Urteil
Anspruch auf Kostenerstattung für ein selbst beschafftes Rollstuhlbike

Gericht:

LSG Essen 16. Senat


Aktenzeichen:

L 16 KR 45/09


Urteil vom:

24.06.2010


Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.01.2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für ein selbst beschafftes sog. Rollstuhlbike (syn.: Speedy-Bike, Hand-Bike) hat. Bei diesem Gerät handelt es sich um ein an einen Rollstuhl ankuppelbares Zuggerät, das mit einer in Brusthöhe des Rollstuhlfahrers angebrachten Handkurbel ausgestattet ist und die Kraft mittels einer Kette auf das dazugehörige Vorderrad überträgt.

Der 1968 geborene Kläger erlitt im Juli 2003 bei einem Fahrradunfall eine contusio spinalis. Wegen der verbliebenen Unfallfolgen (inkomplette Querschnittslähmung) ist er mit Unterarmgehstützen, einem Rollator sowie einem Greifreifenrollstuhl (Aktivrollstuhl) versorgt. Er besitzt und fährt einen auf Handgas umgebauten Pkw.

Im März 2005 beantragte er unter Vorlage einer Verordnung der Internistin Dr. Q ein Hand-Bike der Fa. Speedy Reha-Technik. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Dr. H vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein und lehnte den Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 26.04.2005 (Widerspruchsbescheid vom 20.09.2005) ab, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) allenfalls Kinder und Jugendliche Anspruch auf ein Rollstuhlbike hätten. Bei Erwachsenen gehöre Radfahren nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen, für deren Sicherstellung die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einzustehen habe; die bisherige Versorgung des Klägers mit Aktivrollstuhl und Rollator sei ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich.

Mit der am 04.10.2005 zum Sozialgericht Münster erhobenen Klage hat der Kläger, der zwischenzeitlich das Speedy-Bike angeschafft hatte, sein nunmehr auf Kostenerstattung umgestelltes Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung schließe nicht aus, dass im Einzelfall auch ein erwachsener Versicherter Anspruch auf Gewährung eines Rollstuhlbikes habe. Ein solches Hilfsmittel sei in seinem Fall auch erforderlich. Denn in Abhängigkeit von seiner Tagesform könne er mit dem manuell betriebenen Rollstuhl lediglich Strecken von 500 bis 1000 m zurücklegen, was jedoch nicht ausreiche, um die täglichen Wege in seinem Nahbereich zurückzulegen. Dazu versetze ihn nur das Speedy-Bike in die Lage, denn durch die Übersetzung verringere sich der Kraftaufwand gegenüber dem Greifreifenrollstuhl.

Die Beklagte hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten. Ein Wahlrecht des Klägers zwischen einem Elektrorollstuhl und dem Rollstuhlzuggerät bestehe nicht, weil ein Elektrorollstuhl nur dann in Betracht komme, wenn ein handbetriebener Rollstuhl nicht bewegt werden könne. Eine Indikation für einen Elektrorollstuhl sei beim Kläger nicht gegeben.

Mit Urteil vom 22.01.2009 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten des selbst beschafften Speedybikes in Höhe von 2619,18 EUR zu erstatten. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe die Kostenübernahme für das Speedy-Bike zu Unrecht abgelehnt und sei daher gemäß § 13 Abs. 3 SGB V verpflichtet, dem Kläger die für die Anschaffung entstandenen Kosten zu erstatten. Das Vermögen des Klägers, mit dem Aktivrollstuhl 500 - 1000 m zurückzulegen, reiche zur Erschließung des Nahbereichs nicht aus, zumal hierzu auch der Rückweg zu rechnen sei. Auf die Benutzung des PKW zur Erschließung des Nahbereichs dürfe der Kläger nicht verwiesen werden. Weil damit die Voraussetzungen für die Gewährung eines Elektrorollstuhls gegeben seien, habe der Kläger statt eines solchen das kostengünstigere Hand-Bike wählen dürfen.

