Urteil
Beurteilung des GdB - Diabetes mellitus - aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand - AHP 2004

Gericht:

LSG Baden-Württemberg


Aktenzeichen:

L 3 SB 2251/05


Urteil vom:

16.08.2006


Tatbestand:

Streitig ist die Schwerbehinderteneigenschaft bzw. ein höherer Grad der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertenrecht.

Bei dem 1953 geborenen Kläger war zuletzt mit Bescheid des (damaligen) Versorgungsamts (VA) vom 30.9.2002 ein (Gesamt-) GdB von 40 ab 22.3.2002 festgestellt und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit anerkannt. Als Funktionsbeeinträchtigungen waren "Diabetes mellitus (mit einem Einzel-GdB von 30), Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes (10), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10), Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke (10)" angeführt. Die Beklagte ging dabei von einem durch Diät und Insulinbehandlung ausreichend einstellbaren Diabetes mellitus aus.

Am 10.7.2003 beantragte der Kläger die Neufeststellung bzw. die Erhöhung des GdB mit der Begründung, er müsse wegen seines Diabetes mellitus sechs bis acht Mal täglich Insulin spritzen. Nach einem Urteil des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 5.3. 2003 - S 31 SB 388/01 - stehe ihm deshalb ein höherer GdB zu. Das VA holte dazu Befundberichte von Dr. von D. vom 25.7.2003 und von Dr. F. vom 22.12.2003 ein, ferner die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. Schwab vom 10.2.2004, der Einzel-GdB für den Diabetes mellitus wurde darin mit 40 bewertet. Mit Bescheid vom 20.2.2004 lehnte das VA den Neufeststellungsantrag mit der Begründung ab, trotz der neu hinzugekommenen Funktionsbeeinträchtigung Bluthochdruck (10) verbleibe es bei dem bisher festgestellten GdB von 40.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, nach dem vorgelegten Urteil des SG Düsseldorf müsse ihm wegen der Anzahl von Insulininjektionen ein GdB von 50 bis 60 zuerkannt werden. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.4.2004 zurück. In den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 30.9.2002 zu Grunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung, die eine Erhöhung des bisherigen GdB rechtfertigen könnte, nicht eingetreten. Die neu hinzugekommene Funktionsbeeinträchtigung "Bluthochdruck" mit einem Einzel-GdB von 10 erhöhe den Gesamt-GdB nicht, bezüglich der anderen Funktionsstörungen sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten, diese seien auch weiterhin zutreffend bewertet. Beim Kläger liege ein sekundärer insulinpflichtig gewordener Diabetes Typ 2 ohne Folgeschäden vor, bedrohliche und wiederkehrende Hypoglykämien bzw. erhebliche wiederkehrende Stoffwechselentgleisungen lägen nicht vor.

Dagegen hat der Kläger am 13.5.2004 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgebracht, er leide an einem Diabetes mellitus Typ 2. Er sei darauf zwar gut eingestellt, müsse aber mehrmals täglich den Blutzuckerspiegel messen, die Insulindosis bestimmen und sich selbst mehrmals am Tag Insulin spritzen. Nach dem GdB-Katalog der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) sei dies mit einem GdB von 50 bis 60 zu bewerten. Bezüglich des Diabetes mellitus seien die von der Beklagten angewandten "Anhaltspunkte" nicht mehr zugrunde zu legen, weil sie nicht mehr dem medizinischen Kenntnisstand entsprächen, den derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand stelle der Katalog der DDG dar. Danach sei für die Festsetzung des GdB maßgebend, wie häufig Insulin gespritzt werden müsse, um keine Über- bzw. Unterzuckerung entstehen zu lassen.

Das SG hat sachverständige Zeugenauskünfte von Dr. von D. vom 30.7.2004 und von Dr. F. vom 12.8.2004 eingeholt. Es hat sodann von Dr. S. das orthopädische Gutachten vom 17.12.2004 und von Dr. L. das internistische Gutachten vom 15.2.2005 eingeholt. Dr. S. hat der Bezeichnung und Bewertung der Behinderungen im angefochtenen Bescheid vom 20.2.2004 zugestimmt. Dr. L. hat einen Typ-2-Diabetes mit intensivierter Insulintherapie bei guter bis befriedigender Einstellung ohne Hinweise für Stoffwechselinstabilitäten oder eine schwere Einstellbarkeit und ohne Anhalt für Komplikationen i. S. eines diabetischen Spätsyndroms festgestellt. Auch Dr. L. hat mit der Bezeichnung der Funktionsbeeinträchtigungen im angefochtenen Bescheid übereingestimmt und den Gesamt-GdB auf 40 eingeschätzt.

