Urteil
Vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zu den Eingliederungshilfeleistungen im Wege der einstweiligen Anordnung

Gericht:

SG Freiburg (Breisgau) 9. Kammer


Aktenzeichen:

S 9 SO 3201/22 ER


Urteil vom:

05.12.2022


Grundlage:

Leitsatz

1. Ansprüche auf zweckidentische Leistungen Anderer, die weder Rehabilitations- noch Leistungsträger sind (hier: Beihilfe und private Krankenversicherung), schließen einen Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen so lange nicht aus, wie diese "Anderen" tatsächlich keine Leistungen erbringen.

2. Das Konkurrenzverhältnis richtet sich weder nach § 14 SGB IX noch nach dem Schwerpunkt oder dem vorrangigen Zweck der Leistung. Maßgeblich sind vielmehr die speziellen Normen, die den Nachrang der Eingliederungshilfe regeln.

3. Danach hat in der Regel der Träger der Eingliederungshilfe vorzuleisten und kann korrespondierende Ansprüche gegen die "Anderen" nach § 141 SGB IX auf sich überleiten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Baden-Württemberg

Tenor:

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vom 01.12.2022 bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.11.2022, längstens jedoch bis zu den Sommerferien 2023, vorläufig Leistungen zur Teilhabe in Form einer qualifizierten persönlichen Assistenz für das Diabetesmanagement für den Besuch der Kita XXX in Art und Umfang wie bis zum 30.11.2022 weiter zu erbringen.

2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

I.

Die am XXX geborene Antragstellerin begehrt die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zu den im Tenor genannten Eingliederungshilfeleistungen im Wege der einstweiligen Anordnung.

Die Antragsgegnerin hatte diese Leistungen für den Zeitraum vom 11.11.2021 bis 30.11.2022 "vorläufig" (Bescheide vom 11.11.2021 und 06.09.2022) bzw. "als freiwillige Leistung, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" (Bescheid vom 12.08.2022) bewilligt. Den am 10.10.2022 eingegangenen Folgeantrag vom 06.10.2022 für den Zeitraum vom 01.12.2022 an - der zugleich den erstmaligen Antrag auf zwei weitere Assistenzstunden wöchentlich für begleitete Umgänge der Antragstellerin mit ihrem von der Mutter getrennt lebenden Vater enthielt - lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 16.11.2022 ab.

Zur Begründung führte die Antragsgegnerin insbesondere aus: Es liege eine Verordnung einer häuslichen Krankenpflege des Herrn Dr. X vor. Danach seien ein Diabetesmanagement sowie Kohlenhydratgabe und bei unberechenbaren und schnellen BZ-Abfällen eine engmaschige BZ-Überwachung erforderlich. Die häusliche Krankenpflege sei als Leistung der Krankenversicherung in § 37 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) aufgeführt. Die Antragstellerin sei bei der D privat krankenversichert, es bestehe ein Anspruch auf Beihilfe beim K. In § 42 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) würden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation aufgeführt, diese seien jedoch nur für die in § 6 SGB IX aufgeführten Rehabilitationsträger bestimmt. Weder die D noch der K seien Rehabilitationsträger im Sinne der Vorschrift. Die Durchführung von Leistungen der privaten Krankenversicherung und der Beihilfe sei nicht Aufgabe des Trägers der Eingliederungshilfe. Es sei auch nicht Aufgabe der Eingliederungshilfe, in finanzielle Vorleistung für diese Institutionen zu gehen. Die Nachrangigkeit der Eingliederungshilfe sei in § 91 SGB IX geregelt. Die D und der K seien andere Stellen i.S.d. § 91 Abs. 2 SGB IX. Auch diese Stellen hätten die Obliegenheit, den Bedarf individuell zu prüfen und ihre Leistungen entsprechend zu erbringen. Mangels sachlicher Zuständigkeit sei der Antrag auf Kostenübernahme für eine personelle Kraft zum Diabetesmanagement daher abzulehnen.

Mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 23.11.2022 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid vom 16.11.2022 Widerspruch. Ebenfalls am 23.11.2022 beantragte sie beim Sozialgericht Freiburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Die Bevollmächtigte der Antragstellerin trägt insbesondere vor:

Es gehe nicht um häusliche Krankenpflege, sondern wie schon in der Vergangenheit um eine persönliche Assistenz zur Eingliederungshilfe beim Besuch der Kindertagesstätte. Die Antragstellerin könne die Kindertagesstätte nur bei Anwesenheit einer persönlichen Assistenzkraft vor Ort besuchen. Die Antragsgegnerin habe in den 12 Monaten zuvor Eingliederungshilfe in Form einer persönlichen Assistenz zum Besuch der Kindertagesstätte gewährt. An den dieser Bewilligung zugrundeliegenden Tatbeständen habe sich nichts geändert. Es bestehe Eilbedürftigkeit und vorübergehende Regelungsnotwendigkeit, da es der kindlichen Entwicklung nicht zuträglich sei, wenn der Kindergartenbesuch wieder längerfristig unterbrochen würde. Unterbrechungen seien bereits in der Vergangenheit durch längere Erkrankung und Klinikaufenthalte des Kindes erforderlich gewesen. Seit November besuche die Antragstellerin wieder die Kindertagesstätte und habe sich dort wieder ausreichend eingewöhnt. Eine nochmalige Herausnahme sei der kindlichen Entwicklung nicht zuträglich. Des Weiteren sei die Mutter der Antragstellerin auf die Betreuung und Versorgung ihres Kindes während der Kita-Zeiten angewiesen. Diese sei berufstätig, getrenntlebend, alleinerziehend und habe noch einen etwas älteren Sohn zu betreuen.


Die Antragstellerin beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin über den 30.11.2022 hinaus Eingliederungshilfe in Form einer persönlichen Assistenz zum weiteren Besuch der Kindertagesstätte zu gewähren.


Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie verneint einen Anordnungsanspruch, da sie erstens für die streitgegenständliche Leistung sachlich nicht zuständig sei. Die Kosten für die persönliche Assistenz seien vielmehr von der Krankenkasse (D) und der Beihilfe (K) zu übernehmen. Maßgeblich für eine Zuordnung der Assistenz als Leistung der Eingliederungshilfe oder als von den Krankenkassen zu erbringende Leistung müsse in diesem Zusammenhang das Ziel der jeweiligen Leistung sein (BVerwG, Urt. v. 23.09.1999, Az. 5 C 26/98, Rn. 13 nach (juris)). Dem Bericht des Leistungserbringers vom 09.11.2022 sei im Ergebnis zu entnehmen, dass der Schwerpunkt der begehrten Leistung auf der Durchführung des vom behandelnden Arzt Dr. X verordneten Diabetesmanagements liege. Die dort beschriebenen erforderlichen Maßnahmen dienten vorwiegend der von der Krankenkasse zu finanzierenden Behandlungspflege. Sie seien nicht nur unmittelbar mit den Besonderheiten des Besuchs der Kindertagesstätte verbunden, sondern fielen (zeitlich) unabhängig davon auch zu Hause und in der Freizeit an. Das werde u.a. auch daran deutlich, dass von den Eltern explizit auch die Kostenübernahme für weitere Stunden wöchentlich außerhalb der Kitabetreuungszeit beantragt und begründet worden seien. Zumindest die private Krankenversicherung der Antragstellerin habe ihre Leistungsverpflichtung gegenüber der Antragsgegnerin anerkannt und die Übernahme der Behandlungspflege entsprechend der ärztlichen Verordnung bestätigt. Zwar seien in der Vergangenheit bereits Leistungen durch die Antragsgegnerin gewährt worden. Dabei sei aber zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin als Trägerin der Eingliederungshilfe die Leistungen aufgrund einer damals unklaren Sachlage zum Zeitpunkt der Beantragung und in den nachfolgenden Monaten als freiwillige (!) Leistung erbracht habe.