Gegen das am 12.02.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 06.03.2009 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie aus: Der vom Sozialgericht angenommene Anspruch auf einen Elektrorollstuhl und das daraus resultierende Wahlrecht zwischen Elektrorollstuhl und Hand-Bike bestünden hier nicht. Der Basisausgleich im Bereich des Gehens umfasse die Fähigkeit, sich in einer Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen " oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Da der Kläger in der Lage sei, eine Strecke zwischen 500 und 1000 m mit dem Aktivrollstuhl zurückzulegen, könne er die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung gelegenen Stellen mit dem von ihr Verfügung gestellten Aktivrollstuhl erreichen. Besonderheiten des Wohnortes seien bei der Hilfsmittelversorgung nicht zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.01.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung: Das Sozialgericht habe insbesondere zutreffend festgestellt, dass er nicht in der Lage sei, sich den Nahbereich mit dem Aktivrollstuhl zu erschließen. Dazu gehöre nicht nur die Fähigkeit zum Hin-, sondern auch die zum Rückweg. Wegen der Mitberücksichtigung des Rückweges reduziere sich die ihm mit dem Aktivrollstuhl mögliche Entfernung auf 250 m pro Strecke. Er setze das Speedy-Bike, das er ohne fremde HIlfe an den Rollstuhl ankuppeln könne, für Spaziergänge und die Erledigung der Alltagsgeschäfte im Nahbereich der Wohnung, wie zum Beispiel Post, Bank oder Apotheke, ein. Diese Wegstrecke betrage hin- und zurück circa 2000 m. Es handele sich dabei nicht um dem Sport oder dem Freizeitbereich zuzurechnende Aktivitäten, sondern um Wege, die zum Grundbedürfnis der Mobilität beziehungsweise der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gehörten. Nach der Entscheidung des BSG vom 19.04.2007 (B 3 KR 9/06 R) seien die Verhältnisse des Einzelfalls bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung sehr wohl zu berücksichtigen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens des Dr. O, Facharzt für Neurologie und Oberarzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie am I-Krankenhaus N. In seinem unter dem 24.11.2009 erstatteten Gutachten ist der Sachverständige nach ambulanter Untersuchung des Klägers zu folgendem Ergebnis gelangt: Die Angaben des Klägers, er könne - abhängig von Tagesform und Bodenbeschaffenheit - mit dem Aktivrollstuhl 500 bis 1000 m ohne Pause zurücklegen, seien nachvollziehbar. Die Limitierung der zumutbaren Strecke ergebe sich vornehmlich durch die Paresen der C8/TH1-versorgten Muskulatur bei gleichzeitig bestehender Spastik. Mit zunehmender Spastik komme es zu einer Verschlechterung der Muskelkraft und der Feinmotorik bei gleichzeitig einschießender Spastik. Für Strecken über 500 m benötige der Kläger Pausen. Bei anschließender Fortsetzung der Fortbewegung sei davon auszugehen, dass es zu einer immer rascheren Ermüdbarkeit mit weiterer Verkürzung der Strecke und Verlängerung der notwendigen Pausen komme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Münster, Urteil vom 22.01.2009 - S 11 KR 227/05
BSG, Urteil vom 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten des selbst angeschafften Hand-Bikes, denn entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine Versorgung des Klägers mit dem beantragten Rollstuhl-Bike abgelehnt.

Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung eines Hand-Bike, denn ein solches Zuggerät ist zum Ausgleich seiner Behinderung nicht erforderlich. Die Mobilität des Klägers ist vielmehr mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl in ausreichendem Maß sichergestellt.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

1. Ein Hand-Bike ist nicht zum Gebrauch durch jedermann bestimmt und deshalb kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Vielmehr handelt es sich um eine handbetriebene Zugvorrichtung speziell für Rollstühle, die nur von Kranken und Behinderten benutzt wird. Das Hilfsmittel ist auch nicht durch Rechtsverordnung ausgeschlossen.

