Pressevorbericht:
Unter welchen Voraussetzungen erfüllen schwerst hirngeschädigte Menschen, die zu keiner differenzierten Sinneswahrnehmung im Stande sind, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl (Blindheit)? Darüber wird der 9. Senat des Bundessozialgerichts am Donnerstag, dem 24. Oktober 2019 um 10.30 Uhr mündlich verhandeln (Aktenzeichen B 9 SB 1/18 R).
Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer ausgeprägten Stoffwechselstörung (nichtketotische Hyperglycinämie). Bei ihr besteht Pflegebedürftigkeit nach der Stufe III (jetzt Pflegegrad 5). Der Grad der Behinderung (GdB) ist mit 100 festgestellt. Die Merkzeichen H, B, G, aG und RF sind anerkannt, nicht hingegen Merkzeichen Bl (für Blindheit).
Die Vorinstanzen haben das beklagte Land verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl festzustellen. Zwar fehle der Klägerin das Augenlicht nicht vollständig, auch habe sich keine gleichzusetzende geringgradige Sehschärfe nachweisen lassen. Jedoch läge eine andere der Blindheit gleichzustellende Störung des Sehvermögens vor. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Stoffwechselerkrankung nicht zu einer differenzierten Sinneswahrnehmung im Stande. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R) komme es für den Begriff der Blindheit nicht mehr darauf an, ob eine spezifische Störung gerade des Sehvermögens bestehe. Cerebral bedingte Sehstörungen reichten aus.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte einen Verstoß gegen die Versorgungsmedizin-Verordnung. Das Landessozialgericht habe zur Feststellung von Blindheit eine gnostische Störung (außerhalb des Sehapparats) ausreichen lassen. In Teil A Nr 6 Buchst c der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung sei aber eindeutig geregelt, dass eine Unfähigkeit zur Sinneswahrnehmung, welche aus einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen resultiere, nicht als Blindheit aufgefasst werden dürfe.
Pressemitteilung:
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat heute entschieden, dass schwerst Hirngeschädigte, die zu keiner differenzierten Sinneswahrnehmung im Stande sind, die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen Bl (Blindheit) nicht erfüllen (Aktenzeichen B 9 SB 1/18 R).
Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer ausgeprägten Stoffwechselstörung (nichtketotische Hyperglycinämie). Bei ihr besteht Pflegebedürftigkeit nach der Stufe III (jetzt Pflegegrad 5). Der Grad der Behinderung (GdB) ist mit 100 festgestellt. Die Merkzeichen H, B, G, aG und RF sind ihr zuerkannt, nicht hingegen Merkzeichen Bl.
Die Vorinstanzen haben das beklagte Land antragsgemäß verurteilt, die Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl festzustellen. Die Klägerin sei blind, obwohl weder das Augenlicht vollständig fehle noch eine gleichzusetzende geringgradige Sehschärfe nachweisbar sei. Jedoch bestehe aufgrund der Stoffwechselerkrankung eine gleichzustellende Störung des Sehvermögens.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die Revision des beklagten Landes die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Unfähigkeit zur Sinneswahrnehmung, die aus einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen resultiert, reicht nicht zur Annahme von Blindheit nach Teil A Nummer 6 Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Behinderungen und ebenso die gesundheitlichen Merkmale für Merkzeichen werden im Schwerbehindertenrecht unter ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten getrennt nach Organ- und Funktionseinheiten erfasst und anschließend insgesamt in ihren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bewertet. Blindheit ist danach beschränkt auf Störungen des Sehapparats und erfasst keine gnostischen - neuropsychologischen - Störungen des visuellen Erkennens. Für diese stehen im Schwerbehindertenrecht - wie hier - die gesundheitlichen Merkmale für andere Merkzeichen passgenau zur Verfügung.
Wegen fehlender Feststellungen zur Rindenblindheit als einer weiteren möglichen Störung des Sehorgans hat der Senat die Sache zurückverwiesen.