Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte und statthafte Berufung gegen das Urteil des SG Bremen vom 4. September 2014 ist in materieller Hinsicht begründet. Das SG hat zu Unrecht auch die (hilfsweise) Fortsetzungsfeststellungsklage abgewiesen. Es ist deshalb festzustellen, dass die Bescheide der Beklagten vom 22. Dezember 2009 und 25. November 2010 rechtswidrig waren. Die Beklagte hat die Klägerin dadurch in ihren subjektiven Rechten verletzt, dass sie einen Anspruch auf eine Zweitversorgung mit einer individuell angepassten Sitzschale abgelehnt hat. Nur im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.
Wie das SG zutreffend festgestellt hat, ist die Klage nur als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft und zulässig. Insbesondere liegt auch ein besonderes rechtliches Interesse der Klägerin an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bescheide vor, da eine Wiederholungsgefahr besteht
bzw. sich bereits verwirklicht hat.
Die Fortsetzungsfeststellungklage ist auch begründet.
Nach
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach
§ 34 SGB V ausgeschlossen sind. Bei der hier in Rede stehenden Sitzschale handelt es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Der von den Krankenkassen geschuldete Behinderungsausgleichs bemisst sich entscheidend danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird. Im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs ist die Hilfsmittelversorgung (
z.B. mit Hörgeräten oder Prothesen) grundsätzlich von dem Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs geleitet. Eingeschränkter sind die Leistungspflichten der gesetzlichen Krankenversicherung (
GKV), wenn die Erhaltung
bzw. Wiederherstellung der beeinträchtigten Körperfunktion nicht oder nicht ausreichend möglich ist und deshalb Hilfsmittel zum Ausgleich von direkten und indirekten Folgen der Behinderung benötigt werden (sog. mittelbarer Behinderungsausgleichs), wie dies typischerweise bei einer Sitzschale der Fall ist. Im Falle des mittelbaren Behinderungsausgleichs sind die Krankenkassen nur für einen Basisausgleich von Behinderungsfolgen eintrittspflichtig: es geht insoweit nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztendlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Aufgabe der
GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (
vgl. § 1 SGB V sowie
§ 6 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbarer Behinderungsausgleichs ist von der
GKV deshalb nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG) das Gehen, Sitzen, Stehen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrung aufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (
BSG SozR 4-2500 § 33
Nr. 3, 7;
BSG SozR 3-3300 § 14
Nr. 14). Dieser bezieht sich im Bereich der Mobilität auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise zu Fuß erreicht (
vgl. BSG SozR 3 - 2500 § 33
Nr. 29, 31, 32). Bei Kindern und Jugendlichen reicht die Verantwortung der
GKV im Bereich der Mobilitätshilfen über die Erschließung des Nahbereichs der Wohnung hinaus. Zu den Aufgaben der Krankenkasse gehört nämlich auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers
bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (
vgl. BSG SozR 2200 § 182
Nr. 73;
BSG SozR 3 - 2500 § 33
Nr. 22, 40). Ebenso zählt der Besuch des Kindergartens zum Grundbedürfnis auf Bildung. Nach § 2
Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) dienen die sozialen Rechte der Erfüllung der in § 1
Abs. 1
SGB I genannten Aufgabe, insbesondere der Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit junger Menschen. Dazu gehört bei Kindern die Wiederherstellung und Sicherung der Möglichkeit zur sozialen Integration mit Gleichaltrigen (
BSG SozR 3-2500 § 33
Nr. 7 und 20) in einem Kindergarten
bzw. in einer Kindertagesstätte sowie der Schulfähigkeit nach Eintritt der Schulpflicht.
Die Klägerin ist behinderungsbedingt nicht in der Lage, zu gehen und selbständig zu sitzen, sondern ist diesbezüglich auf die Hilfe Dritter sowie auf den Rollstuhl
bzw. auf rollstuhlähnliche "Untergestelle", auf denen eine Sitzschale befestigt wird, angewiesen.
Es besteht Einigkeit zwischen den Beteiligten darüber, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung und der damit verbundenen Funktionsausfälle seit der Operation in der K. Klinik L. im Dezember 2009 eine individuell angepasste Kunststoffsitzschale benötigt. Mit einer solchen wird sie bereits durch die Beklagte versorgt. Der Anspruch auf eine Zweitversorgung mit einer individuell angepassten Kunststoff Sitzschale wird u.a. mit notwendigen Transporten zu Arztbesuchen, zu Therapien und in den Kindergarten (
bzw. nunmehr in die Schule) begründet.
Die Klägerin war in dem von dem hier angefochtenen Bescheiden erfassten Zeitraum zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse - insbesondere zum Erschließen eines körperlichen und geistigen Freiraumes - auf entsprechende Untergestelle mit nicht nur einer, sondern mit zwei Sitzschalen angewiesen. Ob dies auch heute noch gilt, ist vom Senat nicht zu prüfen, aufgrund des Erkrankungsbildes der Klägerin mit altersbedingter Gewichts- und Größenzunahme aber nicht anders zu erwarten.