2. Es fehlt aber an der Erforderlichkeit der Versorgung mit einem Hand-Bike i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V.

a) Zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (1. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) benötigt der Kläger das Hand-Bike nicht.

b) Entgegen seiner Auffassung ist aber die Benutzung des Hand-Bikes auch nicht erforderlich, um seine Behinderung auszugleichen (3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

aa) Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind neben den Mitteln, die unmittelbar die ausgefallene Funktion ersetzen (unmittelbarer Behinderungsausgleich) auch solche, die nur die Folgen des Funktionsverlustes ausgleichen. Soweit - wie hier - es nicht um den Ausgleich der Behinderung als solche, sondern um den Ausgleich der Folgen der Behinderung geht (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich) ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein Hilfsmittel von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen oder geistigen Freiraums (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, 7 m.w.N.).

bb) Das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" ist jedoch von der gesetzlichen Krankenversicherung nur i.S. eines Basisausgleichs der Behinderung sicherzustellen und nicht i.S.d. vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden. Das BSG hat insoweit zunächst auf diejenigen Entfernungen abgestellt, "die ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß zurücklegt" (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7). Später hat es das Grundbedürfnis auf die Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31, seither ständige Rechtsprechung). Hierzu zählt es z.B. das Einkaufen, die Erledigung von Post- und Bankgeschäften sowie den Besuch von Apotheken, Ärzten und Therapeuten (s. etwa BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 15). Kann sich ein behinderter Versicherter mit Hilfe eines Selbstfahrerrollstuhls in dem so bezeichneten Nahbereich bewegen, ist dem Grundbedürfnis auf Fortbewegung genüge getan. Nicht zu den Grundbedürfnissen rechnet das BSG das Zurücklegen längerer Wegstrecken, wie sie üblicherweise von Radfahrern oder Joggern zurückgelegt werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; BSG, Beschluss vom 22.04.2009 - B 3 KR 54/08 B -). Es hat lediglich für Jugendliche auch Entfernungen berücksichtigt, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt, wobei das Hilfsmittel aber nicht wegen der Erweiterung des Freiraums, sondern nur wegen der dadurch geförderten Einbeziehung eines behinderten Jugendlichen in den Kreis der gleichaltrigen gesunden Jugendlichen zugesprochen worden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27). Dagegen ist der Anspruch eines Erwachsenen auf Ausrüstung seines Rollstuhls mit einer mechanischen Zugvorrichtung der hier streitigen Art verneint worden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; kritisch zur Differenzierung zwischen jugendlichen und erwachsenen Behinderten hinsichtlich des Grundbedürfnisses Radfahren: Fastabend/Schneider, Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2004, Rdnr. 168 a.E.).

cc) Der vorliegenden Rechtsprechung des BSG lässt sich weder zuverlässig entnehmen, dass die Versorgung eines Erwachsenen mit einem Speedy-Bike grundsätzlich ausgeschlossen ist (zu 1), noch welche Wegstrecken ein Versicherter mit einem handbetriebenen Rollstuhl zurücklegen können muss, damit sein Grundbedürfnis auf Fortbewegung i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung sichergestellt ist (zu 2).

(1) Das BSG hat allerdings im Urteil vom 16.09.1999 (B 3 KR 2/99 R), einer unveröffentlichten Parallelentscheidung zu dem in SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 veröffentlichten Urteil vom gleichen Tag, ausgeführt, ein Hand-Bike diene nicht dem Ausgleich der fehlenden Gehfähigkeit, sondern dem Ersatz des Radfahrens. Es hat damit das Vorbringen des dortigen Klägers, er könne wegen Schmerzen im Schulter- und Nackenbereich mit dem Greifreifenrollstuhl lediglich Strecken von ca. 1000 m zurücklegen, als unerheblich bezeichnet, weil sich bei Schmerzzuständen als Folge des Rollstuhlfahrens allenfalls die Frage stelle, ob eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl geboten sei. Da das Rollstuhl-Bike für Erwachsene kein Hilfsmittel sei, stelle sich die Frage eines Wahlrechts bzw. der Wirtschaftlichkeit gegenüber einem Elektrorollstuhl nicht, da sie voraussetze, dass zwei gleich geeignete Hilfsmittel zur Wahl stünden.

