Urteil
Kein Anspruch auf Kostenerstattung für einen selbst beschafften Aktivrollstuhl

Gericht:

LSG Essen 1. Senat


Aktenzeichen:

L 1 KR 369/11


Urteil vom:

14.08.2012


Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 12.05.2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten in Höhe von 2.300 EUR für einen von ihr selbst angeschafften Aktivrollstuhl.

Die 1946 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert. Sie leidet an Poliomyelitis mit kompletter Paralyse der Beine, Lähmungsskoliose und chronischer Cervicobrachialgie. Bei ihr wurden ein Grad der Behinderung von 100, die Merkzeichen "G", "aG", "H", "RF" und die Pflegestufe II anerkannt.

Die Klägerin ist mit einem Aktivrollstuhl mit Radnabenantrieb (E-fix-Antrieb) und einem Elektrorollstuhl für den Außenbereich versorgt. Außerdem nutzte sie in der Vergangenheit einen Faltrollstuhl, den sie in ihr Auto verladen konnte, der aber mittlerweile defekt ist. Bereits im Jahre 2005 hatte sie die Versorgung mit einem weiteren (Aktiv-)Rollstuhl beantragt. Dieser Antrag blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 07.06.2005 und Widerspruchsbescheides vom 20.02.2006, bestätigt durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 09.07.2008 - S 3 KR 23/06 -).

Im Februar 2009 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Orthopädie Dr. L bei der Beklagten erneut die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl (Modell "Compact" der Firma L). Gemäß einem Kostenvoranschlag sollten sich die Kosten auf 2.298,36 EUR belaufen.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20.04.2009 ab. Die Klägerin sei bereits mit einem Aktivrollstuhl mit E-Antrieb und einem Elektrorollstuhl ausgestattet.

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre gesundheitliche Situation würde die beantragte Versorgung notwendig machen. Die anderen beiden Rollstühle könne sie nicht in ihren Pkw verladen, für Arztbesuche sei dies jedoch notwendig. Anderenfalls sei sie gezwungen, einen Behindertenfahrdienst in Anspruch zu nehmen. Dies sei unwirtschaftlich.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2009 als unbegründet zurück. Der beantragte Rollstuhl sei nicht erforderlich, um eine Behinderung der Klägerin auszugleichen. Zur Sicherstellung der Mobilität der Klägerin sei ihr ein Aktivrollstuhl mit E-Antrieb und ein Elektrorollstuhl zur Verfügung gestellt worden. Dies sei ausreichend.

Dagegen hat die Klägerin am 27.11.2009 vor dem SG Detmold Klage erhoben. Sie hat ihr Vorbringen im Widerspruchsverfahren wiederholt und mitgeteilt, sie habe für den zwischenzeitlich selbst angeschafften Aktivrollstuhl 2.300,00 EUR aufgewandt (Rechnung vom 03.03.2010).

Die Kostenübernahme für den behindertengerechten Umbau des Pkw der Klägerin ist Gegenstand eines Rechtsstreits der Klägerin mit dem Sozialhilfeträger. Das zusprechende Urteil des SG Detmold vom 25.08.2009 wurde im Berufungsverfahren aufgehoben (Urteil v. 15.09.2011 - L 9 SO 40/09). Die zugelassene Revision ist unter dem Az. B 8 SO 24/11 R beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig.

Im vorliegenden Verfahren hat das SG die Klage durch Urteil vom 12.05.2011 abgewiesen. Ein Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Basisausgleichs sei durch die bestehende Versorgung sichergestellt. Die Klägerin könne mittels ihres Elektrorollstuhls den Nahbereich erschließen. Die Ermöglichung einer weitergehenden Mobilität gehe über diesen Basisausgleich hinaus.

