Die frist- und formgemäß eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin ist erheblich gehbehindert, sodass ihr, wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, zumindest ab 01. Januar 2005 das Merkzeichen "G" zusteht.
Gemäß
§ 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), dessen Regelungen am 1. Juli 2001 in Kraft getreten sind, sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im Nahverkehr im Sinne des
§ 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich zu befördern.
Gemäß § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als übliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (
vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 -
9a RVs 11/ 87 - veröffentlicht in BSGE 62, 273, 277 und SozR 3870 § 60
Nr. 2). Dieser Maßstab ist erstmals von den
AHP 1996 (
Nr. 30
Abs. 2) übernommen und in den zur Zeit gültigen
AHP 2004 beibehalten worden. In den Absätzen 3 bis 5 der |r. 30 geben die
AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein schwerbehinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist.
Nach
Nr. 30
Abs. 3
AHP sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen
GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem
GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken,
z. B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- und Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem
GdB von 40.
Ob die Klägerin diese für die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt, ist zweifelhaft, weil der Sachverständige
Dr. H in seinem orthopädischen Gutachten vom 11. Januar 2005 zwar eine Vielzahl orthopädischer Leiden im Bereich der Lendenwirbelsäule und der unteren Extremitäten beschrieben, für diese jedoch Einzelbehinderungsgrade in Ansatz gebracht hat, die insgesamt nicht ausreichen können, um einen
GdB von 50 oder zumindest 40 zu bilden. Die von dem Sozialgericht in dem angefochtenen Urteil gebilligte und übernommene, von
Dr. H in der mündlichen Verhandlung am 31. März 2005 erläuterte Methode, im Hinblick auf die Adipositas für die unteren Extremitäten einen
GdB von 40 und für die funktionellen Störungen der Lenden- und Brustwirbelsäule einen
GdB von 30 anzunehmen und hieraus einen Gesamt-
GdB von 60 zu bilden, ist mit den in
Nr. 26.18
AHP geregelten Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Hiernach ergibt sich bei Wirbelsäulenschäden der
GdB primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Bei Gesundheitsstörungen der unteren Gliedmaßen (Hüfte, Knie) ist das Ausmaß der durch sie verursachten Bewegungseinschränkungen maßgebend. Das Vorliegen einer Adipositas, die allein keinen
GdB bedingt (
vgl. Nr. 26.15 Seite 99
AHP), rechtfertigt grundsätzlich nicht die Anhebung der in
Nr. 26.18 der
AHP festgelegten
GdB für Behinderungen am Stütz- und Bewegungsapparat.
Somit ist davon auszugehen, dass bei der Klägerin Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße und / oder der LWS, die für sich einen
GdB von 50 bedingen, oder besondere sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen der unteren Gliedmaße mit einem
GdB von 40 nicht vorliegen. Nach dem Gutachten des Sachverständigen
Dr. Fischer bestehen auch keine inneren Leiden, aufgrund deren ein Regelfall des
Abs. 3 der
Nr. 30 der
AHP als erfüllt angesehen werden könnte. Das Vorliegen eines in
Abs. 4 und 5 geregelten Sachverhalts kann ausgeschlossen werden.
Die Nichterfüllung eines in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5
AHP bestimmten Regelfalles schliesst die Feststellung des Merkzeichens "G" jedoch nicht aus. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Nachteilsausgleichs können nämlich auch bei schwerbehinderten Menschen erfüllt sein, bei denen andere als die in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5
AHP aufgeführten Behinderungen vorliegen. Nach dem Wortlaut des
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist es erforderlich, gleichzeitig aber auch ausreichend, dass der schwerbehinderte Mensch "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Die Bewegungsbeeinträchtigung im Sinne dieser Definitionsnorm muss tatsächlich auf eine sich auf das Gehvermögen auswirkende Behinderung im Sinne des Gesetzes ursächlich zurückzuführen sein ( so
BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 - a.a.O.- auf Seite 6 des Urteilsabdrucks). In dem genannten Urteil hat das
BSG die Entscheidung des Landessozialgerichts bestätigt, das Adipositas und Cerebralsklerose als gesundheitliche Grundlage einer rechtserheblichen Funktionseinbuße im Sinne von Behinderungen und diese als Ursachen einer Bewegungsbeeinträchtigung angesehen hat (aaO Seite 7 des Urteilsabdrucks).
