Urteil
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Depressionserkrankungen

Gericht:

LSG Baden-Württemberg 5. Senat


Aktenzeichen:

L 5 R 1265/18


Urteil vom:

01.07.2020


Grundlage:

  • SGB I § 66 Abs. 2 |
  • SGB VI § 43 Abs. 1 S. 2 |
  • SGB VI § 43 Abs. 2 S. 2 |
  • SGB VI § 102 Abs. 2 S. 1 |
  • SGB VI § 103

Leitsätze:

Der Senat hält an seiner Rspr., dass bei Depressionserkrankungen erst dann von einer Erwerbsminderung i.S.d § 43 SGB VI ausgegangen werden kann, wenn die depressive Symptomatik einen qualifizierten Verlauf mit unvollständigen Remissionen zeigt, erfolglos ambulante, stationäre und rehabilitative, leitliniengerecht durchgeführte Behandlungsversuche, einschließlich medikamentöser Phasenprophylaxe durchgeführt worden sind und darüber hinaus eine ungünstige Krankheitsbewältigung, eine mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbiditäten sowie lange Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegen (vgl. Senatsurteil vom 27.04.2016, - L 5 R 459/15 -, in juris), nicht mehr fest. Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung ist vielmehr für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung tatsächlich vorliegt, nicht heranzuzuziehen, sie ist nur für die Befristung und Dauer einer Rente von Bedeutung. Aus § 43 SGB VI lässt sich keine dahingehende Einschränkung entnehmen, dass die Nichtausschöpfung zumutbarer Behandlungsmaßnahmen zu einem materiell-rechtlichen Ausschluss des Rentenanspruchs führt. Insoweit bestimmt § 103 SGB VI ausdrücklich nur für den Fall, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt worden ist, dass der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (dann) ausgeschlossen ist.

Eine unterbliebene Behandlung führt - ohne Rücksicht auf die Ursachen der Unterlassung - auch nicht dazu, dass vorhandene Gesundheitsstörungen nicht als Krankheit im Rechtssinne anzusehen wären. Dem Rentenversicherungsträger steht es vielmehr offen, in Fallgestaltungen, in denen er eine fehlende adäquate Behandlung sieht, nach § 66 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch vorzugehen und nach erfolglos gebliebener Aufforderung zur Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen.

Rechtsweg:

SG Freiburg, Gerichtsbescheid vom 06.03.2018 - S 8 R 4692/16

Quelle:

Landesrecht Baden-Württemberg

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 06.03.2018 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.01. - 31.08.2018 zu gewähren.

Die im Jahr 1955 geborene Klägerin, die keine Berufsausbildung durchlaufen hat, war zuletzt als Reinigungskraft auf geringfügiger Basis tätig. Sie bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Nachdem zuvor gestellte Anträge auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für die Klägerin erfolglos blieben, beantragte die Klägerin am 28.06.2016 bei der Beklagten erneut die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie gab an, wegen psychosomatischer Erkrankungen nicht erwerbstätig sein zu können. Die Beklagte holte einen Befundbericht bei dem die Klägerin behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. H. vom 28.07.2016 ein und zog das im Rahmen eines früheren Antrages erstellte ärztliche Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. vom 30.10.2015 sowie den Entlassungsbericht der im Zeitraum vom 13.04. - 04.05.2016 in der Psychosomatischen Klinik Schloß W. durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme bei. Dr. M. hatte bei der Klägerin eine chronifizierte Panikstörung bei ängstlicher Persönlichkeitsakzentuierung, Adipositas per magna, arterielle Hypertonie sowie ein rezidivierendes HWS-Syndrom und Kniebeschwerden diagnostiziert. Er sah die Erwerbsfähigkeit der Klägerin als gefährdet an und empfahl eine Rehabilitationsmaßnahme. Aus der Rehabilitationsmaßnahme ist die Klägerin unter den Diagnosen eines Erschöpfungszustandes, einer generalisierten Angststörung, einer psychischen und einer Verhaltensstörung durch den schädlichen Gebrauch von Tabak, eines HWS-Syndroms und einer essentiellen Hypertonie (ohne hypertensive Krise) als fähig entlassen worden, leichte Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können.

Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung der medizinischen Unterlagen durch Dr. R. vom 03.08.2016 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 11.08.2016 ab. Die bei der Klägerin bestehenden Krankheiten führten, so die Beklagte begründend, nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da die Klägerin in der Lage sei, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich arbeiten zu können.