Es kann dahinstehen, ob es überzeugend ist, die Hilfsmitteleigenschaft eines Hand-Bikes bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu bejahen, dagegen bei Erwachsenen zu verneinen; zutreffender dürfte es vielmehr sein, dass es sich zwar um ein Hilfsmittel handelt, jedoch die Erforderlichkeit im Einzelfall anders zu beurteilen ist. Das BSG hat jedenfalls in der weiteren Rechtsprechung an seiner apodiktischen Aussage, dass ein Hand-Bike (nur) auf den Ausgleich der Behinderung außerhalb des Rahmens eines allgemeinen Grundbedürfnisses abziele, nicht festgehalten (ohne allerdings die vorgenannte Rechtsprechung ausdrücklich aufzugeben). Im Urteil vom 28.05.2003 (B 3 KR 33/02 R) hat es den auf die Gewährung eines Hand-Bikes gerichteten Rechtsstreit wegen eines Verfahrensmangels zurückverwiesen und insoweit dem Berufungsgericht eine Klärung des Sachverhalts zu dem Vortrag des dortigen Klägers aufgegeben, er sei aus gesundheitlichen Gründen gehindert, sich mit dem Greifreifenrollstuhl fortzubewegen und die Benutzung eines Elektrorollstuhls sei gegenüber dem von ihm beanspruchten Hand-Bike kostengünstiger. Es ist also in diesem Urteil nicht mehr davon ausgegangen, dass ein Hand-Bike grundsätzlich als Fortbewegungsmittel nicht in Betracht komme. Schließlich hat es im Urteil vom 24.05.2006 (SozR 4-2500 § 33 Nr. 6) einen Anspruch auf die behindertengerechte Zusatzausrüstung für ein Liegedreirad bejaht, weil das Liegedreirad zur Erschließung eines über 200 m hinausgehenden Freiraums erforderlich sei. Dabei hat das BSG zum einen betont, es sei nicht ausgeschlossen, einem Versicherten ein Hilfsmittel, das eine dem Radfahren vergleichbare Art der Mobilität ermögliche, zu gewähren, wenn damit zugleich ein Grundbedürfnis, hier: Erschließen des Freiraums anstelle eines sonst erforderlichen Elektrorollstuhls, erfüllt werde. Zum anderen hat es die gewünschte Versorgung mit einem Liegedreirad gegenüber dem angebotenen Elektrorollstuhl für angemessen und berechtigt erklärt, weil das Liegedreirad objektiv gesundheitliche Vorteile biete.

Der Rechtsprechung des BSG kann also nicht entnommen werden, dass ungeachtet des Umstandes, dass ein Hand-Bike (auch) eine deutlich über den - wie auch immer umschriebenen - Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglicht, als Hilfsmittel für Erwachsene nicht in Betracht kommt, wenn mit dem Greifreifenrollstuhl die Bewegungsfreiheit nicht in ausreichendem Maße sichergestellt ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zwar zusammen mit der Antriebseinheit die Wendigkeit eines Rollstuhls eingeschränkt ist, so dass Geschäfte, Arztpraxen etc. kaum mit der gesamten Einheit aufgesucht werden können. Das von dem Kläger begehrte System ermöglicht jedoch ein einfaches An- und Abkuppeln der Antriebseinheit, die auch von dem Rollstuhlfahrer selbst vorgenommen werden kann (s. http://www.speedy-reha-technik.de/handbikes). Es ist also möglich, mit Hilfe der Zugvorrichtung aus eigener Körperkraft die Wegstrecke zum Erreichen der für die Erledigung von Alltagsgeschäften aufzusuchenden Stellen zurückzulegen und am Zielort nach Abkuppeln des Hand-Bikes sich "normal" mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Somit kann grundsätzlich ein Hand-Bike als Alternative zu einem Elektrorollstuhl in Betracht kommen, falls mittels eines Greifreifenrollstuhls die Mobilität nicht in ausreichendem Maße sichergestellt ist. Der Kläger hat auch glaubhaft vorgetragen, er könne sein Speedy-Bike selbständig benutzen.

(2) Wie oben dargelegt, hat das BSG das Grundbedürfnis auf Bewegungsfreiheit dahingehend umschrieben, es betreffe die Fähigkeit, außerhalb der Wohnung bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft" zu kommen oder die - üblicherweise im Nahbereich liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Es hat zuletzt im Urteil vom 12.09.2009 (B 3 KR 8/08 R) verlangt, der Versicherte müsse im Stande sein, den Nahbereich der Wohnung mit dem handbetriebenen Rollstuhl ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu bewältigen.