Gegen das ihr am 09.06.2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 30.06.2011 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie unter Hinweis auf Rechtsprechung des BSG geltend, das SG habe das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis im Hinblick auf das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums unter Berücksichtigung der Grundsätze der Hilfsmittelversorgung durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht richtig beurteilt. Das Bedürfnis, Ärzte und Therapeuten selbstständig aufzusuchen, stelle ein besonderes qualitatives Moment dar, welches ausnahmsweise eine Ausweitung des körperlichen Freiraumes im Sinne des Basisausgleichs begründe. Die Versorgung sei auch zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 12.05.2011 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides am 20.04.2009 der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2009 zu verurteilen, die Kosten für den Aktivrollstuhl in Höhe von 2300 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des SG für zutreffend: Nach der Rechtsprechung des BSG hätten Versicherte der GKV, die in ihrer Mobilität behindert sind, lediglich einen Anspruch auf Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums im Nahbereich der Wohnung im Sinne eines Basisausgleichs. Dieser Anspruch umfasse nicht das darüber hinausreichende Interesse an der Erweiterung des Aktionsraums, wenn im Einzelfall Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich abgewickelt werden könnten, dafür also längere Strecken zurückzulegen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie der beigezogenen Vorprozessakte des SG Detmold, Az. S 3 KR 23/06, Bezug genommen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Rechtsweg:

SG Detmold, Urteil vom 12.05.2011 - S 3 KR 217/09

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen, denn der Bescheid vom 20.04.2009 der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2009 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den von ihr selbst beschafften Rollstuhl.

Als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs kommt nur § 13 Abs. 3 S. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) i. V. m. § 15 Abs. 1 S. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) in Betracht. Danach ist die Krankenkasse als Träger der medizinischen Rehabilitation zur Erstattung der Kosten für eine vom Versicherten selbst beschaffte Leistung u.a. dann verpflichtet, wenn sie diese zu Unrecht abgelehnt hat und zwischen der rechtswidrigen Ablehnung und der Kostenlast des Versicherten ein Ursachenzusammenhang besteht. Die Frage, ob die begehrte Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, ist nach dem für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsrecht - für Leistungen der GKV somit nach den Bestimmungen des SGB V - zu beurteilen (vgl. nur BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R - Rn. 7). Der Erstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender - primärer - Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl. BSG Urteil v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R -, BSGE 105, 170, Rn. 10 m.w.N.; Helbig in jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, Rn. 48).

Ein solcher primärer Sachleistungsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem von ihr selbst beschafften (Aktiv-) Rollstuhl war nicht gegeben. Rechtsgrundlage eines solchen Anspruchs könnte nur § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sein. Hiernach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie erstens nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen und zweitens im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. An diesen Voraussetzungen fehlt es, weil die Ausstattung der Klägerin mit einem weiteren - dritten - Rollstuhl weder zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung noch zum Behinderungsausgleich in dem von der GKV abzudeckenden Bereich der medizinischen Rehabilitation erforderlich ist. Die Beklagte hat ihre Leistungspflicht mit der Bereitstellung der beiden von der Klägerin derzeit genutzten Rollstühle erfüllt.

Bewegliche sächliche Mittel zur Förderung oder Ermöglichung der Mobilisation sind nur in besonders gelagerten Fällen Hilfsmittel "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" iS von § 33 Abs. 1 S. 1, 1. Variante SGB V. Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel nach der Rechtsprechung des BSG nur dann, wenn es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Erforderlich ist ein enger Zusammenhang mit einer andauernden, auf einem Therapieplan beruhenden Behandlung (vgl. BSG Urteil v. 07.10.2010 - B 3 KR 5/10 R - Rn. 21; BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 10/10 R - Rn. 11). Eine Ausdehnung der unter diese Alternative fallenden Hilfsmittel auch auf solche, die eine ärztliche Behandlung erst ermöglichen, ist nicht geboten. Insoweit geht es bereits um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von § 33 Abs. 1 S. 1, 3. Variante SGB V (dazu unten) erfasst wird (BSG Urteil v. 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R - Rn. 18; BSG Urteil v. 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R - Rn. 11). Die Klägerin benötigt den zusätzlichen Rollstuhl schon nach ihrem eigenen Vortrag nicht im Rahmen einer solchen spezifischen Krankenbehandlung. Soweit sie geltend macht, den Rollstuhl in ihren Pkw verladen und dadurch Ärzte und Therapeuten aufsuchen zu können, ist dieses vom Anwendungsbereich der Normvariante "Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" nicht mehr umfasst.