Das SG hat die Beteiligten auf die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen. Der Kläger hat daraufhin mitgeteilt, ihm sei eine Stellungnahme der DDG zur Neufassung der Anhaltspunkte avisiert worden, ferner habe er selbst ein Gutachten zur Frage der maßgeblichen Bewertungsgrundlagen beim Diabetes mellitus in Auftrag gegeben. Dessen ungeachtet hat das SG durch Gerichtsbescheid vom 4.5.2005 die Klage abgewiesen. Einer Entscheidung nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) stehe nichts entgegen; die Sache weise keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf, auch sei der Sachverhalt geklärt. Die Klage sei nicht begründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als von 40. Nach ausführlicher Darstellung der einschlägigen Rechtsgrundlagen hat das SG festgestellt, die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen/Behinderungen bedingten keinen höheren GdB als von 40. Eine wesentliche Änderung sei damit nicht eingetreten. Für die Bewertung des GdB beim Diabetes mellitus seien nach wie vor die Anhaltspunkte 2004 maßgebend und dies entsprächen - entgegen den Ausführungen des SG Düsseldorf - weiterhin dem herrschenden wissenschaftlichen Kenntnisstand. Dies hätten inzwischen bereits mehrere Landessozialgerichte entschieden. Auch der Ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion Versorgungsmedizin - beim Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) habe in einer Stellungnahme vom 24.5.2004 daran festgehalten, dass die Zielgröße der versorgungsmedizinischen Begutachtung zur Feststellung eines GdB die Auswirkung einer durch die Gesundheitsstörung verursachten Funktionseinschränkung auf die Teilhabe an der Gesellschaft bzw. in allen Lebensbereichen sei. Beim Diabetes mellitus orientiere sich diese Größe an dem Typ der Erkrankung, der Einstellbarkeit und der Art und dem Ausmaß von Komplikationen. Diese Einteilung sei nach wie vor sachgerecht und entspreche dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Medizin. Die Anhaltspunkte 2004 entschieden wie auch bereits die von 1996 bei der GdB-Bewertung zu Recht nicht nach dem Therapieaufwand, sondern stellten weiterhin im wesentlichen auf den Typ der Erkrankung, auf Einstellbarkeit und Art sowie Ausmaß von Komplikationen ab.

Unter Zugrundelegung dieser Anhaltspunkte 2004 seien die Sachverständigen Dr. S. und Dr. L. schlüssig und überzeugend zu der Einschätzung gelangt, dass der Gesamt-GdB im Einklang mit den Anhaltspunkten Nr. 19 weiterhin auf 40 zu schätzen sei. Dieser Einschätzung werde gefolgt. Die Ankündigung des Klägers, noch ein privates Gutachten/eine private Stellungnahme vorlegen zu wollen, hindere das Gericht nicht an einer Entscheidung. Im Übrigen könnten die Anhaltspunkte als antizipierte Sachverständigengutachten nicht durch ein Einzelfallgutachten oder Auslegung entgegen dem klaren und eindeutigen Wortlaut hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden. Die Klage sei deswegen abzuweisen.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 2.6.2005 Berufung eingelegt. Er macht zum einen geltend, es sei zusätzlich eine Polyneuropathie als weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Diese Polyneuropathie sei bei der von ihm veranlassten Begutachtung durch Prof. Dr. I. (Gutachten vom 27.5. 2005) festgestellt worden. Für die gesundheitliche Beeinträchtigungen durch die Polyneuropathie sei eine Einzel-GdB von 30 festzusetzen, deswegen sei ein Gesamt-GdB von mindestens 50 festzusetzen. Er bleibt auch unter Wiederholung seines Vorbringens im erstinstanzlichen Verfahren dabei, dass der GdB-Katalog der DDG und nicht die Anhaltspunkte 2004 den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand für das Krankheitsbild des Diabetes mellitus darstelle. Ergänzend wird vorgebracht, die Auslegung des Begriffs "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" lasse nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Regelung auch die Einbeziehung des Therapieaufwandes als möglich und geboten erscheinen. Sinn und Zweck des Gesetzes sei es, demjenigen, der erkrankt sei, Hilfestellungen zu geben, damit er so gut wie möglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. In diesem Kontext wäre es sinnwidrig, wenn das Bemühen des Erkrankten, seine Erkrankung so einzustellen, dass er weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne, nicht honoriert würde. Eine Normauslegung, die begünstigen würde, dass ein ( eigenverschuldet) schlecht eingestellter Diabetiker wegen Hypoglykämien bzw. Organkomplikationen besser gestellt wäre als ein mit hohem eigenem Aufwand eingestellter Diabetiker, der in vergleichbarer Weise wegen des Therapieaufwandes nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne, widerspräche Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Im übrigen zeige sich die Tatsache, dass die Anhaltspunkte 2004 nicht den neuesten Stand medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse widerspiegelten, schon in der Differenzierungen des Diabetes mellitus in Typ 1 und Typ 2. Diese Differenzierung sei weder sachgerecht noch eindeutig vorzunehmen. Der GdB-Katalog der DDG, der keine Differenzierung nach dem Typ der Diabetes mellitus-Erkrankung vornehme, sondern lediglich nach dem Therapieaufwand differenziere, entspreche daher den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und sollte bei der Feststellung des GdB Anwendung finden.

