Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Übernahme von Kosten (1.995,63
EUR) für eine konduktive Therapie nach Petö (im Folgenden: Petö-Therapie) für eine blockweise durchgeführte Therapie in der Zeit vom 26.03.2018 bis zum 13.04.2018 im Zentrum für konduktive Therapie, P.
Die am 00.00.2005 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer bilateralen rechtsbetonten spastischen Tetraparese (unvollständige Lähmung aller vier Extremitäten), einer Dysarthie (Sprachstörung), einer Intelligenzminderung bei Schizenzephalie (Fehlbildung des Gehirns) sowie Epilepsie. Bei ihr sind ein
GdB von 100 sowie die Merkzeichen G, aG und H sowie der Pflegegrad 5 festgestellt. Die Klägerin besuchte 2018 die 7. Klasse der K Schule (Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung) in Krefeld. Sie bezog während des streitbefangenen Leistungszeitraums in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer alleinerziehenden Mutter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II unter Anrechnung von Erwerbseinkommen der Mutter (Bewilligungsbescheid des Jobcenters S vom 27.07.2017). Die Mutter ist allein sorgeberechtigt für die Klägerin.
Die Klägerin nimmt seit 2015 an Petö-Blocktherapien im Zentrum für konduktive Therapie in P teil. Teilweise wurde die Finanzierung vom Beklagten übernommen. Zuletzt vor dem streitigen Zeitraum nahm die Klägerin vom 23.10.2017 bis zum 10.11.2017 an einer entsprechenden Blocktherapie teil. Die Übernahme dieser Kosten lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 25.10.2017 ebenfalls ab.
Die jetzt streitige Leistung beantragte die Klägerin unter Beifügung eines Kostenvoranschlags des Beigeladenen über 1995,63
EUR am 08.02.2018. Sie fügte u.a. den Bericht über die vom 23.10.2017 bis zum 10.11.2017 durchgeführte konduktive Therapie, einen Arztbrief des F Krankenhauses Oberhausen (FKO) vom 07.11.2017, eine Stellungnahme des jugendärztlichen Dienstes des Gesundheitsamtes des Beklagten mit Empfehlung der Durchführung der Petö-Therapie zweimal jährlich für die nächsten drei Jahre, eine befürwortende Stellungnahme des Leiters der K Schule vom 06.09.2017 und einen Bericht dieser Schule über die Auswirkungen der Petö-Therapie auf ihre Schulfähigkeit bei.
Mit Bescheid vom 26.02.2018 lehnte der Beklagte die Kostenübernahme ab. Es handele sich bei der begehrten Leistung um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation, die positiven Auswirkungen der Therapie auf kognitive Fähigkeiten und persönliche Motivation stünden dieser Zuordnung nicht entgegen. Damit sei eine Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger ausgeschlossen.
Am 03.03.2018 erhob die Klägerin Widerspruch. Parallel dazu beantragte sie bei dem Sozialgericht Düsseldorf, den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung zur Übernahme der Kosten zu verpflichten (S 22 SO 87/18 ER). Mit rechtskräftigem Beschluss vom 21.03.2018 verpflichtete das Sozialgericht den Beklagten, die Kosten für die Petö-Therapie vom 26.03.2018 bis zum 13.04.2018 vorläufig zu übernehmen. Mit Ausführungsbescheid vom 28.03.2018 übernahm der Beklagte vorläufig die Kosten, die Rechnung ist bezahlt. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2018 (zugestellt am 20.07.2018) wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen richtet sich die am 20.08.2018 erhobene Klage. Die Klägerin hat eine ärztliche Bescheinigung der Kinder- und Jugendmedizinerin A vom 20.08.2018 vorgelegt, wonach die Petö-Blocktherapie ihre Selbständigkeit verbessere und sich auf ihre motorischen und sprachlichen Fähigkeiten deutlich positiv auswirke.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2018 in Form des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2018 zu verurteilen, ihr Eingliederungshilfe nach
§§ 53,
54 SGB XII in Form der Kostenübernahme für die Konduktive Förderung nach Petö für die Blocktherapie im Zeitraum vom 26.03.2018 bis 13.04.2018 in dem Zentrum für Konduktive Therapie in P iHv 1995,63
EUR zu bewilligen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat den Bericht des Beigeladenen über die streitbefangene Therapie sowie einen Arztbrief des FKO vom 20.04.2018 vorgelegt. Hieraus folge, dass die Therapie vor allem auf eine Verbesserung der motorischen Fähigkeiten abgezielt habe. Damit sei sie der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen und scheide eine Kostenübernahme aus.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von
Dr. B, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Krankenhaus H vom 09.01.2019. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten verwiesen.