Auch zum Behinderungsausgleich in dem von der GKV abzudeckenden Bereich der medizinischen Rehabilitation nach § 33 Abs. 1 S. 1, 3. Variante SGB V - die 2. Variante (Vorbeugung einer drohenden Behinderung) kommt ersichtlich nicht in Betracht - ist der zusätzliche Rollstuhl nicht erforderlich. Die mit dem Leistungsbegehren der Klägerin verfolgten Zwecke reichen über die Versorgungsziele hinaus, für die die Krankenkassen im Bereich der Mobilitätshilfen aufzukommen haben.

Grundsätzlich bemisst sich eine solche Leistungspflicht gemäß ständiger Rechtsprechung des BSG danach, ob ein Hilfsmittel zum unmittelbaren oder zum mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht wird. Der unmittelbare Behinderungsausgleich bezweckt den Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst, wie es z.B. bei Prothesen, Hörgeräten und Sehhilfen der Fall ist. Bei diesem sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Daher kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (vgl. zuletzt BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R - Rn. 12; BSG Urteil v 03.11.2011 - B 3 KR 4/11 R - Rn. 14).

Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Fall hat die GKV nur für den Basisausgleich einzustehen; es geht dabei nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (vgl. z.B. § 5 Nr. 2 SGB IX: Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder § 5 Nr. 4 SGB IX: Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (st. Rspr, vgl. BSG Urteil v. 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R -, BSGE 105, 170, Rn. 14 ff.; BSG Urteil v. 07.10.2010 - B 3 KR 13/09 R - BSGE 107, 44 Rn. 16 f.; zuletzt BSG Urteil v 03.11.2011 - B 3 KR 4/11 R - Rn. 15). Zu den Grundbedürfnissen eines jeden Menschen gehören die körperlichen Grundfunktionen (z.B. Gehen, Stehen, Sitzen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) sowie die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen und die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze unterfällt die Versorgung mit einem Rollstuhl dem mittelbaren Behinderungsausgleich. Denn durch einen Rollstuhl wird nicht das Gehen selbst ermöglicht, sondern es sollen lediglich die Folgen einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine - hier in Form des eingeschränkten Geh- und Stehvermögens - ausgeglichen werden.

Das hier (allein) betroffene Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich, nicht aber das darüber hinausreichende Interesse an sportlicher Fortbewegung oder an der Erweiterung des Aktionsraums. Maßgebend für den von der GKV insoweit zu gewährleistenden Basisausgleich ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dazu haben die Krankenkassen die Versicherten so auszustatten, dass sie sich nach Möglichkeit in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (st. Rspr., vgl. zuletzt BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 10/10 R - Rn. 15; Urteil v. 03.11.2011 - B 3 KR 4/11 R - Rn. 16, jeweils m.w.N.). Dagegen können die Versicherten - von besonderen zusätzlichen qualitativen Momenten abgesehen - grundsätzlich nicht beanspruchen, den Radius der selbstständigen Fortbewegung in Kombination von Auto und Rollstuhl (erheblich) zu erweitern, auch wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich liegen, dafür also längere Strecken zurückzulegen sind, welche die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen (so BSG Urteil vom 18.5.2011 - B 3 KR 10/10 R - Rn. 15; BSG Urteil v. 03.11.2011 - B 3 KR 4/11 R - Rn. 16).

Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab (vgl. BSG Urteil v. 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R -, BSGE 98, 213, Rn. 17; zuletzt BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R - Rn. 35 und BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R - Rn. 16 ff.). Dem steht weder entgegen, dass nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V Hilfsmittel zu gewähren sind, wenn sie "im Einzelfall erforderlich sind", noch dass nach § 33 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I) bei der Ausgestaltung von Rechten nach dem SGB "die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten" berücksichtigt werden müssen. Die Frage, ob ein Hilfsmittel der Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse dient, betrifft dessen Eignung und Erforderlichkeit zur Erreichung der in § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V genannten Versorgungsziele. Diese Eignung und Erforderlichkeit zählt ebenso wie die Hilfsmitteleigenschaft und das Nichtvorliegen der in § 33 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB V formulierten Ausschlusstatbestände zu den objektiven, d.h. unabhängig vom konkreten Einzelfall zu beurteilenden Anspruchsvoraussetzungen. Hierfür ist allein die Zielsetzung des § 33 SGB V und somit die Abgrenzung der Leistungspflicht der GKV von der anderer Träger nach einem abstrakt-aufgabenbezogenen Maßstab ausschlaggebend. Die Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung "im Einzelfall" ist dagegen - ebenso wie deren Wirtschaftlichkeit - eine subjektbezogene Anspruchsvoraussetzung, die nach einem konkret-individuellen Maßstab beurteilt wird. Der in § 33 SGB I normierte Individualisierungsgrundsatz ist für den die Anspruchsvoraussetzungen des § 33 SGB V betreffenden Nahbereich bereits deshalb ohne Bedeutung, weil er ausschließlich für die Ausgestaltung sozialer Rechte gilt, seine Anwendung mithin auf die Rechtsfolgenseite einer im SGB geregelten Anspruchsgrundlage beschränkt ist (zusammenfassend zuletzt BSG v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R - Rn. 35 und BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R - Rn. 16).

Ausgehend von dieser Zielsetzung der Hilfsmittelversorgung ist die Klägerin durch die ihr zur Verfügung stehenden zwei Rollstühle, einem Elektrorollstuhl und einem Aktivrollstuhl mit Radnabenantrieb, ausreichend versorgt. Sie kann sich mit diesen Rollstühlen, was von ihr auch nicht in Frage gestellt wird, sowohl innerhalb ihrer Wohnung als auch in dem oben beschriebenen Nahbereich fortbewegen. Anhaltspunkte dafür, dass dies für sie unzumutbar sein könnte, etwa wegen großer Schmerzen, der Erforderlichkeit fremder Hilfe oder weil die Fortbewegung im Vergleich zu nicht behinderten Menschen besonders zeitaufwändig wäre (vgl. zu diesen besonderen qualitativen Momenten BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R - Rn. 41), bestehen nicht.

Ein besonderes qualitatives Moment liegt, entgegen der Auffassung der Klägerin, nicht darin, dass nach ihren Angaben Therapeuten und Fachärzte, die sie konsultiert, sich außerhalb des oben beschriebenen Nahbereichs befinden. Auch insoweit sind nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend (so ausdrücklich zuletzt BSG Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R - Rn. 18). Würde man dies anders sehen, wäre der abstrakte Maßstab zur Bestimmung des Nahbereichs als allgemeine Konkretisierung eines Grundbedürfnisses verloren und die Bestimmung der Anspruchsvoraussetzungen Eignung und Erforderlichkeit für die Gewährung von Hilfsmitteln nach objektiven Kriterien nicht mehr möglich. Damit verbunden wäre eine Ausweitung der Leistungspflicht der Krankenkassen, abhängig von Umständen, die keinen Bezug mehr zur medizinischen Rehabilitation als Aufgabe der GKV haben.

