Urteil
Gesetzliche Unfallversicherung - rückwirkende Gewährung bzw. Wiedergewährung von Verletztengeld - kein Beendigungstatbestand: Zahlung von Verletztenrente und Übergangsgeld - Zeiten ohne Übergangsgeldanspruch

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 3. Senat


Aktenzeichen:

L 3 U 6/19 ZVW


Urteil vom:

11.07.2019


Grundlage:

Tenor:

Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2015 geändert und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 02. Dezember 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05. März 2012 verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 Verletztengeld wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 08. Juni 2004 zu zahlen.

Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls die Gewährung von Verletztengeld, teilweise anstelle von Übergangsgeld.

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 08. Juni 2004 einen später von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, bei welchem er sich während seiner Beschäftigung als Fleischer eine Verletzung der rechten Schulter zuzog, die zu starken Funktionsbeeinträchtigungen führte. In der Folge musste er sich mehreren operativen Eingriffen unterziehen. Der Kläger leidet nach wie vor an Bewegungs- und Belastungseinschränkungen des rechten Arms und kann deshalb - unstreitig - seiner Beschäftigung als Fleischer nicht mehr nachgehen (vgl. etwa schriftliches Sachverständigengutachten von Dr. W vom 24. April 2008 im Sozialrechtsstreit S 98 U 855/07). Die Beigeladene gewährte dem Kläger zunächst bis einschließlich 24. Mai 2006 Verletztengeld. Danach gewährte sie ihm mit Bescheid vom 13. Juli 2006 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v.H.), mit Bescheid vom 17. Juli 2008 eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 30 v.H. ab dem 01. März 2007 und mit Bescheid vom 28. Januar 2011 eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. ab dem 07. Juli 2009. Für die Zeit vom 01. November 2006 bis zum 14. August 2007 gewährte die Beigeladene dem Kläger mit Bescheid vom 23. Oktober 2006 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) in Gestalt einer Weiterbildung zum Fachassistenten für Fleischhygiene und in dieser Zeit Übergangsgeld. Diese Tätigkeit konnte der Kläger aber wegen seiner Schulterverletzung und, weil sie die Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit voraussetzte, nicht ausüben. Den hierauf gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung einer Weiterbildung als Lebensmittelkontrolleur vom 15. Mai 2008 lehnte die Beigeladene mit Bescheid vom 04. Juni 2008 ab; den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2008 als unbegründet zurück. Die Fleischerei-Berufsgenossenschaft als Rechtsvorgängerin der Beklagten, welche nach der Überweisung des Unfallbetriebs des Klägers zum 01. Januar 2006 für diesen zuständig geworden war, wurde dann mit Urteil des Sozialgerichts Berlin (SG) vom 28. Mai 2010 - S 67 U 801/08 - zur Neubescheidung verurteilt, woraufhin sie dem Kläger mit Bescheiden vom 07. September 2011 und 25. November 2011 für die Zeit ab dem 29. August 2011 LTA in Gestalt der Teilnahme an einem Meisterkurs der Fleischerfachschule F gewährte.

Mit Schreiben vom 08. März 2011 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Verletztengeld rückwirkend ab Mai 2006. Dies lehnte die Beklagte zunächst mit Schreiben vom 09. Mai 2011 ab. Mit Bescheid vom 02. Dezember 2011 gewährte sie dem Kläger für die Zeit vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 Übergangsgeld in Höhe von 47,32 EUR kalendertäglich. Den auf die Gewährung von Verletztengeld - teils anstelle der Übergangsgeldzahlung - gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05. März 2012 als unbegründet zurück.

Der Kläger hat sein Begehren mit der am 13. März 2012 zum SG erhobenen Klage weiterverfolgt. Der wegen seiner unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit entstandene Verletztengeldanspruch habe auch in der Zeit vom 25. Mai 2006 bis zum 31. Oktober 2006 und vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 fortbestanden. Ein Beendigungstatbestand für das Verletztengeld sei nicht ersichtlich. Die Beklagte hat demgegenüber eingeräumt, dass der Anspruch auf Verletztengeld eigentlich nicht vor dem 31. Oktober 2006 habe wegfallen können. Soweit bindend ab dem 25. Mai 2006 eine Verletztenrente wegen der Unfallfolgen gewährt worden sei, liege jedoch auch eine bindende Entscheidung bezüglich der Beendigung der Verletztengeldgewährung vor. Soweit hiernach für das Begehren des Klägers nur ein Überprüfungsantrag in Betracht komme und ein solcher im Schreiben vom 08. März 2011 zu sehen sei, könnten dann allenfalls Leistungen bis zu vier Jahren vor Antragstellung erbracht werden, also frühestens ab dem 01. Januar 2007. Für die Zeit vom 15. August 2007 an komme ein Verletztengeldanspruch nicht in Betracht, weil mit dem Beginn der Zahlung des Übergangsgeldes nach § 46 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) der Anspruch auf Verletztengeld unwiederbringlich geendet habe und die Voraussetzungen für eine Wiedergewährung von Verletztengeld nach den §§ 45, 48 SGB VII nicht vorlägen. Unter Anwendung der Vorschrift des § 51 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (a.F.) stehe dem Kläger für die Zeit vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 eben nur Übergangsgeld zu, welches ihm auch gewährt worden sei.

