Die zulässige Klage ist auch begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Behindertendreirad und entsprechende Kostenübernahme durch die Beklagte. Der Bescheid vom 07.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin aus
§ 13 Abs. 3 SGB V sind erfüllt. Die Klägerin hat die Kosten für das begehrte Therapiedreirad in Höhe von 2.300
EUR gegenüber der Firma tri-mobil beglichen. Ihr Anspruch richtet sich daher auf Kostenübernahme durch die Beklagte. Grundvoraussetzung des Kostenerstattungsanspruches ist, dass die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. In Betracht kommt hier nur die zweite Alternative des § 13
Abs. 3
SGB V. Diese Voraussetzungen des haftungsauslösenden Tatbestandes der zweiten Regelungsalternative des § 13
Abs. 3 Satz 1
SGB V liegen hier vor, so dass der ablehnende Bescheid vom 07.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2007 aufzuheben war. Die Beklagte hat die von der Klägerin beantragte und ihr rechtlich zustehende Leistung, mithin die Erfüllung des Primäranspruchs, objektiv rechtswidrig verweigert. Hierdurch war die Klägerin gezwungen, sich die notwendige Leistung selbst zu beschaffen.
Die einschlägigen materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für die beanspruchte Hilfsmittelversorgung sind zu diesem Zeitpunkt erfüllt gewesen einschließlich der Voraussetzungen für die Modalitäten der Leistungserbringung,
d. h. das Vorliegen einer ärztlichen Verordnung. Gemäß
§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V umfasst die vertragsärztliche Versorgung auch die Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Das materielle Leistungsrecht des
SGB V besagt in
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, dass Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach
§ 34 SGB V ausgeschlossen sind.
Der Hilfsmittelbegriff ist im Wesentlichen von den eingesetzten Mitteln und den mit diesen verfolgten Zwecken geprägt. § 33
Abs. 1 Satz 1
SGB V beschreibt im Einzelnen die Ziele, die mit dem Einsatz von Hilfsmitteln verfolgt werden, nämlich die Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung einerseits und den Ausgleich von Behinderungen andererseits. Unter die Fallvariante des
Abs. 1 Satz 1 fallen Gegenstände, die unmittelbar der Krankheitsbehandlung dienen, in dem von ihnen ein therapeutischer Erfolg erhofft wird. Hierunter fallen vor allem Stützen- und Haltevorrichtungen
(z. B. Krücken), die während eines,
ggf. nach einem operativen Eingriff mit Korrekturmaßnahmen notwendigen Heilungsprozesses, Körperteile oder Körperfunktionen entlasten oder vorübergehend ersetzen sollen. Demgegenüber ist bei Hilfsmitteln, die dem Behinderungsausgleich dienen oder einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen, die Ausgangssituation so, dass die gesundheitliche Regelwidrigkeit selbst nicht behoben werden kann oder soll. Es geht nicht um die medizinische Bekämpfung einer Erkrankung im engeren Sinne. Ein therapeutischer Erfolg dergestalt, dass die Erkrankung geheilt wird und damit eine kausale Therapie stattfindet, wird, zumal wenn eine kausale Therapie nicht zur Verfügung steht, nicht angestrebt (HLSG, Urteil vom 19.06.2008 -
L 8 KR 69/07).
Bei der Grunderkrankung der Klägerin handelt es sich um eine infantile Cerebralparese, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Hierbei sind die Funktionen etlicher Anteile des motorischen Hirnrindengebietes beeinträchtigt. Eine cerebrale Bewegungsstörung wird zum einen meist durch eine hohe Muskelspannung (Muskelhypertonie) oder ständigen Wechsel von starken und schwachen Muskelverspannungen (Muskelhypotonie) sichtbar. Die Zusammenarbeit verschiedener Muskeln ist gestört, gleichfalls die Kontrolle und Steuerung der Muskeln. Bei der Klägerin besteht unstreitig eine schwere Erkrankungsform einer infantilen Cerebralparese, die sich in ihrer Symptomatik als einer spastische Parese mit einer spastischen Gangstörung darstellt. Der Muskeltonus, die Muskelstärke, die Muskelkoordination und hierdurch die Bewegungsabläufe sind betroffen.