Aus diesen Aussagen lässt sich keine Mindeststrecke ableiten, die dem Behinderten möglich sein muss, zumal die genannten Aktivitäten unterschiedlicher Natur sind. Während es für einen "kurzen Aufenthalt an der frischen Luft" nicht darauf ankommt, welche Wegstrecke ein behinderter Mensch noch zurücklegen kann, gilt dies für die Erledigung von Alltagsgeschäften nicht. Hier stellt sich die Frage, welche Wegstrecke zum Erreichen der - angeblich - üblicherweise im Nahbereich von Wohnungen gelegenen Stellen zurückzulegen sind, die der Versicherte zudem in zumutbarer Zeit bewältigen können muss, damit davon ausgegangen werden kann, er könne die bezeichneten Alltagsgeschäfte erledigen.

Aus der Rechtsprechung liegen bisher keine klaren Aussagen zu einer Mindestwegstrecke vor: Das BSG hat lediglich eine Wegstrecke von 200 m nicht für ausreichend gehalten (SozR 4-2500 § 33 Nr. 12 Rz. 15; ebenso LSG NRW, Urteil vom 17.10.2000 - L 5 KR 84/00 -; s.a. Hessisches LSG, Urteil vom 20.09.2006 - L 8/14 KR 376/04 -: 100 m nicht ausreichend). In der Rechtsprechung der Instanzgerichte sind - ohne diese Größe zu begründen - Wegstrecken von 1000 m (Hessisches LSG, Urteil vom 24.08.2008 - L 8 KR 40/07 -) oder 500 m (Sächsisches LSG, Urteil vom 5.4.2006 - L 1 KR 79/05 - (allerdings unter Berücksichtigung des konkreten Wohnumfeldes); SG Aachen, Urteil vom 17.06.2007 - S 13 (2) KR 26/07 -) für ausreichend gehalten worden. Das LSG Niedersachsen-Bremen (NZS 2005, 255) hat bezweifelt, dass innerhalb eines räumlichen Bereichs von 500 m Alltagsgeschäfte erledigt werden können; im konkreten Fall hat es jedoch darauf abgestellt, dass das zugesprochene Versehrten-Fahrrad zum Transport der eingekauften Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs erforderlich sei.

Erst recht lässt sich aus der Annahme des BSG, die Stellen, an denen die Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, lägen "üblicherweise" im Nahbereich der Wohnung, nichts für die Bestimmung einer Mindestwegstrecke gewinnen. Tatsächliche Feststellungen dazu, welche Entfernungen "üblicherweise" zum Erreichen von Geschäften, Arztpraxen, Apotheken, etc. zurückzulegen sind, hat das BSG nämlich nicht getroffen. Auf die konkreten Verhältnisse des Wohnumfeldes (einschließlich der topographischen Gegebenheiten) soll es auch nicht ankommen, entscheidend soll vielmehr ein "allgemeiner, an durchschnittlichen Lebens- und Wohnverhältnissen orientierter Maßstab" sein (BSG, Urteil vom 12.08.2009 - B 3 KR 8/08 R -). Insoweit erscheint zweifelhaft, dass angesichts der Vielfältigkeit der Lebensverhältnisse sich tatsächliche Feststellungen zur Bestimmung "durchschnittlicher" Verhältnisse treffen lassen. Soll es im Übrigen darauf ankommen, dass der Versicherte Alltagsgeschäfte erledigen kann, wäre die Orientierung am "Durchschnitt" (d.h. einem zwischen zwei Extremen liegenden Ergebnis, s. Duden, Das Bedeutungswörterbuch, 3. Aufl., Duden Band 10, Stichwort "Durchschnitt") nicht zielführend. Mit Blick auf die Betonung des Einzelfalles in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die ausdrückliche Forderung nach Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse in § 33 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) würde dem Versorgungsanspruch eines Versicherten, dessen Wohnort nicht diese "durchschnittlichen Verhältnisse" aufweist, kaum Rechnung getragen werden.

dd) Da es andererseits für eine Massenverwaltung völlig unpraktikabel wäre, bei entsprechenden Leistungsanträgen die jeweils konkreten Wohnumfeldverhältnisse zu ermitteln, dürfte es sachgerechter sein, die Formel, der Versicherte müsse die Stellen im Nahbereich, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, aufzugeben und davon unabhängig den räumlichen Bereich zu bestimmen, den sich ein behinderter Versicherter mittels eines Greifrollstuhls noch erschließen können muss.