Das SG hat mit Urteil vom 21. Oktober 2015 den Bescheid der Beklagten vom 02. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05. März 2012 abgeändert und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger unter Anrechnung des gezahlten Übergangsgelds Verletztengeld für die Zeit vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 zu gewähren. Es hat im Übrigen bezüglich des Zeitraums vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass zunächst einmal mit der bindenden Gewährung von Verletztenrente eine bindende Entscheidung über den Wegfall des Verletztengeldes nicht getroffen worden sei. Rechtsgedanklich ausgehend von § 44 Abs. 4 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) könnten vorliegend, auch wenn der Sache nach kein Überprüfungsantrag vorliege, Leistungen in der Tat nur frühestens ab dem 01. Januar 2007 beansprucht werden, weshalb die auf die Gewährung von Verletztengeld gerichtete Klage bezüglich des Zeitraums bis Oktober 2006 unbegründet sei. Demgegenüber sei der für die Zeit vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 geltend gemachte Verletztengeldanspruch gegeben. Angesichts der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit sei der Verletztengeldanspruch entstanden, ohne dass ein Beendigungstatbestand i.S.v. § 46 SGB VII gegeben sei. Insbesondere liege kein Beendigungstatbestand nach § 46 Abs. 3 S. 2 SGB VII vor. Es habe nämlich ein Anspruch auf Gewährung von LTA bestanden. Auch lasse sich nicht aus § 51 Abs. 1 SGB IX a.F. folgern, dass dem Kläger für den vorgenannten Zeitraum nur ein Anspruch auf Übergangsgeld zustehe. Der darin enthaltene Begriff der Weiterzahlung beziehe sich nicht nur auf die zuletzt erbrachte Leistung, sondern auf diejenige, die nach den Umständen beansprucht werden könne. Dies sei vorliegend wegen der Arbeitsunfähigkeit des Klägers eben das Verletztengeld gewesen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 26. Oktober 2015 zugestellte Urteil am 25. November 2015 Berufung eingelegt. Sie hält im Wesentlichen an ihrem bisherigen Vorbringen fest und weist darauf hin, dass nur § 46 Abs. 3 S. 2 SGB VII eine Feststellung der Beendigung des Verletztengelds erfordere. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 06. Juli 2016 (unselbständige) Anschlussberufung eingelegt und hält, soweit die Klage vom SG nicht abgewiesen worden ist, dessen Urteil für zutreffend.

Nachdem die Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats einverstanden erklärt hatten, hat dieser mit Urteil vom 13. Juli 2016 auf die Berufung des Klägers die Beklagte unter Änderung des Urteils des SG vom 21. Oktober 2015 und des Bescheids der Beklagten vom 02. Dezember 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05. März 2012 verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 Verletztengeld wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 08. Juni 2004 zu zahlen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten die Revision mit Beschluss vom 20. Dezember 2016 zugelassen und mit Urteil vom 06. September 2018 das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 13. Juli 2016 aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung ans LSG zurückverwiesen. Es hat im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt, dass der Berichterstatter ermessensfehlerhaft anstelle des Senats entschieden habe, weil die Sache im Hinblick auf die Anwendung von § 46 Abs. 3 Nr. 2 SGB VII und die Frage der Analogie von § 44 Abs. 4 SGB X von grundsätzlicher Bedeutung sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen, ferner vorsorglich, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2015 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 02. Dezember 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05. März 2012 zu verurteilen, ihm auch für den Zeitraum vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 Verletztengeld wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 08. Juni 2004 zu zahlen.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen, ferner die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt ferner,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Berlin, Urteil vom 21.10.2015 - S 115 U 165/12
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.07.2016 - L 3 U 198/15
BSG, Urteil vom 06.09.2018 - B 2 U 3/17 R
Zurückverweisung an das LSG (L 3 U 6/19 ZVW)
BSG, Urteil vom 16.03.2021 - B 2 U 12/19 R