Die streitige Zweitversorgung mit einer Sitzschale war erforderlich und steht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des
§ 12 Abs. 1 SGB V im Einklang. Dementsprechend regelt § 6
Abs. 4 der Hilfsmittel-Richtlinien (Allgemeine Verordnungsgrundsätze), das bei der Verordnung von Hilfsmitteln die Grundsätze von Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit zu beachten sind. Nach § 6
Abs. 8 der Hilfsmittelrichtlinien kann eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln nur dann verordnet werden, wenn dies aus medizinischen, hygienischen oder sicherheitstechnischen Gründen notwendig oder aufgrund der besonderen Beanspruchung durch die oder den Versicherten zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Als mehrfache Ausstattung sind funktionsgleiche Mittel anzusehen. Eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln hat zu erfolgen, wenn nur auf diese Weise ein Behinderungsausgleich im Sinne von § 33
Abs. 1 Satz 1
SGB V möglich ist.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die Klägerin nicht darauf verwiesen werden, dass es diesen Maßstäben entsprach, sie mehrfach am Tag während der Demontage und Montage der Sitzschale im Pflegebett oder anderenorts, etwa auf dem Fußboden, "zwischen zu lagern".
Dabei kann der Senat ungeprüft lassen, ob eine außerhalb der Wohnung, etwa in der Schule oder andernorts, erfolgende "Zwischenlagerung" der Klägerin auf dem Fußboden mit den Anforderungen der Artikeln 1
Abs. 1, 2
Abs. 2 Satz 1 und 3
Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (
GG) oder mit der
UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere der Würde des Menschen und des behinderten Menschen, vereinbar ist. Denn bereits nach Gesetzesrecht war es im Alltag der Klägerin, insbesondere zur Gewährleistung des Kindergartenbesuchs (
bzw. nunmehr zur Gewährleistung des Schulbesuches), aber auch für andere altersgerechte Aktivitäten erforderlich, aus medizinischen und Sicherheitsgründen ein schnelles und jederzeit betreutes Umsetzen der Klägerin sicherzustellen, was allein durch Versorgung mit einer zweiten Sitzschale gewährleistet werden kann.
Bei dem im praktischen Leben und täglich sich mehrfach wiederholenden Geschehensablauf war die Sitzschale vom in der Wohnung befindlichen Untergestell zu demontieren und auf ein anderes Untergestell zu befestigen, das im Treppenhaus gelagert wird und für den Transport der Klägerin außerhalb des Hauses verwendet wird; ein entsprechender Ablauf war für die Demontage und Montage der Sitzschale im Kindergarten (
bzw. nunmehr in der Schule) zu beschreiben. Dabei hatte ständig eine Betreuung und Beaufsichtigung der Klägerin zu erfolgen, was von der Beklagten im Anschluss an die Ausführungen des MDK zu Recht eingeräumt wird.
Bereits aus medizinischen und sicherheitstechnischen Gründen war (und
ggf. ist) dabei eine Zweitversorgung notwendig, da weder im Bereich der Wohnung noch außerhalb sichergestellt werden kann, dass stets eine Beaufsichtigung des Kindes in den Zeiten des Ummontierens der Sitzschale gewährleistet ist. Der Umlagerungsvorgang kann deshalb nur unter Zuhilfenahme einer zweiten Sitzschale entsprechend kurz und sicher gestaltet werden. So ergibt sich etwa aus dem Pflegegutachten des MDK vom 28. März 2013, dass die Klägerin unter einer schweren globalen Entwicklungsretardierung sowie unter einer spastischen Tetraparese leidet. Im Bereich der Mobilität wird ein täglicher Hilfebedarf in Form von vollständiger Übernahme beim Aufstehen und Zubettgehen, beim Lagern, beim An- und Auskleiden sowie bei der Begleitung beim Gehen, Stehen zu den einzelnen Verrichtungen inklusive Transfer beschrieben. Dass die Klägerin aufs stärkste gesundheitlich eingeschränkt ist, ist zwischen den Beteiligten letztendlich auch nicht streitig.
War damit die Zweitversorgung bereits aus medizinischen und Sicherheitsgründen geboten, kann der Senat ungeprüft lassen, ob die Zweitversorgung zusätzlich aufgrund der Hygiene und/oder der besonderen Beanspruchung durch die Versicherte zweckmäßig und wirtschaftlich war.
Für die zu gewährende Zweitversorgung ist eine Leistungszuständigkeit der Beigeladenen nicht gegeben. Da die in Rede stehende Kunststoffsitzschale ärztlicherseits verordnet und auf die individuellen Beeinträchtigungen der Klägerin angepasst ist, mithin auf ihre gesundheitlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist, kommt allein die beklagte Krankenkasse für die Versorgung in Betracht. Leistungen der Eingliederungshilfe oder der gesetzlichen Pflegeversicherung liegen nicht vor, was von der Beklagten auch zu Recht nicht in Abrede genommen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Gründe, die eine Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.