(1) Das BSG hat zunächst im Urteil vom 08.06.1994 (a.a.O.) auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Diese Formulierung scheint an die für die Erteilung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) bestimmten Voraussetzungen anzuknüpfen. Nach § 146 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vor, die nach § 145 Abs. 1 SGB IX zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr berechtigt, wenn die behinderten Menschen keine Wegstrecken im Ortsverkehr mehr zurücklegen können, die "üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden". In der Anlage 2 zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung Teil D Nr. 1 wird in lit. b Satz 3 als ortsübliche Wegstrecke eine Strecke von etwa 2 km, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird, definiert. Mit dieser Bestimmung ist die früher von der Rechtsprechung (BSGE 62, 273) zu § 59 Schwerbehindertengesetz festgelegte Wegstrecke übernommen worden.

Auf diese im Schwerbehindertenrecht maßgebliche Wegstrecke dürfte aber für die GKV nicht zurückgegriffen werden können. Zweck der genannten Regelung ist es, die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am öffentlichen Personenverkehr wenigstens teilweise zu fördern. Sie erhalten einen erleichterten Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ihre Behinderung die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr betrifft (Masuch in: Hauck/Noftz, SGB IX, § 145 Rdnr. 1c). Ihnen wird ein finanzieller Ausgleich dafür gewährt, dass öffentliche Verkehrsmittel auf Strecken benutzt werden müssen, die andere üblicherweise zu Fuß zurücklegen und die der Behinderte ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen selbst noch laufen würde (BSGE 62, 273, 276 f). Bei der Festlegung der ortsüblichen Wegstrecke hat das BSG dementsprechend berücksichtigt, dass nicht behinderte Menschen nicht nur die Wege zu den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel, sondern vielfach auch den Weg zwischen zwei Haltestellen zu Fuß zurücklegen, anstatt für diese kurze Strecke öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen (BSG a.a.O., S. 280). Somit schließt die "ortsübliche Wegstrecke" i.S.d. Schwerbehindertenrechts auch Entfernungen ein, die (jedenfalls z.T.) mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden und geht somit deutlich über den im Rahmen des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V maßgeblichen Nahbereich hinaus.

(2) Der Senat hält dagegen die Orientierung an dem in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Anwendung kommenden Grenzwert von 500 m für sachgerecht. Bekanntlich gehört zur Erwerbsfähigkeit eines Versicherten i.S.d. § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Soweit der Versicherte nicht über ein Kfz verfügt und für den Arbeitsweg auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen ist, muss er in der Lage sein, Entfernungen über 500 m zu Fuß in zumutbarer Zeit (maximal 20 Minuten) zurückzulegen. Für die Bestimmung dieser erforderlichen Fußwegstrecke hat das BSG wegen der Notwendigkeit einer von den konkreten Gegebenheiten unabhängigen allgemeingültigen Abgrenzung des Versicherungsrisikos und der Anforderungen einer Massenverwaltung einen generalisierenden Maßstab angesetzt. Es ist aufgrund allgemeiner Erfahrung davon ausgegangen, dass Wegstrecken über 500 m üblicherweise zu Fuß zurückzulegen sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs zu erreichen (zusammenfassend BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10, juris Rz. 18 ff.). Wenn somit ein Erwerbstätiger in der Lage sein muss, von seiner Wohnung aus 500 m zu Fuß zu gehen, um dann mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel einen Arbeitsplatz zu erreichen, dürfte diese Entfernung auch die Grenze markieren, die ein Behinderter mit einem Aktivrollstuhl zurücklegen können muss, um sich den Nahbereich seiner Wohnung zu erschließen. Geht man davon aus, dass öffentliche Nahverkehrsmittel - ebenso wie ein Pkw - typischerweise dazu dienen, den jenseits des Nahbereichs liegenden räumlichen Bereich ("Fernbereich") zu erschließen, zählt (nur) die Strecke für das Erreichen öffentlicher Verkehrsmittel noch zum Nahbereich. Wenn erst jenseits dieser Grenzstrecke typischerweise die Inanspruchnahme eines Autos oder öffentlicher Verkehrsmittel beginnt, kann ein behinderter Mensch einen Elektrorollstuhl bzw. eine gleichwertige Mobilitätshilfe nur von der GKV beanspruchen, wenn er diese Grenzstrecke nicht aus eigener Kraft zurücklegen kann, nicht jedoch für das Zurücklegen weiterer Wegstrecken. Dem Charakter einer Normstrecke entsprechend kommt es dann auf die örtlichen topographischen Verhältnisse und besondere Beschaffenheiten des konkreten Weges nicht an (vgl. BSG a.a.O., juris Rz. 19).

