Urteil
Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen die Krankenkasse für aufgewandte Kosten für die Versorgung einer Versicherten mit einem zweiten Therapiestuhl für den Kindergartenbesuch

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 5. Senat


Aktenzeichen:

L 5 KR 117/09


Urteil vom:

23.09.2010


Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.04.2009 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der klagende Sozialhilfeträger verlangt von der beklagten Krankenkasse Kostenerstattung für die Versorgung ihres Versicherten N I (im Folgenden: Versicherter) mit einem Therapiestuhl.

Der am 00.00.2003 geborene Versicherte, der bei der Beklagten familienversichert ist, leidet u.a. an Spina bifida (Spaltwirbel) mit Hydrocephalus. Er beantragte am 14.07.2006 bei der Beklagten die Versorgung mit einer Sitzschale nach Maß und einem Zimmeruntergestell, höhenverstellbar, mit Zubehör, und legte darüber eine entsprechende Verordnung der Dres. T und I, Fachärzte für Kinderheilkunde, E, vom 12.07.2006 sowie einen Kostenvoranschlag der Firma L, Reha und Orthopädietechnik GmbH, E, vom 14.07.2006 über 4.190,55 Euro vor. Die Beklagte leitete den Antrag an die Klägerin mit der Begründung weiter, dass diese zuständig sei (Schreiben vom 18.07.2006). Die Klägerin versorgte den Versicherten nach Einholung weiterer Kostenvoranschläge mit einem Zimmeruntergestell mit Orthesensitzschale, individuelle Maßanfertigung, das von der Firma M, F, zum Preis von 2.853,66 Euro an den Versicherten geliefert wurde. Mit Schreiben vom 06.12.2006 meldete die Klägerin ihren Erstattungsanspruch bei der Beklagten an und bezifferte ihn auf 2.853,66 Euro.

Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung ab (Schreiben vom 12.07.2007): Sie habe den Versicherten in der Vergangenheit bereits mit einem Aktivrollstuhl versorgt. Der streitgegenständliche Therapiestuhl werde ausschließlich im Kindergarten benötigt. Der Besuch eines Kindergartens zähle aber nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, so dass ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit diesem Hilfsmittel gemäß § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht bestehe.

Die Klägerin hat am 11.09.2007 Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben.

Zur Begründung hat sie vorgetragen: Die Beklagte sei zur Erstattung ihrer Aufwendungen verpflichtet, denn der Versicherte habe von der Beklagten die Versorung mit dem Therapiestuhl verlangen können. Der Versicherte benötige den Therapiestuhl für den Kindergartenbesuch, denn nur so könne er auch außerhalb des Rollstuhls sitzen und an den Gruppenaktivitäten teilnehmen. Aufgrund seiner Erkrankung falle er auf normalen Stühlen zur linken Seite und könne deshalb so nicht an den Mahlzeiten und anderen Aktivitäten, die an den Tischen erfolgten, teilnehmen. Der im elterlichen Haushalt des Versicherten befindliche und von der Beklagten im Jahr 2005 bewilligte Therapiestuhl könne nicht täglich in den Kindergarten transportiert werden. Der Besuch des Kindergartens zähle entgegen der Ansicht der Beklagten zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zur Zahlung von 2.853,66 Euro zu verurteilen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an ihrer Auffassung festgehalten, dass ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit einem weiteren Therapiestuhl nicht bestanden habe, weil der Besuch eines Kindergartens nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zähle. Allerdings gehe auch sie davon aus, dass ein Transport des im Haushalt befindlichen Therapiestuhls in den Kindergarten nicht in Betracht komme.

Das Sozialgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 23.04.2009 antragsgemäß verurteilt und die Berufung zugelassen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das ihr am 04.06.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 02.07.2009 Berufung eingelegt.

Zur Begründung bringt sie vor: Die gesetzliche Krankenversicherung sei - soweit es um ein Hilfsmittel gehe, das lediglich einen mittelbaren Behinderungsausgleich bewirke - zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln nur dann verpflichtet, wenn es um die Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens gehe. Dies treffe für den Besuch des Kindergartens nicht zu, denn dieser erfolge im Gegensatz zum Besuch einer Regelschule freiwillig. Als Grundbedürfnis könne auch nicht der Zweck der Integration in den Kreis Gleichaltriger herangezogen werden, denn laut Statistischem Bundesamt würden weniger als 60 % der Kinder einer Jahrgangsgruppe im Kindergarten betreut (2003).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.04.2009 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Rechtsweg:

SG Dortmund Urteil vom 23.04.2009 - S 40 KR 188/07
BSG Urteil vom 03.11.2011 - B 3 KR 13/10 R

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die (kraft Zulassung) zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht dazu verurteilt, der Klägerin die für die Versorgung des Versicherten mit einem Therapiestuhl aufgewandten Kosten in Höhe von 2.853,66 Euro zu erstatten.

Der Erstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ergibt sich aus § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Diese Vorschrift bestimmt: Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach Abs. 2 bis 4 festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften.

§ 14 SGB IX räumt dem zweit angegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Reha-Träger ein. Dieser spezielle Anspruch geht den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB X vor. Er ist begründet, soweit der Versicherte von dem Träger, der ohne die Regelung in § 14 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können (vgl. BSG, Urteil vom 20.04.2010, Az.: B 1/3 KR 6/09 R m.w.N.).

Die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX sind im vorliegenden Fall erfüllt.

Die Klägerin hat die Versorgung des Versicherten mit dem Therapiestuhl als zweit angegangener Reha-Träger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX bewilligt. Die Beklagte hat als selbständige öffentlich-rechtliche Körperschaft den Antrag an die Klägerin i.S. dieser Vorschrift weitergeleitet.