Mit Urteil vom 12.04.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung ihrer selbstbeschafften Leistung, weil die Voraussetzungen für einen entsprechenden Sachleistungsanspruch nicht vorlägen. Zwar erfülle die Klägerin die personenbezogenen Anspruchsvoraussetzungen von § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII. Die durchgeführte Petö-Therapie stelle jedoch keine soziale Rehabilitationsleistung, insbesondere keine Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung iSd § 54
Abs. 1 Satz 1
Nr. 1
SGB XII dar, sondern diene unmittelbar der medizinischen Rehabilitation. Die sozialen Rehabilitationszwecke würden lediglich mittelbar verfolgt. Als medizinische Rehabilitation sei die Erbringung nach den Heilmittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA)
gem. § 138 SGB V ausgeschlossen, dies sei auch für den Anspruch gegen den Sozialhilfeträger relevant.
Gegen das dem Bevollmächtigten der Klägerin am 27.06.2018 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 26.07.2018. Die angestrebten und erreichten Verbesserungen der motorischen Fähigkeiten stellten kein Ausschlusskriterium für die Kostenübernahme dar. Bei der Petö-Therapie handele es sich um eine ganzheitliche Methode, die zum Ziel habe, dass der behinderte Mensch selber seine Behinderung erkennt und an einer Verbesserung seiner Fähigkeiten arbeite. Aus dem Urteil des
BSG vom 29.09.2009 -
B 8 SO 19/08 R folge eine grundsätzliche Übernahmefähigkeit dieser Therapie, die aber unter Zugrundelegung des rechtlichen Ansatzes des Sozialgerichts bei grundsätzlicher Untrennbarkeit der motorischen Verbesserungen von den sozialen Fähigkeiten im Ergebnis immer ausscheide. Dies sei nicht verfassungsgemäß.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.04.2019 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2018 in Form des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2018 zu verurteilen, ihr Eingliederungshilfe nach den §§ 53, 54
SGB XII in Form der Kostenübernahme für die Konduktive Förderung nach Petö für die Blocktherapie im Zeitraum vom 26.03.2018 bis 13.04.2018 in dem Zentrum für Konduktive Therapie in P iHv 1995,63
EUR zu bewilligen
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ergänzend macht er geltend, alternative medizinische Therapieformen, wie eine rehabilitative Maßnahme oder sozialpädiatrische Blocktherapie unter Einbeziehung von Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Motopäden, Heilpädagogen und Sozialpädagogen seien ebenso geeignet, den Eingliederungsbedarf der Klägerin abzudecken.
Der Senat hat den Beschluss zu den Heilmittelrichtlinien des GBA vom 21.12.2004 mit den Anlagen "Beschlusstext", "Tragende Gründe zum Beschluss" sowie "Zusammenfassende Dokumentation" (www.g-ba.de/beschluesse/172) sowie Ausführungen der evangelischen Fachhochschule Nürnberg zum Berufsbild der Konduktorin beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Die Beteiligten haben sich mit der Verwertung dieser Unterlagen einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
1. Die Berufung ist zulässig. Streitgegenstand des Verfahrens ist - ungeachtet des Umstands, dass der Beklagte durch einstweilige Anordnung des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.03.2018 im Verfahren S 22 SO 87/18 ER zur einstweiligen Kostenübernahme verpflichtet worden ist - weiterhin der Schuldbeitritt zu dem zivilrechtlichen Vertrag zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen (hierzu
BSG Urteil vom 20.04.2016 -
B 8 SO 20/14 R) unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 26.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2018. Zutreffende Klageart ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, gerichtet auf den Erlass eines Verwaltungsakts, mit dem der Beklagte erklären soll, der Schuld der Klägerin aus dem zivilrechtlichen Vertrag mit dem Beigeladenen beizutreten (Sachleistungsverschaffung). Der Ausführungsbescheid vom 28.03.2018 ist nicht Gegenstand des Verfahrens geworden (
BSG Urteil vom 20.04.2016 - B 8 SO 20/14 R).
Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist weiter wirksam. Der Bescheid hat sich nicht durch die mit Wirkung vom 01.01.2020 erfolgte Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht des
SGB XII und seine Überführung in das
SGB IX und die Zuständigkeitsregelung in
§ 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX, wonach für die von der Klägerin begehrte Leistung nunmehr die Träger der Eingliederungshilfe und nicht mehr die Träger der Sozialhilfe, die auch keine Rehabilitationsträger mehr sind, zuständig sind (
vgl. dazu
BSG Beschluss vom 25.06.2020 -
B 8 SO 36/20 B), erledigt iSd § 39
Abs. 2
SGB X. Eine solche Erledigung mag diskutiert werden für Fälle, in denen ein Bescheid angefochten wird, der Bedarfe betrifft, die über den 31.12.2019 hinaus bestehen (hierzu
BSG Urteil vom 28.01.2021 -
B 8 SO 9/19 R BSG Beschluss vom 25.06.2020 -
B 8 SO 36/20 B; verneinend
LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 10.11.2020 - L 8 SO 84/20 ER m.
Anm. Zieglmeier, NZS 2021, 232). Dann kann die Frage aufgeworfen werden, ob und ggfs. in welchen Konstellationen angesichts der Neukonzipierung des Rechts der Eingliederungshilfe (hierzu nur Eicher in JurisPK
SGB XII Anhang § 19 Rn. 2) sich Ablehnungsbescheide ab 01.01.2020 erledigt haben. Vorliegend handelt es sich demgegenüber um einen allein vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts bestehenden Bedarf aus dem Jahre 2018, der durch einen Schuldbeitritt, also eine Freistellung von einer bestehenden zivilrechtlichen Verpflichtung, gedeckt werden soll. Eine solche bei Rechtswidrigkeit der Ablehnung vor dem 01.01.2020 bestehende Verpflichtung des Beklagten wird durch die Neukonzipierung des Eingliederungshilferechts und eine damit
evtl. einhergehende neue Trägerschaft ab Januar 2020 nicht berührt.
2. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten Kosten.
Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist
§ 19 Abs. 3 iVm §§ 53 Abs. 1 Satz 1,
54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII,
§ 55 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) in der für den streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Fassung (zum Geltungszeitraumprinzip in der Sozialhilfe
vgl. LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 27.11.2019 - L 7 SO 3873/19 ER B unter Hinweis auf die entsprechende Rechtsprechung des
BSG im
SGB II).
Der Beklagte ist als Träger der Sozialhilfe für die als Eingliederungshilfe beantragte Petö-Therapie sowohl örtlich als auch sachlich zuständig (§ 97
Abs. 1
SGB XII iVm § 1
Abs. 2
AG-
SGB XII Nordrhein-Westfalen in der ab 01.01.2018 gF). Die hiernach bestehenden Ausnahmevorschriften zur sachlichen Zuständigkeit sind nicht einschlägig. Im Übrigen ergibt sich die Zuständigkeit des Beklagten im maßgeblichen Außenverhältnis zur Klägerin aus
§ 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB IX, da er hinsichtlich des hier maßgebenden Antrags erstangegangener Rehabilitationsträger für die beantragten Teilhabeleistungen ist und den Antrag nicht (fristgerecht) an einen anderen Rehabilitationsträger, etwa die Krankenkasse oder den
LVR, weitergeleitet, sondern diesen vielmehr beschieden hat.
Die Klägerin erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen für Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII, da sie wegen einer körperlichen und geistigen Behinderung iSd
§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt ist (
vgl. auch §§ 1, 2 der bis zum 31.12.2019 geltenden EinglHV).
Bei der streitgegenständlichen Petö-Blocktherapie handelt es sich abweichend zu der Auffassung des Beklagten und der angefochtenen Entscheidung um eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Teilhabe). Es handelt sich im vorliegenden Fall nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation, die mangels Anerkennung als Heilmittel iSd
§ 138 SGB V auch nicht als Leistung der Eingliederungshilfe erbracht werden könnte (hierzu
BSG Urteil vom 28.08.2018 - B 8 SO 5/17 R).
Nach § 54
Abs. 1 Satz 1
SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe u.a. Leistungen nach § 55
SGB IX in der am 31.12.2017 gF. Hiernach werden als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen. Leistungen sind nach § 55
Abs. 2
Nr. 3
SGB IX aF insbesondere u.a. Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Nach § 54
Abs. 1 Satz 1
Nr. 1
SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe zudem insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu. Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung umfasst auch heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 12
Nr. 1 der bis zum 31.12.2019 geltenden EinglHV).