Der Kläger hat das bereits erwähnte internistisch-diabetologische Gutachten des Prof. Dr. I. vom 27.5. 2005 vorgelegt, in dem auf Grund einer ambulanten Untersuchung am 22.4.2005 (ohne apparative Untersuchungen und ohne Laboruntersuchungen) eine diabetische distal-symmetrische Polyneuropathie diagnostiziert wird, ferner Hinweise auf eine beginnende erektile Dysfunktion genannt werden. Es liege insgesamt eine suboptimale Situation vor, es müsse versucht werden, die Blutzuckereinstellung noch zu optimieren, um das Fortschreiten der bereits eingetretenen Spätfolgen zu stoppen. Die Polyneuropathie sei im Vorgutachten nicht berücksichtigt, daher sollte hier ein GdB von 50 bis 60 zugesprochen werden. Das vorliegende Beispiel zeige, dass die Anhaltspunkte 2004 den betroffenen Typ 2-Diabetikern in der Mehrheit nicht gerecht würden. Der Bewertungsvorschlag der DDG stelle die Probleme der Diabetiker im Alltag deutlich realistischer dar und werde der Problematik der Diabetikerversorgung besser gerecht. Er zeige den gegenwärtigen Stand der medizinisch- wissenschaftlichen Kenntnisse des Diabetes mellitus.

Vorgelegt wird ferner ein Aufsatz "Neufassung des Grades der Behinderung beim Diabetes mellitus - eine kritische Bestandsaufnahme" von Dr. von Kriegstein.

Der Kläger stellt den Antrag,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 4. Mai 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 2004 zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Er legt eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. P. vom 22.9.2005 vor, wonach bei unauffälliger Koordination und unauffälliger Sensibilität sowie unauffälliger grober Kraft von Seiten der Polyneuropathie keine GdB-relevante Funktionseinschränkung (GdB 10) vorliege, die in ihren Auswirkungen z. B. einem Verlust der Zehen II-V oder I-III an einem Fuß (GdB 10) vergleichbar wäre. Selbst dann hätte dies keinen Einfluss auf die Höhe des Gesamt-GdB.

Der Senat hat vom Sozialgericht Speyer die Akten des Verfahrens S 3 SB 453/02 und des Landessozialgerichtes Rheinland-Pfalz L 6 SB 20/04 beigezogen und daraus die Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 24.5.2004 mit Anlagen entnommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die genannten Akten und Unterlagen, auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten und auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Karlsruhe Gerichtsbescheid vom 4.05.2005 - S 10 SB 1898/04
BSG Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R

Quelle:

Justizportal des Landes Baden-Württemberg

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch in der Sache nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB.

Soweit der Kläger rügt, das SG habe nicht durch Gerichtsbescheid entscheiden dürfen, folgt ihm der Senat nicht. Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG "kann" das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Im Berufungsverfahren kann also die Entscheidung, durch Gerichtsbescheid zu erkennen, nur auf Ermessensfehler geprüft werden. Einen Verfahrensfehler stellt diese Entscheidung nur dann war, wenn der Beurteilung sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzungen zugrundeliegen (zu § 84 VwGO BVerwGE 84,2 120) . Dafür liegen hier keinerlei Anhaltspunkte vor. Die Einschätzung des SG, die Sache weise keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, ist zwar nicht weiter begründet, aber eben auch nicht sachfremd. Die Einschätzung des SG, der Sachverhalt sei geklärt, ist nicht zu beanstanden. Für das SG hat weder auf Grund der Ankündigung, ein weiteres noch einzuholendes Gutachten vorlegen zu wollen, noch die Ankündigung einer weiteren Stellungnahme Veranlassung bestanden, die aus seiner Sicht entscheidungsreife Sache nicht durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.