Das zentrale Anliegen der Klägerin geht im Übrigen weiter. Tatsächlich erstrebt sie durch die Versorgung mit einem transportablen Aktivrollstuhl für sich die Mobilität eines Autofahrers. Zwar ist es nachvollziehbar, dass sie grundsätzlich eine Erweiterung ihres persönlichen Aktionsradius möchte, um nicht jeweils auf die Hilfestellung und den Transport durch Dritte angewiesen zu sein. Das Autofahren bzw. der Besitz eines eigenen Pkw zählen zwar heute zum normalen Lebensstandard und sind Ausdruck des inzwischen erlangten allgemeinen Wohlstandsniveaus, doch gehört es nicht - wie das BSG bereits klargestellt hat - zu den Aufgaben der GKV, generell die Benutzung eines Pkw zu ermöglichen (so BSG Urteil v. 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R - Rn. 15; BSG Urteil v. 02.02.2012 - B 8 SO 9/10 R - Rn. 16 f.). Insoweit macht es keinen Unterschied, ob die Benutzung eines Pkw - wie in den vom BSG entschieden Fällen - ermöglicht werden soll durch die Umrüstung des Pkw (vgl. BSG Urteil v. 26.03.2003 - B 3 KR 23/02 R - Ausrüstung mit einer Ladevorrichtung; BSG v. 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R - behindertengerechter Umbau; BSG Urteil v. 02.02.2012 - B 8 SO 9/10 R - schwenkbarer Autositz) oder wie hier durch die Versorgung mit einem weiteren - transportablen - Rollstuhl.

Soweit das BSG in dem Urteil vom 16.09.2004 (B 3 KR 19/03 R, BSGE 93, 176) aus dem Erfordernis, Ärzte und Therapeuten aufzusuchen zu müssen, ausnahmsweise einen Anspruch auf einen schwenkbaren Autositz als Hilfsmittel abgeleitet hat, lag dem eine besonderer Fall zugrunde. Dieser betraf eine junge Wachkomapatientin mit multiplen Behinderungen, die einen eigenen körperlichen Freiraum im Nahbereich auch durch Hilfsmittel nicht mehr wahrnehmen, also auch keine Ärzte und Therapeuten aufsuchen konnte. Der Weg dorthin wurde für die Versicherte erst durch die Benutzung des Pkw ermöglicht, weil nur durch den Transport im vertrauten Fahrzeug und in Gegenwart der Eltern Angstzustände genommen und zusätzliche spastische Anfälle vermieden wurden. Der behinderungsgerechte Pkw-Umbau ermöglichte es ihr unter Hilfestellung des Vaters, das Fahrzeug zu besteigen und dort sicher transportiert zu werden (BSG Urteil v. 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R - Rn. 14). Diese besondere Konstellation rechtfertigte es für das BSG, der Notwendigkeit, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufsuchen zu können, ausnahmsweise durch die Möglichkeit eines Pkw-Transports Rechnung zu tragen (vgl. BSG v. 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R - Rn. 14).

Entgegen der Auffassung der Klägerin lässt sich schließlich nichts anderes aus der von ihr im Wortlaut zitierten Entscheidung des BSG v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R - entnehmen. Auch in dieser Entscheidung wird auf die oben aufgezeigten allgemeinen Grundsätze der ständigen Rechtsprechung abgestellt. Die Feststellung des BSG, dass die Ablehnung der Versorgung - im konkreten Fall mit einem Rollstuhl-Bike - rechtswidrig gewesen ist, beruhte auf dem besonderen Erkrankungsbild des Versicherten, welches diesem eine zumutbare Fortbewegung im Nahbereich mit einem Aktivrollstuhl nicht mehr erlaubte.

Nicht zu entscheiden hatte der Senat darüber, ob die Klägerin die von ihr im Ergebnis erstrebte Erweiterung ihrer Mobilität als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beanspruchen kann. Abgesehen davon, dass die Klägerin insoweit noch vor der Beantragung der Versorgung mit einem weiteren Rollstuhl bei der Beklagten den originär zuständigen Träger der Sozialhilfe (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX) in Anspruch genommen hat und dessen Entscheidung noch nicht bindend ist, handelt es sich bei einem Rollstuhl um ein Hilfsmittel, das § 31 SGB IX unterfällt und typischerweise die medizinische Rehabilitation zum Ziel hat. Vom Katalog der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist ein solches Hilfsmittel gem. § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX ausgeschlossen (vgl. zur Abgrenzung Luthe in jurisPK-SGB IX, § 55 Rn. 26 ff.).

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Anlass zur Revisionszulassung besteht nicht, da die gemäß § 160 Abs. 2 SGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

Referenznummer:

R/R5359


Informationsstand: 27.02.2013