Zweitens, so die Antragsgegnerin, sei die beantragte Leistung auch nicht zur sozialen Teilhabe erforderlich. Insbesondere dem Bericht des bisherigen Leistungserbringers vom 09.11.2022 könne nicht entnommen werden, dass die soziale Teilhabe nicht gewährleistet sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verwaltungsakte und die Verfahrensakte des Gerichts Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Hier ist, da die Antragstellerin die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zu Leistungen begehrt, die Rechtsschutzform der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt die - grundsätzlich lediglich summarisch zu prüfende - Erfolgsaussicht in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)).

Ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin auf die begehrten Leistungen ist glaubhaft gemacht. Dieser beruht auf §§ 99 Abs. 1, 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, 78 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX. Danach erhalten Menschen, die - wie unstreitig und nach Aktenlage offensichtlich die Antragstellerin - zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 99 Abs. 1 SGB IX gehören, u.a. Leistungen zur sozialen Teilhabe in Form von Assistenzleistungen (§§ 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, 78 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Diese umfassen insbesondere Leistungen für die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen (§ 78 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Hierzu kann, wie von der Antragsgegnerin zutreffend ausgeführt, auch die hier streitige persönliche Assistenz in einer Kindertagesstätte für ein an Diabetes erkranktes Kind zählen (vgl. für die Assistenz während des Schulbesuchs Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3.A., § 102 SGB IX (Stand: 11.08.2022) Rn. 44 m.w.N.).

Weitere Anspruchsvoraussetzung ist, dass die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe i.S.v. § 90 SGB IX erfüllt werden kann (§ 99 Abs. 1 Hs. 2 SGB IX). Dies ist nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere anhand der Art und Schwere der Behinderung zu beurteilen. Maßstab bilden sowohl die konkreten Lebensumstände und Barrieren als auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der behinderten Menschen, soweit diese nicht über die Teilhabebedürfnisse nicht behinderter Personen hinausgehen. Aus § 4 Abs. 1 SGB IX ergibt sich, dass die Eingliederungshilfe zu leisten ist, die zum Erreichen des Ziels der Eingliederungshilfe notwendig ist. Das ist der Fall, wenn das Eingliederungsziel nicht auch durch andere, gleich geeignete und zumutbare Maßnahmen erreicht werden kann (Julia Zinsmeister in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6.A. 2022, § 99 Rn. 9). Nur wenn mindestens eine derartige Leistungsalternative zur Verfügung steht, ist ein Auswahlermessen hinsichtlich Art und Maß der Leistungserbringung gemäß § 107 Abs. 2 SGB IX überhaupt eröffnet, andernfalls besteht ein gebundener Anspruch auf die (einzige) geeignete, zumutbare und erforderliche Maßnahme.