Den hiergegen u.a. unter der Begründung, die Beklagte habe eine fortgeschrittene Arthrose nicht berücksichtigt und der sie behandelnde Neurologe Dr. N. gehe in seinem Attest vom 01.09.2016 davon aus, dass sie keine drei Stunden mehr arbeiten könne, erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach einer erneuten sozialmedizinischen Überprüfung durch Dr. R. vom 21.09.2016 mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2016 zurück. Sie führte hierzu aus, dass nach dem Gutachten des Dr. M., dem Rehabilitationsentlassungsbericht sowie den beigezogenen Befundberichten der behandelnden Ärzte ein vollschichtiges Leistungsvermögen bestehe. Da die Klägerin keinen Beruf erlernt habe und zuletzt als Reinigungskraft tätig gewesen sei, komme auch eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht in Betracht.

Hiergegen hat die Klägerin am 25.11.2016 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Begründend hat sie auf die bestehenden erheblichen psychischen und körperlichen Einschränkungen verwiesen. Auf Grund dieser Beschwerden sei es ihr nicht möglich, länger als 10 Minuten zu stehen oder entsprechende körperliche Tätigkeiten auszuüben. Neben der orthopädischen Behandlung sei sie wegen Depressionen und erheblichen Angstzuständen in psychotherapeutischer Behandlung. Diesbezüglich habe auch bereits ein psychosomatisches Rehabilitationsverfahren stattgefunden.

Die Beklagte ist der Klage unter Verweis auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid entgegengetreten. Ergänzend hat die Beklagte sozialmedizinische Stellungnahmen vom 15.03.2017, 27.09.2017 und vom 16.10.2017 vorgelegt.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin (Dr. N. , Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Dr. R. , Facharzt für Orthopädie, sowie Dr. K. , Facharzt für Orthopädie) schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen und Prof. Dr. E. , Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum F., zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachten beauftragt. In seinem Sachverständigengutachten vom 22.06.2017 hat Prof. Dr. E. bei der Klägerin eine depressive Episode diagnostiziert, in der auch das Auftreten von Panikattacken und Ängsten enthalten sei. Hierdurch würden die Affektivität, der Antrieb, das Denken, die Kognition sowie das Vegetativum beeinträchtigt. Simulation oder Aggravation seien nicht nachweisbar. Leichte Tätigkeiten könnten fluktuierend in einem zeitlichen Umfang von drei bis unter sechs Stunden täglich verrichtet werden. Nach einer erfolgreichen adäquaten Pharmakotherapie, die aktuell nicht durchgeführt werde, der Klägerin aber zumutbar sei, könne wieder von einem Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich ausgegangen werden.

Mit Gerichtsbescheid vom 06.03.2018 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2016 verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall am 20.06.2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.01. - 31.08.2018 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, es sei nach der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nur noch in der Lage sei, leichte körperliche Tätigkeiten in einem Umfang von drei bis unter sechs Stunden täglich auszuüben zu können, es folge insofern der Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. E. . Die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen verminderten ihre Energie und führten zu einem vorschnellen Abbruch von Tätigkeiten. Daneben sei die Klägerin auch durch orthopädische Erkrankungen beeinträchtigt. Neben der Leistungseinschätzung sei jedoch, so das SG weiter, auch nachvollziehbar, dass aktuell und in den letzten Jahren keine adäquate Pharmakotherapie stattgefunden habe, die depressive Episode jedoch medikamentös behandelbar sei, weswegen nicht von einer dauerhaften Leistungseinschränkung auszugehen und lediglich eine befristete Rente beansprucht werden könne. Obschon das Leistungsvermögen der Klägerin nicht auf eine Leistungsfähigkeit unter drei Stunden täglich abgesunken sei, sei die Rente als Arbeitsmarktrente im Umfang als volle Erwerbsminderungsrente zu gewähren. Der Eintritt der quantitativen Leitungsreduzierung sei hierbei auf den Tag der Untersuchung bei Prof. Dr. E. zu datieren, die Rente sei hiernach ab dem siebten Monat nach dem Leistungsfall, ab dem 01.01.2018, befristet bis zum 31.08.2018 zu zahlen.
Gegen den ihr am 12.03.2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 06.04.2018 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung bringt sie vor, das Gutachten des Prof. Dr. E. , auf das sich das SG gestützt habe, sei weder nachvollziehbar noch schlüssig. So beinhalte das Gutachten keine Ausführungen betr. des Tagesablaufes der Klägerin. Dies sei jedoch erforderlich, da sich psychische Erkrankungen auch in der sozialen Interaktionsfähigkeit zeigten. Es könne daher nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass das Leistungsvermögen der Klägerin in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt sei. Auch gehe aus dem Gutachten hervor, dass die Klägerin nicht adäquat behandelt werde und dass nach einer derartigen Therapie wieder von einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit auszugehen sei. Dies stehe einer Rentengewährung entgegen.


Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 06.03.2018 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.


Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages bringt sie vor, die Entscheidung des SG, in der das Gutachten des Prof. Dr. E. berücksichtigt worden sei, sei nicht zu beanstanden. Das Gutachten biete eine ausreichende Grundlage für die hierin getroffene Leistungseinschätzung. Im Übrigen bestünden bei ihr auch Leistungseinschränkungen wegen Erkrankungen aus dem orthopädischen Fachgebiet. So sei ihr nur eine Gehzeit von maximal 10 min. möglich. Die bestehenden Erkrankungen hätten sich auch unter der jeweiligen Behandlung nicht gebessert. Die Klägerin hat ergänzend medizinische Unterlagen betr. eines am 06.10.2018 erlittenen Unfalls vorgelegt, bei dem sie sich Riss-/Quetschwunde am linken Unterschenkel zugezogen hat.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat die Neurologin und Psychotherapeutin Dr. S. zur gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In ihrem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 28.11.2019 hat Dr. S. bei der Klägerin eine chronifizierte Panikstörung mit Vermeidungsverhalten sowie eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig in mittelgradiger Ausprägung diagnostiziert. Die Klägerin sei, so Dr. S. , nur noch in der Lage, eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem zeitlichen Umfang von drei bis weniger als sechs Stunden täglich verrichten zu können. Sie hat hierzu ausgeführt, durch die depressive Erkrankung komme es zu einer phasenabhängigen Beeinträchtigung der Stimmung, des Antriebes und der Affektivität, zu einer Minderung von Konzentration und einer Beeinträchtigung des Denkens sowie zu einer reduzierten emotionalen Stabilität. Die chronifizierte Panikstörung bedinge Angstzustände, durch die der Affekt, die Kommunikationsfähigkeit und die kognitive Flexibilität beeinträchtigt würden. Infolge des ungünstigen Krankheitsverlaufs habe sich insg. eine reduzierte psychophysische Belastungsfähigkeit ausgebildet.

Die Beklagte ist der gutachterlichen Einschätzung von Dr. S. entgegengetreten und hat hierzu eine sozialmedizinische Stellungnahme des Dr. N. vom 07.01.2020 (und inhaltsgleich vom 24.01.2020) vorgelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die bei der Beklagten für die Klägerin geführte Leistungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2020 geworden sind, sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2020 verwiesen.

Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Beklagten ist statthaft. Zwar betrifft die Berufung der Beklagten bei einer erstinstanzlichen Verurteilung von acht Monaten keine wiederkehrende Leistung von mehr als einem Jahr (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), jedoch übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes den nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erforderlichen Wert von 750,- EUR.

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung, der Klägerin für den Zeitraum vom 01.01. - 31.08.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Da die Klägerin keine (Anschluss-) Berufung eingelegt hat, ist vorliegend nur darüber zu befinden, ob die Klägerin in der Zeit vom 01.01. - 31.08.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beanspruchen kann.

Die Berufung führt für die Beklagte inhaltlich nicht zum Erfolg, das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01.01. - 31.08.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Der Bescheid vom 11.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2016, mit dem die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin abgelehnt hat, ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Der Klägerin steht für die Zeit vom 01.01. - 31.08.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 01.01.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.04.2007 (BGBl. I, 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus ergibt sich, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.