Auch in der Sache ist der angefochtene Gerichtsbescheid nicht zu beanstanden. Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheids die einschlägigen Rechtsvorschriften, insbesondere § 48 SGB X und § 69 SGB IX, ausführlich und zutreffend zitiert. Das SG hat auch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2004 (Anhaltspunkte 2004), hier insbesondere Nr. 19, zutreffend zitiert und angewandt. Dem ist von Seiten des Senats insoweit nichts hinzuzufügen. Der Senat nimmt deswegen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug und verzichtet insoweit auf eine eigene Begründung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zum Berufungsvorbringen ist Folgendes anzumerken:

Das vom Kläger selbst veranlasste und vorgelegte internistisch-diabetologische Gutachten von Prof. Dr. I. vom 27.5.2005 ist nicht geeignet, einen höheren GdB zu begründen. Zwar hat der Gutachter eine Polyneuropathie diagnostiziert, die bei der Bewertung durch Dr. L. im Vorgutachten nicht berücksichtigt worden sei, damit "sollte im vorliegenden Fall ein GdB von bis 60 zugesprochen werden". Dem vermag der Senat jedoch keinesfalls zu folgen. Im Einklang mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. P. vom 22.9. 2005 ist auch der Senat der Überzeugung, dass die Diagnose einer relevanten Polyneuropathie nicht durch Befunde belegt ist. Bei unauffälliger Sensibilität, unauffälliger grober Kraft und unauffälliger Koordination spricht lediglich ein reduziertes Vibrationsempfinden an den Großzehen beidseits und eine gestörte Kalt-Warm-Diskriminierung an beiden Füßen für das Vorliegen einer Polyneuropathie. Dagegen hat der Sachverständige Dr. L. in seinem Gutachten vom 15.2. 2005 auf Grund umfassender Untersuchung, auch apparativer Untersuchung und Laboruntersuchung, ausdrücklich keine Komplikationen im Sinne eines diabetischen Spätsyndroms festgestellt. Er hat keine Hinweise für eine diabetische periphere Mikro- oder Makroangiopathie gefunden, ebenfalls nicht für eine bedeutsame diabetische Neuropathie (hier war allerdings das "Vibrationsempfinden im Bereich der Beine und Arme erhalten"). Auch die behandelnden Ärzte haben kein diabetisches Spätsyndrom festgestellt, insbesondere keine Polyneuropathie. Damit kann, worauf Dr. P. zu Recht hinweist, angesichts der nur von Pof. Dr. I. erhobenen - weder umfangreichen noch schwerwiegenden - Befunde nicht von einer GdB-relevanten Gesundheitsstörung Polyneuropathie ausgegangen werden. Sie ist in ihren Auswirkungen keinesfalls z. B. einem Verlust der Zehen II-V oder I-III an einem Fuß (GdB 10) vergleichbar. Damit ist auch die von Prof. Dr. I. genannte Einschätzung des Gesamt-GdB von 50 bis 60 weder schlüssig noch gar überzeugend.

Auch soweit der Kläger weiterhin die Ansicht vertritt, bei der Beurteilung des GdB beim Diabetes mellitus seien nicht die Anhaltspunkte 2004, sondern der entsprechende Katalog der DDG zugrundezulegen, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Das SG hat bereits zutreffend begründet, dass die Empfehlungen der DDG bereits bei der Neufassung der Anhaltspunkte 1996 diskutiert wurden und gerade keinen Eingang in die Anhaltspunkte gefunden haben. Der ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMGS hat auch bei der Neuauflage der Anhaltspunkte (2004) diese Grundlage nach ausführlicher inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Einteilungs- und Bewertungsvorschlägen der DDG nicht verlassen, dies wird in dem Schreiben vom 24.5.2004 nochmals ausdrücklich bestätigt. Die Einteilung in den Anhaltspunkten sei sachgerecht und entspreche auch heute dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Medizin. Der Senat tritt nach eigener Überzeugungsbildung dieser Einschätzung bei. Der Kläger hat auch im Berufungsverfahren keine neuen Gesichtspunkte oder Argumente vorgebracht, die den Senat veranlassen müssten, nochmals ausführlich darauf einzugehen. Insbesondere ist kein Grund ersichtlich, warum der Katalog der DDG anders als 1996 oder 2004 heute dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen sollte.

