I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Abänderung der Bescheide vom 16.07.2008 und des Widerspruchsbescheids vom 23.10.2008 eine Zweitversorgung mit einer Rehakarre, einer Sitzschale und einem Zimmeruntergestell als Hilfsmitteln der gesetzlichen Krankenversicherung zu bewilligen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf eine Zweitversorgung mit verschiedenen Hilfsmitteln hat.
Der 2005 geborene Kläger, der im Klageverfahren von seinen Eltern vertreten wird, leidet nach den Feststellungen des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK) vom 31.03.2006 an einem Zustand nach neonataler Asphyxie mit Enzephalopathie. Bei ihm wurde das Vorliegen der Pflegestufe II festgestellt, wobei u.a. eine fehlende Sitzstabilität vorliegt. Die Beklagte, bei der der Kläger im Rahmen der Familienversicherung krankenversichert ist, hat ihn mit Hilfsmitteln versorgt, zu denen eine sogenannte Rehakarre und eine Sitzschale mit Zimmeruntergestell gehören.
Mit Verordnungen vom 19.06.2008 hat der Arzt für Kinderheilkunde
Dr. E. eine Zweitversorgung mit diesen Hilfsmitteln für den Kindergarten verordnet. Das Sanitätshaus R. hierzu Kostenvoranschläge über Gesamtbeträge von 3.399,08 Euro für die Sitzschale, 1.269,64 Euro für das Zimmeruntergestell und 3.397,50 Euro für die Rehakarre vorgelegt. Die Beklagte hat mit drei Bescheiden vom 16.07.2008 die Zweitversorgung mit diesen drei Hilfsmitteln abgelehnt. Gleichlautend wird argumentiert, dass der Kläger im Hinblick auf seine Grundbedürfnisse ausreichend versorgt sei. Der Kindergartenbesuch gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen.
Hiergegen legten die Eltern des Klägers Widerspruch ein und verwiesen auf dessen hundertprozentige Schwerbehinderung. Durch die Ablehnung werde die Teilnahme am öffentlichen Leben sowie die körperliche und soziale Entwicklung gehemmt. Das Problem bestehe darin, dass für den Kläger speziell angepasste Hilfsmittel vorhanden sein müssten, über die der Kindergarten nicht verfüge. Es bestehe auch keine Möglichkeit, die Hilfsmittel täglich zu transportieren. Es gebe eine Zusage der R. v. U. 50 % der Kosten des Hilfsmittels zu übernehmen.
Mit einem gemeinsamen Widerspruchsbescheid vom 23.10.2008 wurden die drei Widersprüche zurückgewiesen. Die mehrfache Ausstattung mit einem Hilfsmittel sei nur in Ausnahmefällen möglich. Hierzu gehöre, wenn die gelieferte Erstausstattung nicht ausreiche, um konkret zu berücksichtigende Grundbedürfnisse abzudecken. Der Besuch eines Kindergartens gehöre jedoch nicht zu den vorgenannten Grundbedürfnissen, wie sich aus Urteilen der Sozialgerichte Neuruppin vom 20.11.2001 (S 9 KR 8/01) sowie Chemnitz vom 03.09.2007 (S 11 KR 23/07) und vom 20.02.2008 (S 11 KR 162/07) entnehmen lasse.
Daraufhin erhob der Kläger durch seine Bevollmächtigten am 20.11.2008 Klage zum Sozialgericht Würzburg. Es wurde geltend gemacht, dass der Kläger auf die Zweitversorgung mit einer maßgefertigten Sitzschale, mit einer Rehakarre nebst multifunktionaler Sitzeinheit sowie einem Zimmeruntergestell nebst Zubehör angewiesen sei. Im vorliegenden Fall könne ein Behinderungsausgleich nur durch die Mehrfachausstattung erreicht werden, da ansonsten der Besuch des Kindergartens für körperbehinderte und schwer mehrfach behinderte Kinder nicht möglich sei. Dieser Kindergartenbesuch zähle zu den Grundbedürfnissen des Klägers. Zwar bestehe anders als beim Schulbesuch keine Rechtspflicht für den Kindergartenbesuch, jedoch gebe es einen entsprechenden Rechtsanspruch und ein weit überwiegender Teil der Kinder nehme diesen auch wahr. Es bestehe keine Möglichkeit, die Hilfsmittel täglich zum Kindergarten zu transportieren.
Die Klägerseite legte ein Schreiben der R. v. U. vom 17.07.2008 gegenüber dem Beigeladenen zu 2) vor, wonach mit der Anschaffung der Hilfsmittel Einverständnis bestehe und die Kosten im Rahmen des notwendigen laufenden Aufwands in Höhe von 50 % der Gesamtkosten ersatzfähig seien.
Die Beklagte äußerte, dass ihr eine derartige Vereinbarung bezüglich einer Kostenübernahme von Hilfsmitteln anlässlich eines Schulbesuchs nicht bekannt sei. Es lasse sich aus dem vorgelegten Schreiben auch ein unmittelbarer Anspruch des Klägers nicht ableiten.