In seiner neueren Rechtsprechung (Urteile vom 13. August 1997 -
9 RVs 1/96 - veröffentlicht in SozR 3-3870 § 60
Nr. 2 - und vom 27. August 1998 - B 9 SB 13/97 R -) hat das
BSG an seiner Rechtsprechung festgehalten und ausgeführt, die
AHP beschrieben in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen seien, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen könnten. Das Merkzeichen "G" sei daher auch demjenigen zuzuerkennen, der zwar nicht die in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5
AHP aufgezeigten Behinderungen
bzw. Behinderungsgrade aufweise, bei dem aber körperliche Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen, die seine Bewegungsfähigkeit, insbesondere sein Gehvermögen, ebenso herabsetzten wie in den in den
AHP beispielhaft genannten Fällen.
Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin, wie der Sachverständige
Dr. H in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005 und der "Ergänzung" vom 26. März 2005 überzeugend herausgearbeitet und in der gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006 unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des
BSG aufgestellten Kriterien für eine Gleichstellung mit den Regelfällen der
Abs. 3 bis 5 der
Nr. 30
AHP überprüft und bestätigt hat, erfüllt.
Der Beklagte verkennt bei der vom ihm vorgenommenen Bewertung, dass die Frage, ob eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt, aufgrund einer Gesamtschau aller bei der Klägerin vorliegenden, sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Gesundheitsstörungen zu beurteilen ist und dass keine isolierte Betrachtung und Bewertung der einzelnen Symptomkomplexe erfolgen darf. Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gehvermögen der Klägerin durch eine Kombination von inneren und orthopädischen Leiden, die sich zudem besonders negativ wechselseitig aufeinander auswirken, beeinträchtigt wird. Hierauf hat der Sachverständige
Dr. H in seiner Ergänzung vom 26. März 2005 ausdrücklich hingewiesen. Er hat ausgeführt, der internistisch beschriebene Narbenbruch mit Vorfall der Baucheingeweide führe zu einem Funktionsausfall der Bauchmuskulatur und pathophysiologisch zur zusätzlichen Belastung besonders des Lendenwirbelsäulenabschnitts und der Brustwirbelsäule. Die Wirbelsäule sei aber infolge des Hohlrundrückens mit Teilfixierung der Lenden- und Brustwirbelsäulenabschnitte per se hinsichtlich ihrer Belastungsfähigkeit herabgesetzt, so dass eine ausgeprägte statisch-dynamische Insuffizienz der Wirbelsäule als Achsenorgan des Rumpfes vorliege. Infolge der derartig funktionsgestörten Wirbelsäule sei die Klägerin nun nicht mehr in der Lage, bei einem zusätzlichen Übergewicht von
ca. 50
kg eine Wegstrecke von 2
km in 30 Minuten ohne Gefahren für sich oder andere zurückzulegen.
In der auf Veranlassung des Senats abgegebenen gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006 ist
Dr. H zu dem Ergebnis gelangt, das Gehvermögen der Klägerin sei wegen der festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten und der damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen der Bewegungs- und Belastungsfähigkeit in gleich hohem Maße eingeschränkt wie in den in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5
AHP (beispielhaft) genannten Fällen. Nach Einschätzung des Sachverständigen ist das Gehvermögen der Klägerin auf 250 Meter reduziert. Es beträgt also 12,5% (ein Achtel) der Gehstrecke, die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegt wird.
Der Senat hat keine Bedenken, den Feststellungen und gutachterlichen Einschätzungen des Sachverständigen
Dr. H in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005, der "Ergänzung" vom 26. März 2005 und der gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006, gegen die der Beklagte keine substantiierten Einwendungen erhoben hat, zu folgen. Ein vernünftiger Zweifel daran, dass die Klägerin eine Wegstrecke von 2 Kilometern nicht mehr zurücklegen kann, ist nach den schlüssigen und in jeder Hinsicht überzeugenden Darlegungen
Dr. H nicht möglich. Selbst der Beklagte räumt in seinem Schriftsatz vom 09. März 2006 eine "bei der Klägerin vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit" ein. Soweit der Beklagte allerdings meint, diese beruhe auf nichtbehinderungsbedingten Faktoren, sodass das Merkzeichen "G" nicht festgestellt werden könne, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Unzutreffend ist insbesondere die Einschätzung des Beklagten, Hauptursache für die bei der Klägerin vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit sei wohl auch nach Auffassung von
Dr. die erhebliche Übergewichtigkeit. Der Sachverständige hat vielmehr in seinem Gutachten festgestellt, dass das Gehvermögen vor allem negativ beeinflusst wird durch die erhebliche Bauchwandschwäche und die weiteren orthopädischen Behinderungen am Rücken, den Hüften und den unteren Extremitäten.