Der Senat folgt damit wie auch schon das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (Urteile vom 20. Oktober 2004 - L 6 SB 20/04 und vom 1. Dezember 2003 - L 4 SB 74/03) und das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ( Urteile vom 10. Juni 2004 - L 7 SB 101/03) den Vorgaben in den Anhaltspunkte 2004. Er hält die Anhaltspunkte für maßgebend und weiterhin dem herrschenden wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechend.

Die Einschätzung von Prof. Dr. I., dass die Anhaltspunkte 2004 den betroffenen Typ 2-Diabetikern in der Mehrheit nicht gerecht würden und der Bewertungsvorschlag der DDG die Probleme der Diabetiker im Alltag deutlich realistischer darstelle sowie der Problematik der Diabetikerversorgung deutlich besser gerecht werde, vermag daran nichts zu ändern. Prof. Dr. I. zeigt nicht auf, weshalb nach medizinisch-wissenschaftlichem Erkenntnisstand eine Differenzierung zwischen Typ 1 und Typ 2- Diabetikern nicht weiterhin sinnvoll sein soll. Dass es möglicherweise Schwierigkeiten bei der Zuordnung zu einem Typ gibt oder Überschneidungen zwischen beiden Typen, genügt nicht, um von dieser Typisierung abzugehen. Dr. L. hat in seinem Gutachten für das SG vom 15.2.2005 demgegenüber ausführlich die Unterschiede der Typen von Diabetes mellitus herausgearbeitet und dargestellt, dass die Bewertung des Typ 1- und Typ 2-Diabetes unterschiedlich sein müsse, wie dies ja auch in den Anhaltspunkten 2004 erfolgt sei. Der Senat nimmt hierauf Bezug und verweist auf die Ausführungen auf Blatt 6 und 7 des genannten Sachverständigengutachtens.

Der Einwand des Klägers, dass eine Auslegung des Gesetzeszwecks, eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weitestgehend zu ermöglichen, auch eine Berücksichtigung des Therapieaufwands zulasse, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Soweit der Kläger allerdings vorbringt, eine Normauslegung, die begünstigen würde, dass ein ( eigenverschuldet) schlecht eingestellter Diabetiker wegen Hypoglykämien beziehungsweise Organkomplikationen besser gestellt wäre als ein mit hohem eigenem Aufwand gut eingestellter Diabetiker, der in vergleichbarer Weise wegen des Therapieaufwands nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne, widerspräche Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Zu berücksichtigen ist insoweit zum einen, dass das Vorliegen von beispielsweise Hypoglykämien zunächst für eine schlechte Einstellung spricht und nicht für eine schlechte Einstellbarkeit des Diabetes, so dass auch nach den Kriterien der Anhaltspunkte eine derart hervorgerufene Hypoglykämie nicht GdB-relevant wäre. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass eventuell vorliegende Organkomplikationen unabhängig davon berücksichtigt werden müssten, ob es sich um einen eigenverschuldet schlecht eingestellten Diabetiker oder um einen mit hohem Therapieaufwand gut eingestellten Diabetiker handelt. Dies zeigt, dass das Abstellen auf den Typ der Erkrankung, Einstellbarkeit sowie Art und Ausmaß von Komplikationen - wie in den Anhaltspunkten - weiterhin sachgerecht ist. Der Senat weist auch darauf hin, dass der Therapieaufwand in den Kriterien der Anhaltspunkte nicht völlig außer Betracht gelassen wird. Ansonsten müsste ein gut eingestellter Diabetiker praktisch wie ein Gesunder behandelt werden. Dies ist indes nicht der Fall. Auch nach den Anhaltspunkten 2004 hat der Kläger, auch wenn sein Diabetes mellitus mit erheblichem Therapieaufwand gut oder befriedigend eingestellt ist, einen Einzel-GdB von 40. Dies hält der Senat für sachgerecht.

Im übrigen ist die Bildung des Gesamt-GdB von 40 unter Einschluss sämtlicher festgestellter Funktionseinschränkungen nach Lage der Akten nicht zu beanstanden.

Die Berufung des Klägers ist nach alledem als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat lässt die Revision an das Bundessozialgericht zu, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Der Umfang der Berücksichtigungsfähigkeit des Therapieaufwands beim Diabetes mellitus im Rahmen des § 69 SGB IX ist eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, die bisher höchstrichterlich nicht geklärt ist.

Referenznummer:

R/R2766


Informationsstand: 09.10.2007