Die zulässige Revision ist im Sinne einer Änderung des Berufungsurteils und teilweisen Zurückverweisung der Sache an das
LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2
SGG). Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen lassen noch keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob der Kläger seit dem 4.4.2006 außergewöhnlich gehbehindert ist.
1. Zunächst bedarf der Ausspruch des Berufungsurteils der Auslegung. Das
LSG wollte den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG vom 29.8.2005 offensichtlich nicht in vollem Umfang, sondern nur insoweit aufheben, als es der Klage stattgegeben hat. Zwar wird der angefochtene Verwaltungsakt (Bescheid des Beklagten vom 21.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.3.2005) im Urteilsausspruch des
LSG nicht erwähnt, er sollte jedoch - wie aus dem Gesamtzusammenhang des Urteils zu schließen - insoweit geändert werden, als er einer Zuerkennung des Merkzeichens "aG" für die Zeit ab 4.4.2006 entgegensteht.
Soweit das
LSG der Berufung des Klägers stattgegeben hat (Merkzeichen "aG" für die Zeit ab 4.4.2006), ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Im Übrigen ist die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG klarstellend zurückzuweisen. Schließlich hat die Kostenentscheidung des
LSG keinen Bestand, da der Rechtsstreit noch nicht insgesamt zum Abschluss gebracht werden kann.
2. Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist
§ 69 Abs 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (
§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen iS von § 46 Abs 1 Nr 11 StVO nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" (Rollstuhlfahrersymbol, Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen (zB vom eingeschränkten Halteverbot für die Dauer von drei Stunden). Darüber hinaus führt sie ua zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (§ 3a Abs 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz) bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (
§ 145 Abs 1 SGB IX) und ggfs zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten nach § 40 Bundesimmissionsschutzgesetz (vgl Landmann/Rohmer, Umweltrecht Bd I, § 40 BImSchG, RdNr 30). Sie erlaubt darüber hinaus Kosten des Kraftfahrzeugs, soweit sie nicht schon Werbungs- oder Betriebskosten sind, als außergewöhnliche Belastungen iS von § 33 Einkommensteuergesetz in angemessenem Umfang geltend zu machen (vgl BFHE 116, 378, 380 f; BFHE 206, 525).
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26.1.2001,
BAnz 2001, Nr 21, S 1419; vgl zur insoweit unveränderten Fassung vom 22.10.1998:
BAnz 1998, Nr 246b, S 47). Die VwV-StVO selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Art 84 Abs 2
GG wirksam erlassen worden (vgl BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 = Behindertenrecht 2003, 112, 113). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind (vgl dazu und zum Folgenden Senatsurteile vom 29.3.2007 -
B 9a SB 5/05 R -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, und -
B 9a SB 1/06 R -).
Während die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO aufgeführten Schwerbehinderten relativ einfach zu bestimmen sind, ist dies bei der Gruppe der gleichgestellten Schwerbehinderten nicht ohne Probleme möglich. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSGE 82, 37, 38 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 23 = Behindertenrecht 1998, 141, 142). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können (
BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten Behindertengruppen kann es aber grundsätzlich nicht ankommen (
BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Denn es liegt auf der Hand, dass solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "aG" bezweckten Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren; dies ist Satz 1 in Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StvO bzw § 6 Abs 1 Nr 14 StVG (BSGE 90, 180, 183 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150, S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSGE 82, 37, 39 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23).
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 10.12.2002 (-
B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 ff = SozR 3-3250 § 69 Nr 1) ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig, dh durch einfache, konkrete Messgrößen, weder quantifizieren noch qualifizieren. Der gesteigerte Energieaufwand taugt dazu für sich allein grundsätzlich ebenso wenig wie ein in Metern und Minuten ausgedrücktes Wegstreckenkriterium. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Der gleichzustellende Personenkreis beschränkt sich daher auf Schwerbehinderte, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und die sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen oder mit entsprechender Hilfeleistung fortbewegen können wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Vergleichsgruppen. Dabei ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, die das Maß der Anstrengung und des Hilfebedarfs unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles wertet.
Auch soweit die og großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die (schmerzfrei) zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv, fehlerfrei und verwertbar festzustellen (vgl hierzu Gebauer, MedSach 1995, 53), ist auch die Tatsache, dass ein Betroffener eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" reichen überdies nicht irgendwelche Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Gradmesser hierfür kann die Intensität der Schmerzen bzw der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich ua aus der Dauer der ggf erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar.
Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Gerade bei multimorbiden Schwerbehinderten wie dem Kläger liegt es auf der Hand, dass allein das Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert. Gerade die Anwendung eines einzelnen Kriteriums birgt die Gefahr eines vom Beklagten besorgten Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1
GG.
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden (vgl dazu "Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (
AHP) 2005", Nr 30). Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (
BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 11 S 45 = Breith 1995, 623).
Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens "aG" herleiten. Das Merkzeichen "aG" soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (
BSG SozR 3870 § 3 Nr 18 S 58 = Breith 1986, 335, 336 = Behindertenrecht 1987, 95, 96). Ein bestimmtes Wegstreckenkriterium erschiene nur dann als sachgerecht, wenn die betreffende Wegstrecke grundsätzlich geeignet wäre, den bestehenden Nachteil auszugleichen. Das könnte es nahe legen, auf die Platzierung gesondert ausgewiesener Behindertenparkplätze abzustellen (so
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.3.2001 - L 11 SB 4527/00, juris; vgl auch Strassfeld, VersorgVw 2003, 21, 23). Aber auch diesem Ansatz ist nicht zuzustimmen. Abgesehen davon, dass es keine empirischen Untersuchungen zur durchschnittlichen Entfernung zwischen gesondert ausgewiesenen Behindertenparkplätzen und den Eingängen zu Einrichtungen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, greift die alleinige Ausrichtung auf Behindertenparkplätze (Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) zu kurz. Denn daneben werden nach Abschnitt I Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zB die Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot (lit a), gewährt.
3. In tatsächlicher Hinsicht ist das
LSG zunächst davon ausgegangen, dass es dem Kläger kaum möglich sei, das Kraftfahrzeug, etwa anlässlich eines Arztbesuches, aus eigener Kraft zu verlassen. Ihm falle es schwer, sich auf dem Beifahrersitz so zu drehen, dass es ihm gelinge, das Kraftfahrzeug zu verlassen. Schon hierfür bedürfe er der Hilfe seiner Ehefrau. Diese müsse ihm auch helfen, sich aus dem Kraftfahrzeug heraus aufzurichten, und ihm sodann den zur Fortbewegung erforderlichen Stock reichen.
Auf diese Gegebenheiten hat das
LSG zu Unrecht entscheidend abgestellt. Nach Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO kommt es darauf an, ob sich der Kläger wegen der Schwere seines Leidens nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeugs kommen insoweit nicht in Betracht (vgl
BSG SozR 3870 § 3 Nr 11 S 27), zumal sie von der Art und Ausstattung des Fahrzeugs abhängen.
Weiter hat das
LSG festgestellt: Nachdem sich der Kläger von den Anstrengungen des Ausstiegs am Kraftfahrzeug ausgeruht habe, sei er nach seinen Angaben nur noch in der Lage, kurze Entfernungen - etwa bis zum Aufzug der Arztpraxis - zurückzulegen. Auf dem Flur des Gerichts habe sich der Kläger zwar mit dem Stock aufrecht, aber nur kleinschrittig und mühsam fortbewegt. Damit könne er bei Nutzung allgemeiner Parkmöglichkeiten praktisch die erforderlichen Fußwege zwischen dem Kraftfahrzeug und dem eigentlichen Ziel (zB Arztpraxis, Geschäft, Veranstaltungsort) nicht mehr zurücklegen.
Aus diesen Feststellungen ergibt sich nur, dass der Kläger in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist; ihnen ist jedoch nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, ob er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO genannten Personen. Das
LSG ist nicht näher darauf eingegangen, inwiefern Erschöpfungs- bzw Schmerzzustände die Fähigkeit des Klägers beeinträchtigen, sich zu Fuß fortzubewegen. Insbesondere hat es weder festgestellt, welche Wegstrecke er ohne eine Pause zurücklegen kann, noch Aussagen zu Art, Anzahl und Ausmaß von Pausen gemacht, die auf längeren Wegstrecken erforderlich sind. Da der erkennende Senat die gebotene ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann, ist das Berufungsurteil in dem vom Beklagten angefochtenen Umfang aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2
SGG).
Das
LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.