Wörtlich führt er aus, die Adipositas per magna potenziere die funktionellen Störungen des Rumpfes, der beiden Hüft- und Kniegelenke und führe so zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Beweglichkeit im Straßenverkehr. In der "Ergänzung" vom 26. März 2005 erläutert der Sachverständige, dass die verschiedenen Funktionsstörungen an den Haltungs- und Bewegungsorganen, der Narbenbruch, die funktionsgestörte Wirbelsäule, die Überbelastung des Muskelbandapparates, insbesondere der Knie- und Sprunggelenke, die alle dem Druck des außergewöhnlichen Übergewichts ausgesetzt seien, die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese Erläuterungen und seine Aussage bei seiner persönlichen Vernehmung, dass die Adipositas allmählich eine zunehmende Verschlechterung der Belastungsfähigkeit der Wirbelsäule bewirke, widerlegt die Auffassung des Beklagten,
Dr. H sehe das Übergewicht als Hauptursache der Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin an.
Die massive Adipositas kann entgegen der Auffassung des Beklagten nicht als Hauptursache für die Beeinträchtigung des Gehvermögens der Klägerin angeschuldigt werden. Die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen
Dr. H lassen lediglich den Schluss zu, dass sich das Übergewicht verstärkend auf die durch das Zusammenwirken der orthopädischen und internistischen Behinderungen eingeschränkten Gehfähigkeit der Klägerin auswirkt.
Ob eine Adipositas per magna als so genannter nichtbehinderungsbedingter Faktor zu werten ist und die Feststellung des Merkzeichens "G" ausschließt, wenn sie die Hauptursache für die Einschränkung des Gehvermögens eines schwerbehinderten Menschen im Sinne der
Nr. 30
Abs. 2
AHP ist (verneinend:
LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. September 1996 -
L 4 Vs 6/ 96), kann dahinstehen. Sie steht der Anerkennung des schwerbehinderten Menschen als erheblich gehbehindert jedenfalls dann nicht entgegen, wenn sie lediglich das Ausmaß der sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen verstärkt und damit nur einen von mehreren Faktoren für die Beeinträchtigung des Gehvermögens darstellt. Dies gilt in jedem Fall dann, wenn die zumutbare Wegstrecke nicht nur knapp unter dem Grenzwert von 2
km liegt, sondern - wie hier - das Gehvermögen sogar auf 250 Meter (12,5% der üblichen Gehstrecke) limitiert ist. Wegen der Einschränkung des Gehvermögens auf 12,5% der üblichen Gehstrecke kann auch ausgeschlossen werden, dass die von dem Beklagten vermutete fehlende Motivation der Klägerin rechtlich wesentliche Ursache der Wegstreckenlimitierung ist. Eine Gesamtschau aller Umstände mag zwar den Schluss zulassen, dass die Klägerin bei einem mit der entsprechenden Motivation durchgeführten Training und einer Gewichtsreduzierung ihre Gehfähigkeit steigern könnte. Es erscheint jedoch ausgeschlossen, dass sie in absehbarer Zeit Verbesserungen in einem Ausmaß erreichen könnte, dass sie wieder im Stande wäre, Wegstrecken von 2 Kilometern in angemessener Zeit zurückzulegen. Rechtlich wesentliche Ursache für die bei der Klägerin mindestens seit Januar 2005 bestehende erhebliche Gehbehinderung sind deshalb allein die durch die Adipositas per magna verstärkten körperlichen Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen und nicht eine von dem Beklagten vermutete mangelnde Motivation oder andere nicht behinderungsbedingte Faktoren.
Die Berufung des Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Eine Korrektur der von dem Sozialgericht getroffenen Entscheidung, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien, weil "die angefochtenen Bescheide im Zeitpunkt des Erlasses rechtmäßig waren", ist, obwohl sie mit § 193
SGG nicht zu vereinbaren ist, nicht möglich, weil die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Der Senat hat die Revision gemäß § 160
Abs. 2
Nr. 1
SGG zugelassen, weil er der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob die Voraussetzungen des § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX auch durch eine Kombination von inneren und orthopädischen Leiden, die von einer Adipositas per magna verstärkt werden, erfüllt werden können.