Diese Voraussetzung erfüllt die streitgegenständliche Leistung ebenfalls. Im gesamten Verwaltungsverfahren war bislang unstreitig, dass die Antragstellerin ohne die begehrte persönliche Assistenz keine Kindertagesstätte besuchen kann. Auch das Gericht hat daran keine Zweifel, wurde dies doch durch fachkundige Zeugnisse bestätigt (vgl. nur die Schreiben des Prof. Dr. S vom 17.08.2021 und der Kita X vom 27.09.2021). Dass für ein Kind im Alter der Antragstellerin die Möglichkeit des Besuchs einer Kindertagesstätte unerlässlich ist, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und damit die besondere Aufgabe der Sozialen Teilhabe i.S.v. § 90 Abs. 5 SGB IX zu gewährleisten, liegt aber auf der Hand. Soweit die Antragsgegnerin dem Anspruch der Antragstellerin nunmehr entgegenhält, dem Bericht des bisherigen Leistungserbringers vom 09.11.2022 könne nicht entnommen werden, dass die soziale Teilhabe nicht gewährleistet sei, geht dies an der Sache vorbei. Denn es ist rechtlich irrelevant, ob das Teilhabeziel nach einem Jahr tatsächlicher Bedarfsdeckung durch die begehrte persönliche Assistenz gewährleistet ist; notwendig ist die Maßnahme vielmehr, wenn das Teilhabziel durch den Wegfall der Maßnahme gefährdet oder vereitelt würde. Dass dies der Fall wäre, geht aber gerade auch aus dem Entwicklungsbericht vom 09.11.2022 deutlich hervor. So wird dort u.a. ausgeführt: "Um am Kindergartenalltag teilnehmen zu können, benötigt (die Antragstellerin) eine intensive Begleitung einer Assistenz, welche nicht von Mitarbeitenden des Kindergartens übernommen werden kann"; die Antragstellerin "benötigt eine umfassende Unterstützung im Umgang mit ihren Alltagsgeräten (Insulinpumpe, Sensor und Schlauch) und ihrer Diabetes-Erkrankung (Berechnung des Insulins, Wiegen der Nahrungsmittel, Aufnahme von geeigneter Nahrung im Falle einer drohenden Unter- oder Überzuckerung). Sie ist aktuell noch zu jung, um die Geräte verlässlich selbständig bedienen und einschätzen zu können. Eine Assistenzkraft ist daher weiterhin notwendig."

Die Antragsgegnerin kann ihre ablehnende Entscheidung auch weder auf mangelnde sachliche Zuständigkeit noch auf den Nachrang der Eingliederungshilfe stützen. Zwar ist die Überlegung der Antragsgegnerin nicht abwegig, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Leistungen für die begehrte Assistenz auch gegen die Beihilfestelle und ihre private Krankenversicherung haben könnte. So können jedenfalls gesetzlich krankenversicherte Kinder, die an Diabetes mellitus Typ I leiden, einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V in Form der Krankenbeobachtung während des Schulbesuchs haben (vgl. Thüringer LSG, Beschl. v. 16.05.2017, Az. L 6 KR 1571/15 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 24.04.2017, Az. L 8 SO 50/16 B ER, beide in (juris)), und es liegt nahe, einen solchen Anspruch unter denselben Voraussetzungen auch für den Besuch von Kindertageseinrichtungen anzunehmen. Weiter hat der D unter dem 13.09.2022 den von der Antragsgegnerin gemäß § 141 SGB IX übergeleiteten Anspruch grundsätzlich bestätigt. Ob die Antragstellerin objektiv Leistungsansprüche gegen die Beihilfestelle und die private Krankenversicherung hat, kann aber dahinstehen; denn selbst wenn solche Ansprüche bestünden, würde dies nichts an der vorrangigen Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin ändern. Diese ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

Es handelt sich offenkundig weder bei der Beihilfestelle noch beim D um Rehabilitationsträger i.S.v. § 6 SGB IX oder um Sozialleistungsträger i.S.v. §§ 12, 18-29 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I). Die Antragsgegnerin macht also geltend, dass Ansprüche wegen desselben Teilhabebedarfs außer gegen sie selbst auch gegen andere bestehen, die nicht Rehabilitations- oder Leistungsträger sind. In einer solche Konstellation sind nicht die Regeln des Sozialgesetzbuches für Zuständigkeitskonkurrenzen einschlägig. Weder ist § 14 SGB IX heranzuziehen, denn dieser regelt nur die Zuständigkeitsklärung bei mehreren in Betracht kommenden Rehabilitationsträgern, noch kommt es auf den vorrangigen Leistungszweck an, der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (nur) für die Abgrenzung verschiedener Reha-Leistungsgruppen (jetzt § 5 SGB IX) maßgeblich ist (vgl. insbesondere zur Konkurrenz von Leistungen zur sozialen Teilhabe und zur medizinischen Rehabilitation BSG, Urt. v. 28.08.2018, Az. B 8 SO 5/17 R u.v. 19.05.2009, Az. B 8 SO 32/07 R, beide in (juris)).