Quelle:

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Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat der Klage zunächst zu Recht teilweise stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von Verletztengeld für die Zeit vom 15. August 2007 bis zum 28. August 2011 verurteilt. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird zunächst abgesehen, weil die Berufung der Beklagten aus den insoweit zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurückzuweisen ist, § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Lediglich ergänzend ist zum Einen darauf hinzuweisen, dass hier der Verletztengeldanspruch nicht gemäß § 46 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB VII mit dem Tag, der dem Tag vorausgeht, an dem ein Anspruch auf Übergangsgeld entsteht, auch für die Zeit ab dem 15. August 2007 erloschen war. Soweit die Beklagte hierfür auf die ab November 2006 gewährten LTA als Übergangsgeld begründende Leistung verweist, verfängt dies nicht. Zwar war der Verletztengeldanspruch gemäß der vorstehenden Norm für die Zeit ab dem 01. November 2006 bis zum 14. August 2007 (zunächst) beendet, jedoch nicht für die anschließenden Zeiten endgültig erloschen, in welchen der Kläger trotz fortbestehender Arbeitsunfähigkeit tatsächlich keine LTA erhielt. Anderes würde sich aus dem Gesetzeswortlaut nur ergeben, wenn es in § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VII etwa hieße, dass der Verletztengeldanspruch mit der erstmaligen Entstehung des Anspruchs auf Übergangsgeld endet bzw. mit Entstehung des Anspruchs auf Übergangsgeld erlischt. Des Weiteren ist auf den offenkundigen Zweck des Gesetzes hinzuweisen, der lediglich darin besteht, mit dem Übergangsgeld gemäß § 49 SGB VII als eigenständiger Leistung die Zahlung von Verletztengeld auszuschließen (so etwa Nehls in: Hauck, Sozialgesetzbuch SGB VII - Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, Stand August 2018, K § 46 Rn. 10), um so eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den Entschädigungsleistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung zu gewährleisten, nicht aber das Verletztengeld für die Zeiten ohne Übergangsgeldanspruch endgültig zum Erlöschen zu bringen. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang zur Untermauerung ihres Standpunktes auf ein Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23. März 2004 - L 15 U 285/02 - verweist, überzeugt dies nicht. Denn dort hat das Gericht es gerade nicht ausgeschlossen, dass ein wegen einer beruflichen Rehabilitation endender Verletztengeldanspruch nach Abbruch der Maßnahme wiederaufleben kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, ebd., zitiert nach juris Rn. 22 a.E.).

Soweit die Beklagte auf ein Zusammenspiel von § 46 SGB VII und § 51 SGB IX a.F. verweist, verfängt dies nicht. § 51 SGB IX a.F. (entspricht § 71 SGB IX n.F.) bestimmt lediglich, dass etwa, wenn nach Abschluss von LTA weitere LTA erforderlich sind, während derer dem Grunde nach Anspruch auf Übergangsgeld besteht, und diese aus Gründen, die die Leistungsempfänger nicht zu vertreten haben, nicht unmittelbar anschließend durchgeführt werden können, das Verletztengeld, das Versorgungskrankengeld oder das Übergangsgeld für diese Zeit weitergezahlt werden. Soweit die Beklagte der Vorschrift abschließenden Charakter beimisst, überzeugt dies nicht, wo doch eben dort gerade auch die Weiterzahlung nicht nur von Übergangsgeld, sondern gerade auch alternativ von Verletztengeld geregelt wird. Dass dort implizit vorausgesetzt werde, dass sich die Art der weiterzuzahlenden Leistung danach bemesse, welche Leistung unmittelbar vorher gezahlt worden sei, lässt sich der Vorschrift nicht zwingend entnehmen. Eine klare Wortlautgrenze bildet sich in diesem Sinne nicht ausdrücklich ab (so etwa auch Schlette in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 71 SGB IX, Rn. 13, allerdings mit der für den Standpunkt der Beklagten sprechenden Schlussfolgerung, dass unterhaltssichernde Leistungen für eine Folgemaßnahme nur dann "weitergezahlt" werden, wenn sie bereits für die vorangegangene Maßnahme gewährt worden sind). Dessen ungeachtet ist es nicht der Zweck von § 51 SGB IX a.F., den Anspruch auf Entgeltersatzleistungen zu beschränken, sondern zu erhalten. M.a.W. lässt sich der Vorschrift nach Auffassung des Senats nichts Durchgreifendes für das Erlöschen eines Verletztengeldanspruchs entnehmen. Die weiteren von der Beklagten aufgeworfenen Fragen stehen der Annahme eines wiederauflebenden Verletztengeldanspruchs ebenfalls nicht entgegen. Insbesondere die Frage nach dem sich erst ans Verletztengeldende anschließenden Beginn der Verletztenrente mag zwar für die Sozialverwaltung rechtliche und praktische Probleme aufwerfen. Ist nun rückwirkend Verletztengeld zu zahlen, hat dies indes nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII die logische und nach §§ 45, 48 SGB X rechtlich umsetzbare Konsequenz, dass die Gewährung der Verletztenrente rückwirkend aufzuheben ist.