dd) Erforderlich i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist somit ein Elektrorollstuhl bzw. ein gleich geeignetes Zuggerät für einen Rollstuhl erst, wenn ein behinderter Mensch mittels eines Aktivrollstuhls eine Strecke von (geringfügig) mehr als 500 m nicht in zumutbarer Zeit zurücklegen kann.

Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Er kann nach dem Gutachten von Dr. O selbst an "schlechten" Tagen mit dem Greifrollstuhl 500 m zurücklegen. Diese Wegstrecke kann er, da nichts dafür ersichtlich ist, dass ihm mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl nur ein sehr langsames Fortkommen möglich ist, unter Zugrundelegung eines langsamen Fußgängertempos (3 km pro Stunde) in etwa 10 Minuten bewältigen. Wenn nach einer solchen Strecke aufgrund der Belastung die einschießende Spastik eine Pause erforderlich macht, kann der Kläger seinen Weg danach nach Lösen der Spastik fortsetzen. Er hat selbst in der mündlichen Verhandlung nur eine Zeit von maximal 40 Sekunden bis zum Lösen der Verkrampfung genannt. Selbst wenn man die von Dr. O geschätzte Pause von 5 Minuten zugrundelegt, ist der Kläger damit innerhalb des zeitlichen Rahmens von 20 Minuten in der Lage, deutlich über 500 m mittels des Aktivrollstuhls zurückzulegen. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob seine Fähigkeit an "schlechten" Tagen für einen Versorgungsanspruch maßgebend oder ob nicht angesichts des Umstandes, dass es nach eigener Einschätzung des Klägers durchschnittlich in der Woche fünf "gute" und zwei "schlechte" Tage gibt, das weitergehende Leistungsvermögen an "guten" Tagen entscheidend sein müsste.

Es konnte deshalb auch offen bleiben, ob die für die Wegefähigkeit im Sinne des Erwerbsminderungsrentenrechts entwickelte Zeitgrenze von etwa 20 Minuten auf den hier fraglichen krankenversicherungsrechtlichen Behinderungsausgleich durch Hilfsmittel zu übertragen ist. Daran bestehen allerdings schon deshalb erhebliche Zweifel, weil Arbeitswege zweimal täglich und im Allgemeinen häufiger sowie teilweise unter widrigen Witterungsverhältnissen und auch unter mehr Zeitdruck zurückzulegen sind und dem Versicherten neben der reinen Arbeitszeit keine zu langen Zeiten für den Arbeitsweg zugemutet werden können. Demgegenüber kann einem behinderten Menschen für das Zurücklegen der in der Regel selteneren Wegstrecken im Rahmen des Grundbedürfnisses auf Mobilität auch eine längere Zeitspanne zugemutet werden

Das Urteil des Sozialgerichts konnte damit keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision zugelasssen, weil er der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch eines gehbehinderten Versicherten auf eine über einen Aktivrollstuhl hinausgehende Mobilitätshilfe besteht, grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG), da in einer Vielzahl von Fällen die Bestimmung des maßgeblichen Nahbereichs umstritten ist und einer höchstrichterlichen Klärung bedarf.

Referenznummer:

R/R5238


Informationsstand: 09.11.2012