In einem Erörterungstermin vom 03.11.2009 wurde von der Klägerseite dem Gericht geschildert, dass der Kläger seit Herbst 2008 die schulvorbereitende Einrichtung besuche. Die besondere Hilfsmittel würden derzeit so eingesetzt werden, dass die Sitzschale mit Zimmeruntergestell dauerhaft in der Einrichtung verbleibe, während man sich zu Hause damit behelfe, das Kind auf den Schoß zu nehmen. Für die Rehakarre sei eine vorübergehende Möglichkeit gefunden worden, diese täglich zu transportieren.
Mit Beschluss vom 29.12.2009 hat das Gericht den B. und den Verein L. e.V. zum Verfahren beigeladen.
Die Klägerseite verweist im weiteren darauf, dass keine Pflicht eines Schulträgers bestehe, individuell gefertigte Hilfsmittel vorzuhalten (
BSG, Urt. v. 06.02.1997, Az.
3 RK 1/96). Vorgetragen wird auch unter Bezugnahme auf ein Attest des
Dr. R. vom 20.11.2009, dass die Mutter des Klägers aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, die Hilfsmittel täglich in den Bus des Fahrdienstes zu verladen.
In der mündlichen Verhandlung wird seitens der Einrichtung vorgetragen, dass auch der Besuch des Kindergartens in jedem Einzelfall durch die R. v. U. genehmigt werden müsse. Der Beigeladene zu 1) sei für die Nachmittagsbetreuung des Klägers in der Einrichtung zuständig, während für die schulvorbereitende Einrichtung am Vormittag die R. v. U. als Schulaufwandsträger zuständig sei.
Der Kläger beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 16.07.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit den begehrten Hilfsmitteln zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug genommen.
Die Klage ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht erhoben (§§ 51, 54, 57, 87, 90 Sozialgerichtsgesetz -
SGG).
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten Anspruch auf die beantragte Zweitversorgung.
Der Kläger ist bei der Beklagten im Rahmen der Familienversicherung nach
§ 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) krankenversichert. Er hat damit Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit diese Mittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind (
§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB V).
Dabei ist zwischen den Beteiligten unstrittig, dass die beim Kläger vorliegende Behinderung mit dem Fehlen der Möglichkeit, eigenständig zu sitzen, die Versorgung mit den entsprechenden Hilfsmitteln Sitzschale, Zimmeruntergestell und Rehakarre erforderlich macht. Es muss sich hierbei auch um individuell dem Körper des Klägers angepasste Hilfsmittel handeln. Diese Hilfsmittel werden tagsüber ständig gebraucht. Soweit die Eltern zu Hause auf die Sitzschale verzichten, handeln sie hierbei aus der Situation heraus, dass sie zu Hause eher durch körperlichen Einsatz und Zuwendung das fehlende Sitzvermögen des Klägers ausgleichen können als dies während des Besuchs der Einrichtung möglich wäre. Die Notwendigkeit für die Hilfsmittel entfällt hierdurch nicht.
Streitig ist allein, ob die Beklagte dem Kläger eine Zweitversorgung der in Rede stehenden Hilfsmittel zu bewilligen hat, damit der Kläger diese Hilfsmittel sowohl zu Hause als auch während des Besuchs der Einrichtung nutzen kann.
Aufgrund des Vorbringens der Klägerseite und der hierzu vorgelegten Unterlagen sowie der Ausführungen des Beigeladenen zu 2) sieht das Gericht keine Möglichkeit, dass die Hilfsmittel täglich zwischen der Wohnung des Klägers und der Einrichtung hin und her transportiert werden könnten. Dies lässt sich für die Sitzschale und das Untergestell schon daraus ersehen, dass die Klägerseite erheblichen Aufwand und gewisse Nachteile in Kauf nimmt, weil sie den Transport noch nicht einmal vorübergehend erreichen konnte. Es ist im Einrichtungsbetrieb nicht möglich, diese Hilfsmittel jeweils zum Transport zu verladen. Zudem ist eine Beförderung dieser Hilfsmittel nach den derzeit bestehenden Vorschriften nicht vorgesehen und für das Gericht war auch keine zwingende Verpflichtung zu erkennen, diese Transportmöglichkeiten zu verändern.
Auch hinsichtlich der Rehakarre ist das Gericht letztlich zum Ergebnis gekommen, dass ein täglicher Transport ausscheidet. Anders als bei einem Rollstuhl, bei dem
ggf. ein Transport des Behinderten im Rollstuhl angezeigt ist
bzw. in Frage kommt und dementsprechend der Behindertentransport auch in dieser Form sicherzustellen wäre, ist die Rehakarre nicht geeignet als Sitz des Klägers während der Autofahrt zur Einrichtung. Somit geht es bei der Rehakarre ebenfalls darum, diese zu verladen und täglich zwischen der Einrichtung und dem Elternhaus hin und her zu transportieren. Selbst wenn man berücksichtigt, dass der Kläger regelmäßig in der Rehakarre zu dem Fahrzeug des Fahrdienstes gebracht werden dürfte, sieht das Gericht keine Möglichkeit, dass diese Rehakarre regelmäßig hin und her transportiert werden könnte. Trotz einer derzeit bestehenden Kulanzregelung fehlt es an einer rechtlichen Grundlage für den ständigen Transport und ist ein solcher Transport im Regelbetrieb nicht sicherzustellen.