Der Senat gelangt vor diesem Hintergrund zu der Überzeugung, dass die Klägerin ab dem 20.06.2017, dem Tag ihrer Untersuchung durch Prof. Dr. E. , (bis zum 31.08.2018) nicht mehr in der Lage gewesen ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Senat ist, wie das SG, vielmehr davon überzeugt, dass sich das Leistungsvermögen der Klägerin in zeitlicher Hinsicht auf einen Zeitraum von drei bis unter sechs Stunden täglich reduziert hat. Der Senat folgt insofern der Leistungseinschätzung der im Berufungsverfahren gutachterlich gehörten Neurologin und Psychotherapeutin Dr. S. in deren neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 28.11.2019. Hiernach litt die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum (und leidet unverändert) an einer chronifizierten Panikstörung mit Vermeidungsverhalten sowie an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig in mittelgradiger Ausprägung. Dies führt nach den Ausführungen der Gutachterin zu einer reduzierten psychophysischen Belastungsfähigkeit. Dr. S. hat insofern ausgeführt, dass bei der Klägerin anlässlich ihrer Untersuchung die Merkfähigkeit beeinträchtigt, die Aufmerksamkeit und die Konzentrationsfähigkeit deutlich reduziert und die Auffassungsgabe gemindert gewesen ist. Der Affekt ist bei einer eingeschränkten Schwingungsfähigkeit ängstlich und gedrückt. Hieraus resultieren, so die Gutachterin, ein fehlender Selbstwert, Hoffnungslosigkeit, eine rasche Erschöpfbarkeit, ein erhebliches Vermeidungsverhalten und ein sozialer Rückzug. Letzteres wird durch die Gutachterin auch durch die Wiedergabe des klägerseits geschilderten Tagesablaufes dahingehend belegt, dass selbiger ein deutlich eingeschränktes Aktivitätsausmaß bestätigt. So wird insb. ausgeführt, dass Aktivitäten, die außerhalb der eigenen Wohnung zu verrichten sind, mit Ausnahme von Spaziergängen mit dem Rollator, bspw. das Einkaufen und Behördengänge, vom Sohn der Klägerin durchgeführt werden. Soweit die Beklagte der Leistungseinschätzung der Gutachterin im Wesentlichen unter der Begründung der Nähe des Krankheitsbildes zur Aggravation entgegentritt, hat Dr. S. in ihrem Gutachten ausdrücklich ausgeführt, keine Anzeichen hierfür eruiert zu haben. Soweit im Übrigen durch Dr. N. für die Beklagte angeführt wird, das Gutachten von Dr. S. sei nicht ausreichend ausführlich, es fehle an einer Konsistenzprüfung der nicht nachvollziehbaren Aussagevalidierung, der geringen Anamnese und der leichtgradigen psychopathologischen Befunde, teilt der Senat diese Bedenken nicht; das Gutachten ist für den Senat in sich schlüssig und verständlich. Der Beklagten bzw. Dr. N. ist zwar zuzugestehen, dass das BSG bei Erkrankungen mit "neurotischem" Einschlag wegen der "Simulationsnähe" strenge Beweisanforderungen stellt (Urteil vom 20.10.2004 - B 5 RJ 48/03 R - in juris), indes gelten bei psychischen Erkrankungen keine anderen Beweismaßstäbe als bei "körperlichen" Erkrankungen. Vielmehr müssen bei psychischen wie bei organischen Erkrankungen die bei der Begutachtung berichteten Beschwerden mit den im jeweiligen Fachgebiet nach den dort maßgebenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen anerkannten Methoden validiert werden, um ggf. vorliegende "Verfälschungstendenzen" zu identifizieren (Freudenberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, § 43 SGB VI, Rn. 71). Da Dr. S. hierzu ausgeführt hat, keine Anzeichen hierfür gesehen zu haben, solche insb. auch nicht im Gutachten von Prof. Dr. E. zu Tage getreten sind, bestand kein Erfordernis, die Beschwerdeschilderung weitergehend zu validieren. Im Übrigen mag eine dezidiertere Darlegung der psychopathologischen Befunde zwar für die Diagnoseerstellung sinnvoll erscheinen, indes reichen die mitgeteilten psychopathologischen Befunde aus, die Leistungseinschätzung der Gutachterin verständlich zu machen.