In Anschluss an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23. Juli 2002,
B 3 KR 3/02 R), ist auch nach Überzeugung der Kammer ein behindertengerechtes Fahrrad als Hilfsmittel von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung weder generell ausgeschlossen noch generell erfasst. Ob eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht, ist für jeden Einzelfall nach den gesetzlichen Vorgaben der §§ 33,
34 SGB V zu prüfen. Danach fällt die Ermöglichung des Fahrradfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, nicht von vorne herein in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt allein die medizinische Rehabilitation (Reha) und damit die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein möglichst selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Reha, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Die Einführung des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (
SGB IX) "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" hat daran nichts geändert. Daraus folgt, dass die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fällt, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (
vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 6. August 1998 -
B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33
Nr. 29; SozR 3-2500 § 33 Nrn. 5, 27 und 32 sowie zuvor bereits: SozR 2200 § 182b Nrn. 12, 30, 34, 37 jeweils m. w. N.). Nach dieser Rechtsprechung des
BSG gehören zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (siehe
BSG in SozR 3-2500 § 33
Nr. 29 m. w. N.). Die elementare "Bewegungsfreiheit" ist als Grundbedürfnis anzusehen (SozR 3-2500 § 33
Nr. 7 - Rollstuhlboy). Dieses Grundbedürfnis wird bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens
etc. sichergestellt. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius des Versicherten in diesem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Das behindertengerechte Fahrzeug ist nicht notwendig i.
S. von § 33
Abs. 1
SGB V, wenn es dem Behinderten einen größeren Bewegungsradius als den eines gesunden Fußgängers ermöglichen soll. Nur wenn durch das Fahrzeug ein weiter gehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein. Der Beklagten ist deshalb zuzugeben, dass sich kein Anspruch auf Versorgung mit einem Dreirad vor dem Hintergrund des Behinderungsausgleichs in Form eines Ersatzes des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Fortbewegung im Sinne von § 33
Abs. 1
S. 1, 3. Variante
SGB V ergibt. Insoweit ist die Klägerin durch ihren handbetriebenen Rollstuhl und den E-Rollstuhl hinreichend versorgt.
Materiell-rechtlich folgt der Anspruch der Klägerin jedoch vorliegend aus § 33
Abs. 1
S. 1, 2. Variante
SGB V. Das Therpiedreirad ist im vorliegenden Einzelfall notwendig, um einer drohende Behinderung der Klägerin, nämlich dem Verlust der Gehfähigkeit, vorzubeugen. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer unzweifelhaft aus den Befundberichten von
Dr. V. vom 05.05.2006 und
Prof. W. vom 07.11.2003, 12.09.2005 und 21.04.2008. Die behandelnden Ärzte führen aus, dass das Dreirad zum Erhalt der Beweglichkeit und zum Training der Muskulatur erforderlich ist, wobei unzweideutig dargelegt wird, dass das Training mit dem Dreirad therapeutische Effekte nach sich zieht, die nicht durch Krankengymnastik in geringer Frequenz erreicht werden können. Zudem weist
Prof. W. darauf hin, dass Krankengymnastik allein - unabhängig von der Häufigkeit - nicht die gleichen Effekte wie die Benutzung des Dreirades zu erzielen vermag, so dass es zum Erhalt der Gehfähigkeit der Klägerin keine Alternative gibt. Das Gericht folgt diesen Feststellungen, die von der Beklagten nicht widerlegt werden konnten. Insbesondere hat die Klägerin selber im Termin zur mündlichen Verhandlung nochmals dargelegt, welche gesundheitlichen Vorteile ihr aus der täglichen Nutzung des Dreirades erwachsen. So kann der Muskeltonus regelmässig, d.h. mehrfach täglich, reguliert und die Koordination geschult werden. Das Gericht hat auch keinen Zweifel an der Richtigkeit der Schilderung der Klägerin im Hinblick auf die Tatsache, dass in der Zeit des Intervalls, in dem kein Dreirad zur Verfügung stand, es zu häufigen Stürzen mit Verletzungen gekommen ist, weil der Muskeltonus anderweitig nicht reguliert werden konnte.