Aus diesen Gründen hält das Gericht eine Zweitversorgung des Klägers mit den genannten drei Hilfsmitteln für erforderlich. Dies ist auch Aufgabe der Beklagten, weil dies dem Abdecken der Grundbedürfnisse des Klägers während des Besuchs der Einrichtung der Beigeladenen zu 2) zuzurechnen ist und diese Versorgung hierfür notwendig ist.
Entgegen der Auffassung der Sozialgerichte Neuruppin und Chemnitz (a.a.O.) und in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht Karlsruhe (
vgl. im Folgenden) ist das Gericht zur Auffassung gelangt, dass auch der Besuch der Einrichtung selbst im konkreten Fall des Klägers zu den Grundbedürfnissen zu rechnen ist.
Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, wie § 1
Abs. 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VIII) ausführt. Es handelt sich hierbei zwar nicht um einen unmittelbaren Rechtsanspruch, jedoch um die Funktion einer Generalklausel und Leitnorm (
vgl. BT- Drucks. 11/7948
S. 44), die im Rahmen des Sozialgesetzbuches geschaffen wurde. Dabei ist nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht, sondern auch die Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger Teil des sozialen Lernprozesses. Zu den Grundbedürfnissen eines (behinderten) jungen Menschen gehört unter anderen die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens. Deshalb ist der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes oder Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger auszurichten. Beim Kläger würde ohne die eingeleitete schulvorbereitende Maßnahme mit stärkeren Problemen bei der schulischen Integration zu rechnen sein, weshalb ihm der Besuch dieser Einrichtung von den zuständigen stellen bewilligt wurde.
Die vom Kläger besuchte Einrichtung bietet zum einen Freizeitgestaltung (Nachmittagsbetreuung in der Zuordnung zum Beigeladenen zu 1) und zum anderen Förderung als schulvorbereitende Einrichtung (Maßnahmen am Vormittag in der Zuordnung zur R. v. U.). Die Erfahrungen des Kindergartenbesuchs in seinen beiden Ausprägungen sind für die Entwicklung eines Kindes von erheblicher Bedeutung und der Kindergartenbesuch dient der Integration und dem sozialen Lernen und damit Grundbedürfnissen (
vgl. Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23.04.2007 - S 5 KR 5033/05 - und vom 08.08.2007 -
S 5 KR 5364/06). Dies gilt in besonderer Weise wenn es sich hier hierbei um eine Einrichtung handelt, die sich speziell der Förderung behinderter Kinder widmet.
Es gibt auch keine vorrangige Verpflichtung des Trägers der Einrichtung, den Kläger mit den beantragten Hilfsmitteln zu versorgen. Zwar wird die Einrichtung überwiegend von behinderten Kindern besucht, so dass auch behindertengerechte Zusatzeinrichtungen vorzuhalten sind. Die Versorgung eines Versicherten durch den Einrichtungsträger scheidet aber jedenfalls deshalb aus, weil die streitigen Hilfsmittel auf die Bedürfnisse des Klägers speziell zugeschnitten sein müssen (
BSG a.a.O.).
Die wachsende Bedeutung des Kindergartenbesuches wird auch dadurch deutlich, dass ein individueller Rechtsanspruch hierfür geschaffen wurde und der Umfang dieses Anspruches in jüngerer Zeit deutliche Ausweitung erfahren hat (§ 24
SGB VIII). Die Auffassung des Sozialgerichts Neuruppin, der sich das Sozialgericht Chemnitz angeschlossen hat, wonach die Rechtsprechung zum Basisausgleich für das Erlernen des lebensnotwendigen Grundwissens bisher immer nur auf das Schulwesen und den Schulbesuch abgestellt habe und nicht weiter gefasst werden dürfe, kann nicht überzeugen. Diese Reduzierung greift zu kurz, da es eine über die Schulpflicht hinausgehende Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder gibt, über die die staatliche Gemeinschaft wacht (Garantie des Kindeswohls;
Art. 6
Abs. 2 Grundgesetz). Ein weitergehendes Recht auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben wird in
Art. 31
Abs. 1 der
UN-Kinderschutzkonvention, die auch in Deutschland gilt, konstatiert. Daraus ist zu ersehen, dass das Grundbedürfnis des Lernens nicht nur im schulischen Bereich und nicht erst ab dem Schulalter abzudecken ist.
Dementsprechend waren die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte war dazu zu verurteilen, dem Kläger die beantragten Hilfsmittel als Zweitversorgung zur Verfügung zu stellen. Die Frage einer etwaigen Kostenbeteiligung anderer Stellen ist dem nachgeordnet und nicht Gegenstand dieses Rechtsstreites.
Die Beklagte hat dem Kläger, der mit seinem Klagebegehren durchgedrungen ist, im Rahmen des § 193
SGG auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten im Widerspruchs- und im Klageverfahren zu erstatten.