Das Verhältnis von Ansprüchen auf Eingliederungshilfeleistungen und auf zweckidentische Leistungen "Anderer", die weder Rehabilitations- noch Leistungsträger sind, bestimmt sich vielmehr nach den Vorschriften, die der Verwirklichung des Nachrangs der Eingliederungshilfe (§ 91 SGB IX) dienen. Entgegen dem Bescheid vom 16.11.2022 rechtfertigt es § 91 SGB IX aber gerade nicht, Eingliederungshilfeleistungen bereits wegen eines Leistungsanspruchs gegen einen oder mehrere Andere abzulehnen. Denn der Anspruch auf Eingliederungshilfe ist schon dem Wortlaut von § 91 Abs. 1 SGB IX nach nur dann ausgeschlossen, wenn die leistungsberechtigte Person die erforderlichen Leistungen auch tatsächlich erhält (allg.M., vgl. Bieback in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7.A. 2020, § 91 SGB IX Rn. 3; Renate Bieritz-Harder in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6.A. 2022, § 91 Rn. 5. Dass in diesem Fall keine Leistung zu erbringen ist, folgt im Übrigen nicht aus § 91 Abs. 1 SGB IX, der als reiner Programmsatz zu verstehen ist, sondern aus der spezielleren Vorschrift § 104 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 SGB IX. Danach bestimmen sich die Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalls, u.a. nach dem Bedarf. Wird die Leistung von anderen erbracht, besteht aber kein Bedarf, so zutreffend Lund in BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 66. Edition Stand: 01.09.2022, § 91 SGB IX Rn. 1ff.). § 90 Abs. 2 SGB IX trifft lediglich Regelungen hinsichtlich der Verpflichtungen der in Betracht kommenden "Anderen", ohne den Leistungsanspruch gegen den Eingliederungshilfeträger zu tangieren.

Wenn bedarfsdeckende Leistungen, wie die Antragsgegnerin hier annimmt, auch von "Anderen" zu erlangen wären, wird der Nachranggrundsatz vielmehr mittels spezieller Ermächtigungsnormen verwirklicht. Handelt es sich bei den "Anderen" um vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger, greifen Erstattungsansprüche ein. Handelt es sich - wie nach Auffassung der Antragsgegnerin hier - um andere öffentliche Stellen oder um private Versicherungsunternehmen, kommt in der Regel eine Anspruchsüberleitung nach § 141 SGB IX in Betracht (Lund a.a.O.). Dieses Instrument ist der Antragsgegnerin durchaus bekannt, wie die für den abgelaufenen Bewilligungszeitraum bereits vorgenommenen Überleitungen zeigen; umso weniger ist der nunmehr erfolgte Ablehnungsbescheid verständlich.

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem erheblichen Gewicht der (auch durch das Grundgesetz (GG) und das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) geschützten) Interessen der Antragstellerin sowie der Irreversibilität einer auch nur vorübergehenden Unterdeckung des Teilhabebedarfs aufgrund des Zeitablaufs und ihrer voranschreitenden kindlichen Entwicklung.

Da die Antragsgegnerin durch die bereits vorgenommenen Überleitungen gem. § 141 SGB IX hinreichend geschützt ist, soweit der Antragstellerin tatsächlich korrespondierende Leistungsansprüche gegen Beihilfestelle und private Krankenversicherung zustehen sollten, würde schließlich auch eine Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfallen.

Über die bei der Antragsgegnerin beantragten weiteren Assistenzstunden für begleitete Umgänge der Antragstellerin mit ihrem Vater hatte das Gericht nicht zu entscheiden, da sich der hier gestellte Antrag ausdrücklich nur auf Eingliederungshilfe für den Besuch der Kita bezog.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Referenznummer:

R/R9641


Informationsstand: 28.09.2023