Soweit beklagtenseits u.a. unter Hinweis auf die Rspr. des erkennenden Senats zur Begründung der Berufung vorgebracht wird, die fehlende adäquate Behandlung der bestehenden Gesundheitsstörungen stehe einer Rentengewährung entgegen, ist gerichtlicherseits einzuräumen, dass der Senat tatsächlich die Auffassung vertreten hat, dass Depressionserkrankungen, rentenrechtliche Beachtlichkeit vorausgesetzt, nicht unbesehen zu einer Berentung führen, diese vielmehr behandelbar und auch zu behandeln seien, bevor Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI angenommen werden könne; eine Rentengewährung komme daher erst dann in Betracht, wenn die depressive Symptomatik, einen qualifizierten Verlauf mit unvollständigen Remissionen zeige, erfolglos ambulante, stationäre und rehabilitative, leitliniengerecht durchgeführte Behandlungsversuche, einschließlich medikamentöser Phasenprophylaxe (z.B. Lithium, Carbamazepin, Valproat) durchgeführt worden seien und darüber hinaus eine ungünstige Krankheitsbewältigung, eine mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbiditäten sowie lange Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegen (vgl. Senatsurteil vom 27.04.2016, - L 5 R 459/15 -, in juris). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung nicht mehr fest. Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung ist vielmehr für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung tatsächlich vorliegt, nicht heranzuzuziehen, sie ist nur für die Befristung und Dauer einer Rente von Bedeutung. I.d.S. hat das BSG in seinem Beschluss vom 07.08.2014 (- B 13 R 420/13 B -, in juris) ausgeführt, dass sich das (dortige) LSG hätte veranlasst sehen müssen, der vom (dortigen) Kläger beantragten zusätzlichen ergänzenden (schriftlichen oder mündlichen) Anhörung des (dortigen) Sachverständigen zum (aktuellen) Leistungsvermögen auf nervenärztlichem Fachgebiet (also ohne eine "adäquate zielgerichtete" (psychotherapeutische) Behandlung" bzw. wie dieser "Behandlungsvorbehalt" in Bezug auf das Leistungsvermögen des Klägers zu verstehen ist) nachzukommen. Hieraus folgt für den Senat, dass das BSG die Frage der quantitativen Leistungsreduzierung ungeachtet einer adäquaten Behandlung beurteilt. Auch lässt sich nach jetziger Ansicht des Senats der Vorschrift des § 43 SGB VI keine dahingehende Einschränkung entnehmen, dass die Nichtausschöpfung zumutbarer Behandlungsmaßnahmen zu einem materiell-rechtlichen Ausschluss des Rentenanspruchs führt. Insoweit bestimmt § 103 SGB VI ausdrücklich nur den Fall, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt worden ist, dass der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (dann) ausgeschlossen ist. Eine unterbliebene Behandlung führt - ohne Rücksicht auf die Ursachen der Unterlassung - auch nicht dazu, dass vorhandene Gesundheitsstörungen nicht als Krankheit im Rechtssinne anzusehen wären (vgl. BSG, Urteil vom 19.06.1979 - 5 RJ 122/77 - in juris, dort Rn. 14.). Der Senat verkennt bei seiner Neubewertung der Rechtsfrage nicht, dass bei psychischen Erkrankungen der Renten"zugang" geringeren Anforderungen unterliegt; dem Rentenversicherungsträger steht es jedoch frei, in Konstellationen, in denen er eine fehlende adäquate Behandlung sieht, nach § 66 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch vorzugehen und nach erfolglos gebliebener Aufforderung zur Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen (vgl. Freudenberg, a.a.O., Rn. 64).

Mithin ist der Senat davon überzeugt, dass das Leistungsvermögen der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum in quantitativer Hinsicht reduziert gewesen ist, sie nur noch in der Lage war, einer leichten Tätigkeit in einem zeitlichen Rahmen von drei bis unter sechs Stunden täglich nachzugehen. Mit diesem Leistungsvermögen hat die Klägerin "a priori" nur einen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Da die Klägerin jedoch keinen adäquaten Teilzeitarbeitsplatz innegehalten hat, schlägt diese nach den Grundsätzen der Arbeitsmarktrente (vgl. hierzu Großer Senat des BSG, Beschluss vom 10.12.1976 - GS 2/75 -, in juris) in eine Rente wegen voller Erwerbsminderung durch.

Die Erwerbsminderungsrente ist nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit zu leisten. Die Befristung auf acht Monate wurde von der Beklagten nicht in Frage gestellt. Die Rente beginnt nach § 101 Abs. 1 SGB VI mit dem siebten Monat nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dies führt vorliegend zu einem Rentenbeginn mit dem 01.01.2018.

Mithin hat die Klägerin in der Zeit vom 01.01. - 31.08.2018 einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Die Entscheidung des SG ist hiernach nicht zu beanstanden; die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 06.03.2018 ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R8940


Informationsstand: 20.01.2022