Urteil
Zuerkennung des Merkzeichens Bl und Blindheit - Bindung an die Statusentscheidung des Integrationsamtes - Voraussetzungen für eine Abweichung von der Statusentscheidung

Gericht:

VG Mainz 1. Kammer


Aktenzeichen:

1 K 671/14.MZ


Urteil vom:

22.01.2015


Grundlage:

Leitsatz:

1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl für blind gem. § 69 Abs. 1 SGB IX (juris: SGB 9) i.V.m. § 3 Abs 1 Nr 3 der Schwerbehindertenausweis-Verordnung (juris: SchwbAwV) i.V.m. § 72 Abs 5 SGB XII (juris: SGB 12) stimmen mit den Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit i.S.d. § 1 Abs 2 LBlindenGG (juris: BliGG RP) überein. (Rn.20)

2. Bei identischen Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit sind andere Behörden an die Statusentscheidung der Integrationsämter für die Annahme von Blindheit gebunden, die durch die Ausstellung eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises dokumentiert wird. (Rn.21)

3. Falls eine Behörde aufgrund neuerer Erkenntnisse nicht mehr von Blindheit der begünstigten Person ausgehen will, muss sie zunächst eine Änderung der entsprechenden Feststellung und des Schwerbehindertenausweises durch das Integrationsamt herbeiführen. (Rn.21)

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juli 2013 und der Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 werden aufgehoben.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistungen in einer der Kostenfestsetzung entsprechenden Höhe abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Einstellung von Leistungen nach dem Landesblindengeldgesetz - LBlindenGG -.

Die 1968 geborene Klägerin ist nach einer Hirntumorentfernung auf dem rechten Auge völlig erblindet und hat auf dem linken Auge einen erheblichen Teil ihres Sehvermögens verloren. Bei der Klägerin besteht ein Grad der Behinderung von 100 %. In ihrem unbefristet gültigen Schwerbehindertenausweis sind die Merkmale "RF", "H" und "Bl" eingetragen.

Ab 1995 wurde der Klägerin in Baden-Württemberg Blindengeld nach landesrechtlichen Vorschriften bewilligt. Nach ihrem Umzug in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten wurden ihr durch Bescheid vom 5. Januar 2010 ab dem 1. Februar 2009 Leistungen nach dem Landesblindengeldgesetz bewilligt.

Im Blindengutachten der Universitäts-Augenklinik M. vom 23. Mai 2013 wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Blindheit im Sinne des § 1 LBlindenGG nicht erfüllt sind. Die amtsärztliche Stellungnahme vom 24. Juni 2013 kam zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld nicht gegeben seien.

Mit Bescheid vom 18. Juli 2013 wurde die Bewilligung von Blindengeld zum 31. Juli 2013 zurückgenommen, da nach augenfachärztlicher Stellungnahme die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld nicht mehr vorlägen.

Die Klägerin legte hiergegen am 31. Juli 2013 Widerspruch ein mit der Begründung, dass nach einschlägiger Rechtsprechung die Statusfeststellungen des Schwerbehindertenausweises für alle Behörden bindend seien. Da im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "Bl" eingetragen sei, erfülle sie auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Landesblindengeld.

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 zurückgewiesen mit der Begründung, dass nach den gutachterlichen Feststellungen der Universitäts-Augenklinik vom 23. Mai 2013 und des Amtsarztes vom 24. Juni 2013 keine Blindheit im Sinne des Landesblindengeldgesetzes vorliege.

Die Klägerin hat am 16. Juni 2014 Klage erhoben mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung verweist sie auf die einschlägige Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Statusentscheidungen der Versorgungsämter.


Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Bescheid des Beklagten vom 18. Juli 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2014 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist darauf, dass gemäß § 10 Abs. 2 LBlindenGG die Feststellung des Amtsarztes maßgeblich sei.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorlag und Gegenstand der Beratung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Nachdem die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, kann die Kammer gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung aufgrund Beratung entscheiden.

Die zulässige Klage hat Erfolg, da der angefochtene Bescheid vom 18. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2014 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

Der angefochtene Bescheid vom 18. Juli 2013 verstößt gegen § 10 Abs. 2 Satz 2 LBlindenGG. Danach soll von der nach § 10 Abs. 2 Satz 1 LBlindenGG grundsätzlich erforderlichen amtsärztlichen Feststellungen des Vorliegens von Blindheit abgesehen werden, wenn behördliche Unterlagen die Blindheit ausweisen.

Der Schwerbehindertenausweis im Sinne von § 69 Abs. 1 SGB IX ist eine derartige behördliche Unterlage im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 2 LBlindenGG, die bestimmt und geeignet ist, den Nachweis der Blindheit im Sinne des § 1 Abs. 2 LBlindenGG zu erbringen.

Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Statusentscheidung des Integrationsamtes nach § 69 Abs. 1 SGB IX (ehemals § 4 Abs. 1 des Schwerbehindertengesetzes) bei der Prüfung inhaltsgleicher Tatbestandsvoraussetzungen für die in anderen Gesetzen geregelten Vergünstigungen bzw. Nachteilsausgleiche und damit für die dort jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden bindend. Dies soll es dem Schwerbehinderten ersparen, bei der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen stets wieder aufs Neue seine Behinderung und die damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen untersuchen und beurteilen lassen zu müssen, weil die Gewährung jener Rechte und Vergünstigungen unterschiedlichen Zuständigkeits- und Verfahrensregeln unterliegt. Dieses Ziel soll durch Konzentration der erwähnten Statusentscheidungen bei den Integrationsämtern und durch eine umfassende Nachweisfunktion des von diesen erstellten Ausweises über jene Entscheidungen erreicht werden. Das setzt eine bindende Wirkung der Feststellungen der Integrationsämter für die zur Gewährung der Vergünstigungen und Nachteilsausgleiche zuständigen anderen Behörden voraus (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 - VII C 11.81 -, juris; BVerwG, Urteil vom 27. Februar 1992 - V C 48.88 -, juris; BSG, Urteil vom 6. Oktober 1981 - IX Rvs 3/81 -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Mai 2004 - 21 K 7525/01 -, juris und Urteil vom 8. November 2007 - 21 K 3918/07 -, m.w.N., juris). Diese Bindungswirkung gilt auch für den Beklagten hinsichtlich der Gewährung bzw. Versagung von Blindengeld, denn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" für "blind" gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Schwerbehindertenausweisverordnung i.V.m. § 72 Abs. 5 SGB XII stimmen mit den Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit im Sinne des § 1 Abs. 2 LBlindenGG überein.

Somit ist der Beklagte an die im Schwerbehindertenausweis getroffene positive Feststellung zum Vorliegen von Blindheit im Falle der Klägerin gebunden. Falls der Beklagte aufgrund neuerer Erkenntnisse zur gegenteiligen Auffassung gelangt, besteht für ihn nur die Möglichkeit, eine erneute Überprüfung und gegebenenfalls die Abänderung des Schwerbehindertenausweises zu veranlassen.

Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.

Die Kosten der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren sind gemäß § 162 Abs. 2 VwGO für notwendig zu erklären, da es der Klägerin angesichts ihrer Blindheit nicht zumutbar war die im vorliegenden Verfahren erforderliche Klärung der Rechtsfragen unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung selbst vorzunehmen.

Gerichtskosten werden gemäß 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R7293


Informationsstand: 27.03.2017