Nach ständiger Rechtsprechung des
BSG richtet sich die Abgrenzung von Leistungen zur sozialen Teilhabe zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen, entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck (
BSG Urteile vom 28.08.2018 - B 8 SO 5/17 R
BSG und vom 29.09.2009 -
B 8 SO 19/08 R). Leistungen der medizinischen Rehabilitation setzen an der Krankheit selbst und ihren Ursachen an. Leistungen zur sozialen Teilhabe zielen hingegen darauf, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, oder den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden. Daher dienen die Leistungen zur sozialen Teilhabe unter Zugrundelegung eines individualisierten Förderverständnisses dazu, soziale Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern. Für die Abgrenzung von medizinischer Rehabilitation und sozialer Teilhabe ist maßgeblich, ob die Therapie direkt an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt oder unmittelbar die sozialen Folgen einer Behinderung beseitigen
bzw. mildern soll. Dementsprechend bleiben lediglich mittelbar verfolgte Zwecke und Ziele außer Betracht. Dies bedeutet nicht, dass eine Leistungserbringung, die an der Behandlung der behinderungsbedingten Störung ansetzt, nicht gleichzeitig mit dem Ziel durchgeführt werden kann, die sozialen Folgen einer Behinderung zu beseitigen
bzw. zu mildern und umgekehrt. Eine Maßnahme kann ausgehend von einer am Einzelfall orientierten, individuellen Beurteilung vielmehr auch mehrere unterschiedliche Zwecke haben, sodass sich die Leistungszwecke des
SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Teilhabe überschneiden und (bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen) die Leistungspflicht des Rehabilitationsträgers für soziale Teilhabe begründen können, wenn die Leistung nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation erbracht wird (
BSG Urteil vom 28.08.2018 - B 8 SO 5/17 R; Urteile des Senats vom 04.06.2020 - L 9 SO 259/18, vom 25.07.2019 - L 9 SO 317/17 und vom 06.12.2018 - L 9 SO 224/16).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann die Petö-Therapie eine Leistung der sozialen Teilhabe darstellen:
In dem beigezogenen "Zusammenfassenden Bericht" des Unterausschusses "Heil- und Hilfsmittel" des GBA über die Beratungen gemäß
§ 138 SGB V vom 18.05.2005 wird die Petö-Therapie als Methode beschrieben, deren wichtigstes Ziel die selbstständige Eingliederung in die Gesellschaft, in den normalen Kindergarten oder die Regelschule ist. Merkmale der konduktiven Förderung nach Petö sind hiernach die Förderung der eigenen Aktivität des Kindes, die Anregung der Kommunikation mit den nächsten Bezugspersonen und der Umwelt, eine handlungsbegleitende Einbindung der Sprache, die Arbeit in der Gruppe zur Verbesserung der Motivation, die Diagnostik, Planung und Behandlung in der Hand der Konduktorin, die Verstärkung der Lernerfolge durch Konditionierung, der Einsatz von einfachen und funktionsorientierten Hilfsmitteln und eine Komplexbehandlung, die mehrere Stunden am Tag möglichst über Wochen oder Monate erfolgen muss und pädagogische
bzw. heilpädagogische sowie funktionell therapeutische orientierte Aspekte umfasst. Die Therapie beruht auf der Vorstellung, dass bei den bewegungsgestörten Kindern lediglich Lernhindernisse bestehen, die es zu überwinden oder zu kompensieren gilt. Im Mittelpunkt steht die Förderung der eigenen Aktivität der Kinder, die selbst Wege finden sollen, Ziele, die ihnen vorgeschlagen werden, oder die sie selbst vorhaben, zu erreichen. Auf dem Weg zu diesem Ziel sollen sie selbst lernen, insbesondere ihre motorischen Fertigkeiten zu verbessern. Von ungarischen Autoren und Ausbildern am "Petö-Institut" in Budapest wird nach den Darlegungen des GBA immer wieder betont, dass die Aufgabe der Konduktorin vorrangig als eine pädagogische Aufgabe anzusehen ist.
Der Senat hat keine Bedenken, diese Ausführungen des GBA als dem für die Qualitätssicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zuständigen Gremium (
§ 92 Abs. 1 SGB V) für die Einschätzung der Therapie seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Petö-Therapie gerade keine rein medizinische, einer physikalischen Therapie vergleichbare krankengymnastische Leistung ist, sondern der pädagogische Ansatz im Vordergrund steht. Hierfür spricht auch, dass der seit kurzem bei der Evangelischen Hochschule Nürnberg angebotene Studiengang Heilpädagogik mit Studienschwerpunkt Konduktive Förderung und Inklusion zu einem heilpädagogischen Abschluss führt.
