017 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in voller Höhe zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (
GdB).
Bei der 1983 geborenen Klägerin, die an einer Colitis ulcerosa erkrankt war, wurde 2016 der gesamte Dickdarm und 2017 der Enddarm operativ entfernt. Der Dünndarm wurde direkt an den Afterschließmuskel genäht.
Auf den Antrag der Klägerin vom 20. März 2017 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2017 einen
GdB von 30 für die Behinderung "Verlust des Dickdarms" fest.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Cottbus hat die Klägerin einen
GdB von 50 begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Arztes für Innere Medizin und Gastroenterologie
Dr. G vom 15. März 2020 mit ergänzender Stellungnahme vom 11. Mai 2020 eingeholt, der nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27. Februar 2020 vorgeschlagen hat, für die Behinderung "gestörte Defäkationsfunktion nach Verlust des Dickdarms und des Enddarms" den Gesamt-
GdB ab Antragstellung mit 50 zu bewerten.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 7. September 2020 den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin einen Gesamt-
GdB von 40 festzustellen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Mangels erheblicher Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes der Klägerin sei eine höhere Bewertung der chronischen Darmstörungen nicht möglich. Die gestörte Defäkationsfunktion rechtfertige insgesamt die Bewertung mit einem
GdB von 40.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. September 2020 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2017 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 20. März 2017 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-
GdB von 50 mit Wirkung ab dem 20. März 2017.
Nach den
§§ 2 Abs. 1,
69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach
§ 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der
Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (
VMG) heranzuziehen.
Der Einzel-
GdB für die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin im Funktionssystem der Verdauungsorgane - und damit der Gesamt-
GdB - beträgt 50.
Die bei der Klägerin vorliegende Störung der Defäkationsfunktion nach Verlust des Dickdarms und des Enddarms ist in der
GdB-Tabelle der
VMG nicht aufgeführt und muss deshalb nach
B 1b VMG in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen beurteilt werden.
Eine Colitis ulcerosa im Sinne von
B 10.2.2 Var. 4 VMG liegt bei der Klägerin nicht mehr vor, nachdem der Dickdarm vollständig operativ entfernt wurde. Die im Zusammenhang mit der Colitis ulcerosa in B 10.2.2 Var. 4
Abs. 5
VMG genannten postoperativen Folgezustände sind "zusätzlich zu bewerten", bilden also keine eigenständige Behinderung, für die in der
GdB-Tabelle ein bestimmter Wert vorgeschrieben wird. Eine Bewertung der Behinderungen der Klägerin als chronische Darmstörungen (irritabler Darm, Divertikulose, Divertikulitis, Darmteilresektion) im Sinne von B 10.2.2 Var. 1
VMG kommt nicht in Betracht, da bei ihr nicht nur ein Teil des Darmes, sondern der gesamte Dickdarm und der gesamte Enddarm entfernt wurden. Darüber hinaus wird die in B 10.2.2 Var. 1
VMG vorgenommene Abstufung " ohne wesentliche Beschwerden und Auswirkungen" (
Abs. 1), "mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen
(z. B. Durchfälle, Spasmen)" (
Abs. 2) und "mit erheblicher Minderung des Kräfte- und Ernährungszustandes" (
Abs. 3) den konkret bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht gerecht. Auch die in B 10.2.4 aufgeführte Afterschließmuskelschwäche
bzw. der Funktionsverlust des Afterschließmuskels treffen, worauf der Sachverständige
Dr. G überzeugend hinweist, den Zustand der Klägerin nicht eindeutig.
Nach den nachvollziehbaren Darlegungen des Gutachters hat der Verlust von Dickdarm und Enddarm für die Klägerin zur Folge, dass eine Sensibilität für den Füllungszustand des Enddarmes nicht mehr vorhanden ist. Es ist ihr nicht möglich, zu unterscheiden, ob der Darm mit Gas, Flüssigkeit oder festem Darminhalt gefüllt ist. Sie kann weder kontrolliert Blähungen ablassen, ohne dass gleichzeitig Stuhl abgeht, noch hat sie ein sicheres Gefühl dafür, ob ein Toilettengang erforderlich ist oder ob sie versuchen kann, den Stuhlgang noch eine Weile zurückzuhalten. Im Gegensatz zu Patienten, die ihren Dickdarm verloren haben, bei denen aber der Enddarm erhalten geblieben ist, läuft bei der Klägerin das funktionelle Zusammenspiel zwischen der Sensibilität im Enddarm und der motorischen Funktion des Afterschließmuskels nicht mehr koordiniert ab. Damit ist sie sozial erheblich beeinträchtigt, da sie hinsichtlich des Umgangs mit anderen Menschen (beispielsweise bei Einladungen, bei Besuchen öffentlicher Veranstaltungen, bei der Arbeit) eingeschränkt ist. Sie ist darauf angewiesen, dass sie eine Toilette in kurzer Zeit erreichen kann, da sie täglich sechs- bis zehnmal den Darm entleeren muss. In Analogie zu den in B 10.2.2 Var. 1 und 4
VMG und in B 10.2.4
VMG genannten Gesundheitsstörungen ist nach Überzeugung des Senats die Behinderungen im Funktionssystem der Verdauungsorgane mit einem
GdB von 50 zu würdigen. Hierbei werden die Auswirkungen der Entfernung des Dickdarmes und des Mastdarmes (entsprechend B 10.2.2 Var. 1
VMG), die postoperativen Folgezustände (entsprechend B 10.2.2 Var. 4
Abs. 5
VMG) und die komplexe Störung der Stuhlentleerung (entsprechend B 10.2.4
VMG) berücksichtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht erfüllt.