Die Beklagte kann dem nicht erfolgreich entgegen halten, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Dreirad um ein herkömmliches Fahrrad und damit um einen Gegenstand des täglichen Bedarfs handelt. Ein solcher allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist dann gegeben, wenn der Gegenstand für alle oder wenigstens die Mehrzahl der Menschen unabhängig von Krankheit oder Behinderung unentbehrlich ist. Umgekehrt liegt ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand dann nicht vor, wenn die Hauptfunktion medizinisch geprägt ist und lediglich eine Nebenfunktion auf einen Gebrauchsgegenstand hindeutet (Gerlach in Kasseler Kommentar (EL 1/2008), § 33
SGB V Rdnr. 14ff. m. w. N.). Dementsprechend sind solche Geräte trotz einer großen Verbreitung keine allgemeinen Gebrauchsgegenstände, die für die speziellen Bedürfnisse von Kranken oder Behinderten hergestellt und überwiegend von diesen benutzt werden (Gerlach, a.a.O., § 33
SGB V Rdnr. 15). An diesen Grundsätzen gemessen handelt es sich bei dem streitgegenständlichen Dreirad nicht um einen Bedarfsgegenstand des täglichen Lebens. Das Dreirad wird speziell für die Bedürfnisse Behinderter und Rehabilitanden hergestellt. Die Fahrzeuge werden danach individuell auf die Bedürfnisse des Behinderten abgestimmt. Dabei werden Körpergröße, Gewicht und Art der Behinderung bei der Fahrzeugplanung berücksichtigt. Sie sind danach entscheidende Faktoren für die Sicherheit des Benutzens und den erfolgreichen Therapieverlauf. Das Dreirad dient damit gänzlich den speziellen Bedürfnissen des Behinderten. Es kann daher nicht in einen von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossenen Teil, der den allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens bildet, und einen den Behinderten Ausgleich dienenden Teil, der als Hilfsmittel einzustufen ist und von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst wird, aufgespalten werden. Selbst wenn man annehmen würde, dass das Dreirad eine Doppelfunktion als Gebrauchsgegenstand und Hilfsmittel aufweist, entbindet dies die Beklagte nicht von ihrer Leistungspflicht, da der auf die Hilfsmitteleigenschaft entfallende Teil der Herstellungskosten deutlich die Kosten eines handelsüblichen Damenfahrrades übersteigt (zu den Voraussetzungen Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 33 Rn. 15)
Der Anspruch des Versicherten auf eine Versorgung mit einem Hilfsmittel setzt auch nicht voraus, dass die Nutzung des Hilfsmittels für die Zukunft die Verordnung von Heilmitteln einspart. Dies ist zwar wünschenswert, kann jedoch § 33
Abs. 1
SGB V nicht als Voraussetzung für eine Hilfsmittelversorgung entnommen werden. Insoweit könnte die Klägerin durchaus auf andere Therapieformen verwiesen werden. Diese liegen jedoch zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Einzelfall erkennbar nicht vor. Insbesondere folgt das Gericht den Feststellungen von
Prof. W. auch dahingehend, dass Alternativen zur Behandlung mit dem Dreirad nicht zur Verfügung stehen und die gleichen Effekte insbesondere auch nicht durch hochfrequentere Krankengymnastik erzielt werden können.
Die Beklagte kann dem Anspruch der Klägerin im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des
§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V deshalb auch nicht entgegenhalten, die Verbesserung der Mobilität des Klägers und das Trainieren komplexmotorischer Bewegungsmuster könne durch die Verordnung von Heilmitteln in gleicher Weise und kostengünstiger erreicht werden. Dieser Vortrag der Beklagten ist zu allgemein gehalten, um die Feststellungen der behandelnden Ärzte erschüttern zu können. Insbesondere erkennt das Gericht auch nicht, inwieweit ein Heimtrainer, der gleichförmige Bewegungen schult, den gleichen Effekt wie das Radfahren im Freien, das hohe Anforderungen an die Koordination der Bewegungen stellt, erzielen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.