Den grundsätzlich heilpädagogischen Ansatz der Petö-Therapie hat der Senat auch in seiner bisherigen Rechtsprechung anerkannt (
vgl. nur Urteile vom 04.06.2020 - L 9 SO 259/18, vom 25.07.2019 - L 9 SO 317/17, vom 06.12.2018 - L 9 SO 224/16 und vom 10.02.2011 - L 9 SO 11/08).
Die Annahme, bei der konkret durchgeführten streitgegenständlichen Maßnahme handele es sich ungeachtet dessen um eine medizinische Maßnahme, bedarf deshalb einer besonderen Begründung im Einzelfall dahingehend, dass der ganzheitliche heilpädagogische Ansatz nicht verfolgt worden ist, sondern eine rein medizinische Behandlung durchgeführt worden ist. Dementsprechend hat der Senat im Urteil vom 06.12.2018 - L 9 SO 224/16 für wesentlich gehalten, dass bei der dortigen Klägerin, die eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten erfolgreich absolviert hatte, die eigentliche Funktionsdefizite stets im motorischen, nicht aber im für eine Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft besonders bedeutsamen kognitiven Bereich lägen. Der Kläger aus dem Verfahren L 9 SO 317/17 (Urteil vom 25.07.2019) besuchte bei erheblichen motorischen Einschränkungen aber ohne geistige Behinderung die Realschule mit gut durchschnittlichem Erfolg. Dem Urteil vom 04.06.2020 - L 9 SO 259/18 lag umgekehrt eine Fallgestaltung zugrunde, in der aufgrund einer schwersten geistigen Behinderung der Klägerin kognitiven Defiziten auch durch die Petö-Therapie kaum begegnet werden konnte. Mit diesen Fallgestaltungen ist die Klägerin nicht zu vergleichen. Sie leidet unter einer deutlichen geistigen Behinderung, die neben den körperlichen Defiziten einer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen, ist aber andererseits in der Lage, durchaus mit Gewinn am Schulunterricht teilzunehmen (
vgl. zB das Zeugnis der K Schule über das Schuljahr 2017/2018) und mit der Konduktorin zusammenzuarbeiten (zu diesem Aspekt
OVG Lüneburg Urteil vom 22.01.2003 -
4 LB 316/02).
Angesichts der vorliegenden Unterlagen steht fest, dass die Petö-Therapie im Falle der Klägerin prognostisch auch zur Verbesserung einer Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft beigetragen hat, indem sie jedenfalls zur Verbesserung der Beschulungsfähigkeit geeignet war und ihr den Schulbesuch jedenfalls erleichtert hat. Aus dem Bericht der Schule vom 27.04.2017 über die Auswirkungen der im Wesentlichen vergleichbaren Blocktherapie von Ostern 2017 folgt, dass die Therapie - vollständig entsprechend ihrem Konzept - die Eigenständigkeit und Selbständigkeit der Klägerin gefördert hat. Die Petö-Therapie der Klägerin diene dem "Bewusstsein in Bezug auf eine möglichst große Selbständigkeit". Der Bericht über die streitbefangene Therapie vom 15.05.2018 beschreibt zwar ieL auf die Motorik bezogene Übungen. Dies steht jedoch der Bejahung des heilpädagogischen Ansatzes nicht entgegen, da die Mobilitätsverbesserung gerade der Zugang zu den ganzheitlich verfolgten heilpädagogischen Zielen ist. So ergibt sich aus dem Therapiebericht, dass als vorrangiges Ziel eine "Verbesserung der Ausdauer und Belastbarkeit" angestrebt wurde. Die Kinderärztin A betont dementsprechend in ihrem Bericht vom 20.08.2018 eine Verbesserung der Selbständigkeit der Klägerin durch die Petö-Therapie. Das FKO beschreibt in dem Arztbrief vom 20.04.2018 ebenfalls eine "Stärkung der Ausdauer und Belastbarkeit" als Behandlungsziele. Das Ziel einer kognitiven Förderung hatte bei der Förderung der Klägerin damit eine erhebliche Bedeutung und war keineswegs nur ein Nebeneffekt. Aus dem Gutachten von
Dr. B folgt nichts Abweichendes. Die relevanten Beweisfragen beantwortet der Gutachter dahingehend, dass die durchgeführte Petö-Therapie eine von Hilfe und Pflege unabhängigere Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und am Schulalltag ermöglichen sollte und geeignet war, der Klägerin den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu erleichtern. Der Gutachter hat ausgeführt, dass auch die in den Blocktherapieberichten dokumentierte Verbesserung des Selbstwertgefühls der Kläger zu einer besseren Arbeitshaltung und -motivation in der Schule geführt hat. Genau dieses Ziel entspricht dem heilpädagogischen Ansatz der Therapie. Umgekehrt zur Auffassung des Beklagten ist dieses Ziel bei einer medizinischen Behandlung lediglich ein Nebeneffekt, bei einer Petö-Therapie jedoch Kern und Zweck der therapeutischen Bemühungen.