Die Beklagte war auch i.S.d. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX für die Versorgung des Versicherten mit dem streitgegenständlichen Therapiestuhl zuständig. Die Zuständigkeit zur Versorgung mit einem Hilfsmittel i.S.d. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX ist gegeben, wenn der Versicherte das Hilfsmittel von der Beklagten nach ihrem materiellen Recht - der Zuständigkeitsordnung außerhalb von § 14 SGB IX - hätte beanspruchen können. Dies war hier der Fall, denn der Versicherte hätte ohne die Regelung in § 14 Abs. 2 SGB IX nur gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versorgung mit dem Therapiestuhl nach § 33 SGB V gehabt.

Die materiellen Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 SGB V sind erfüllt.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 14.11.2003 (Bundesgesetzblatt I S. 2190) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Der Therapiestuhl war dem Versicherten von der Beklagten zur Verfügung zu stellen, um die aufgrund der verschiedenen Erkrankungen des Versicherten bestehende Behinderung auszugleichen. Ein Hilfsmittel ist für den Ausgleich einer Behinderung grundsätzlich erforderlich, wenn das Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Zu unterscheiden ist hiervon der Fall, dass das begehrte Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion nur mittelbar ersetzt. Dann nämlich muss zusätzlich geprüft werden, in welchen Lebensbereichen sich der Ausgleich auswirkt. Festzustellen ist dabei, ob das Hilfsmittel zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dieser Differenzierung liegt die Erwägung zugrunde, dass der unmittelbare Funktionsausgleich sich in allen Lebensbereichen auswirkt und damit zwangsläufig auch Grundbedürfnisse betroffen sind, während dies bei nur mittelbarem Behinderungsausgleich nicht ohne Weiteres angenommen werden kann (BSG Urteil vom 06.06.2002, Az.: B 3 KR 68/01 R).

Einen unmittelbaren Behinderungsausgleich in dem zuvor beschriebenen Sinne bewirkt der Therapiestuhl zweifelsfrei nicht. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (vgl. BSG Urteil vom 25.06.2009, Az.: B 3 KR 19/08 R m.w.N.). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG a.a.O.). Zum körperlichen Freiraum gehört - i.S. eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden (BSG a.a.O. m.w.N.).

Als Grundbedürfnis kommt hier ersichtlich allein der Kindergartenbesuch in Betracht, der es erfordert, dass der Versicherte mittels des Therapiestuhls an den Tischen sitzen und so an den dortigen Aktivitäten teilnehmen kann. Unstreitig ist zwischen den Beteiligten, dass der Versicherte für den Besuch des Kindergartens auf die Ausstattung mit dem Therapiestuhl in dem zuvor beschriebenen Sinne angewiesen ist. Der Senat beurteilt den Besuch des Kindergartens als Grundbedürfnis, weil dadurch zum einen die Integration in den Kreis gleichaltriger Kinder gefördert wird und ferner aber auch - durch den Kontakt mit Gleichaltrigen - das spielerische Lernen gefördert wird. Dies gewinnt für Kinder im Vorschulalter generell an Bedeutung. Auch besteht bei den zunehmend in Kleinfamilien lebenden Kindern häufig nur in geringerem Maße Kontakt zu Gleichaltrigen. Die Unterstützung der individuellen und sozialen Kompetenzen war eine Zielsetzung, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Förderung von Kindern unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz) mit der Schaffung von Betreuungsplätzen in derartigen Einrichtungen verfolgt (Bundestagsdrucksache 16/10173, Seite 2). Für ältere Kinder - wie den Versicherten - erscheint eine derartige Förderung durch den Kindergartenbesuch umso dringlicher. Der Versicherte als Behinderter ist zudem hierauf - den Kontakt mit Geichaltrigen - in besonderem Maße angewiesen.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es bei der Beurteilung der Frage, ob ein Grundbedürfnis i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung vorliegt, nicht auf die Frage an, ob dem Grundbedürfnis eine entsprechende Verpflichtung, etwa aufgrund einer gesetzlichen Regelung, zugrundeliegt. Zwar trifft es zu, dass der Besuch der Regelschule gesetzlich vorgeschrieben ist; allerdings zählt nicht der Schulbesuch als solcher, sondern vielmehr der Erwerb elementarer Grundkenntnisse nach der Rechtsprechung zu den Grundbedürfnissen. Auch im Übrigen spielt die Frage eines Zwangs oder einer Pflicht bei den bisher von der Rechtsprechung anerkannten Grundbedürfnissen keine Rolle.

Der Therapiestuhl ist auch nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen (§ 33 Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V). Diese Frage beurteilt sich danach, ob ein Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern oder eine Behinderung ausgleichen soll oder - falls dies nicht so ist - den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommt und von gesunden, körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird (BSG, Urteil vom 29.04.2010, Az B 3 KR 5/09 R mwN). Hier kann nicht zweifelhaft sein, dass der streitgegegenständliche Therapiestuhl bereits seiner Konzeption nach die Behinderung des Versicherten ausgleichen soll.

Die Ausstattung des Versicherten mit einem weiteren Therapiestuhl verstößt auch nicht gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass ein täglicher Transport des Therapiestuhls von der Wohnung des Versicherten in den Kindergarten nicht in Betracht kam. Ein Therapiestuhl ist darüber hinaus auch für den stationären Gebrauch von seiner Zweckbestimmung her vorgesehen. Allein dieser Gesichtspunkt spricht schon gegen einen täglichen Transport, bei dem ja auch zu klären wäre, wer den Transport gegebenenfalls vorzunehmen hätte. Der Versicherte selbst ist hierzu jedenfalls auch gar nicht in der Lage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz.

Der Senat hat dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deshalb die Revision zugelassen.

Referenznummer:

R/R4702


Informationsstand: 09.02.2011