Der Umstand, dass der GBA die Petö-Therapie nicht als Heilmittel iSd § 138
SGB V zugelassen hat, ändert an der Bewertung nichts, da es gerade nicht um die Zulassung der Methode zur Krankenbehandlung iSd
§ 27 SGB V geht. Die Petö-Therapie als medizinisch-therapeutische, psychologische und pädagogische Ganzheitsmethode zur Behandlung einer Zerebralparese ist als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie als Heilmittel in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden darf (
BSG Urteil vom 29.09.2009 - B 8 SO 19/08 R; Urteil des Senats vom 10.02.2011 - L 9 SO 11/08).
Die durchgeführte Therapie ist iSd
§ 4 Abs. 1 SGB IX notwendig gewesen. Diese Voraussetzung ist bei jeder Eingliederungsmaßnahme zu prüfen. Sie ist zu bejahen, wenn eine grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist, die
gem. § 53
Abs. 3 Satz 1
SGB XII darin liegen, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (
vgl. BSG Urteil vom 12.12.2013 -
B 8 SO 18/12 R). Die Eignung der Therapie zur Erreichung eines Eingliederungserfolges (bei dieser Feststellung handelt es sich nicht um eine medizinische Frage, dazu
BVerwG Urteil vom 30.05.2002 -
5 C 36/01;
OVG Lüneburg Urteil vom 22.01.2003 - 4 LB 316/02) wird insbesondere durch den Bericht der K Schule vom 27.04.2017 dokumentiert, in dem die "Verbesserungen durch die Petö-Therapie" im Sinne einer größeren Selbständigkeit und Eigenmotivation der Klägerin beschreiben werden. Anhaltspunkte dafür, dass diese Ausführungen für die hier streitige Ostertherapie 2018 nicht zutreffen, sind nicht ersichtlich. Die Therapie war auch unentbehrlich, da bei der Klägerin ein behinderungsbedingter Bedarf bestand und anderweitige gleichwertige Therapieansätze nicht ersichtlich sind. Der Beklagte hat in der Vergangenheit Petö-Blocktherapien finanziert und die Klägerin nicht auf alternative Behandlungsmethoden verwiesen.
Der Umstand, dass der Beklagte mit dem Leistungserbringer keine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung iSd § 75
Abs. 3
SGB XII in der bis zum 25.04.2019 gF abgeschlossen hat, steht einem Anspruch der Klägerin bei der hier gegeben rechtswidrigen Ablehnung des Anspruchs bereits dem Grunde nach nicht entgegen (hierzu
BSG Urteile vom 22.03.2012 - B 8 SO 30/10 R und vom 09.12.2008 -
B 8/9b SO 10/07 R).
Der Senat kann offen lassen, ob es sich bei der in Anspruch genommenen Petö-Therapie um eine allgemeine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft oder speziell um Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung handelt und sich die Klägerin
bzw. ihre Mutter/Eltern (
§ 19 Abs. 3 SGB XII)
gem. § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht an den Kosten beteiligen müssen. Für letzteres spricht viel (zum Erfordernis eines spezifischen Schulbezugs vergl.
BSG Urteil vom 20.09.2012 -
B 8 SO 15/11 R), aber eine Kostenbeteiligung scheidet ohnehin aus, da die Klägerin und Ihre Mutter hilfebedürftig iSd § 9
SGB II sind und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II beziehen (zur Nichtberücksichtigung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II als Einkommen iSd § 82
SGB XII vergl. Schmidt in JurisPK
SGB XII § 82 Rn. 41).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) liegen nicht vor.