Zum Anderen ist in Ergänzung der Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil darauf hinzuweisen, dass ein Beendigungstatbestand gemäß § 46 Abs. 3 S. 2 SGB VII schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil es die Beklagte unterließ, den hierfür erforderlichen feststellenden Verwaltungsakt mit einer in ihm enthaltenen Prognoseentscheidung zu erlassen (vgl. hierzu grundsätzlich BSG, Urteil vom 13. September 2005 - B 2 U 4/04 R -, zitiert nach juris Rn. 42).

Schließlich ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass der Verletztengeldanspruch nicht allein schon durch die rückwirkende Gewährung von Übergangsgeld für die Zeit vom 15. August 2007 an gemäß § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VII beendet war. Denn für den Beendigungstatbestand ist es nicht maßgeblich, dass Übergangsgeld gezahlt wird, sondern dass ein Anspruch auf Übergangsgeld entstanden ist, was nur der Fall ist, wenn Versicherte infolge des Versicherungsfalls LTA (tatsächlich) erhalten, vgl. § 49 SGB VII (und hierzu etwa Sächsisches LSG, Urteil vom 11. September 2006 - L 6 U 81/05 -, zitiert nach juris Rn. 28). Dies war zum damaligen Zeitpunkt gerade nicht der Fall.

Die im Schriftsatz des Klägers vom 06. Juli 2016 enthaltene zulässige (unselbständige) Anschlussberufung hat in der Sache Erfolg. Das SG hat die Klage bezüglich des für die Zeit vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 geltend gemachten, für diese Zeit dem Grunde nach unstreitig vorgelegenen Verletztengeldanspruchs zu Unrecht abgewiesen. Soweit das SG hierfür (rechtsgedanklich) auf § 44 Abs. 4 SGB X abstellt, überzeugt dies nicht. Nach dieser Vorschrift werden nur dann, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es geht nicht um eine Rücknahme i.S.v. § 44 Abs. 1 SGB X. Auch liegt kein Fall vor, in welchem aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt wird, wie dies bei den vom SG im angefochtenen Urteil in Bezug genommenen Entscheidungen des BSG der Fall war und in denen ein (rechtsgedanklicher oder analoger) Rückgriff auf § 44 Abs. 4 SGB X angebracht sein mag (vgl. etwa BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 13 R 58/06 R -, zitiert nach juris Rn. 13 f.). Der Verweis auf § 44 Abs. 4 SGB X geht im Übrigen auch wertungsmäßig insoweit fehl, als Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich von Amts wegen erbracht werden, wie aus § 19 S. 2 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IV) und §§ 1 Nr. 2 und 26 Abs. 1 Satz SGB VII zu folgern ist (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. August 2008 - L 1 U 1935/08 -, zitiert nach juris Rn. 21), so dass es der Beklagten auch ohne (erneuernden) Antrag des Klägers beizeiten möglich war, das Verletztengeld rückwirkend zu zahlen. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu erbringen sind, besteht nicht (vgl. etwa BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 13 R 58/06 R -, zitiert nach beck-online Rn. 20 f.; Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 103. Erg.-Lfg. März 2019, SGB X § 44 Rn. 52). Eine planwidrige Lücke ist im vorliegenden Fall schon deshalb nicht erkennbar, weil die Beklagte nach § 45 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I) die Einrede der Verjährung erheben kann. Hierdurch kann die Beklagte dem Gesetzeszweck von § 45 SGB I entsprechend (BT-Drucks. 7/ 868, S. 30) bei pflichtgemäßer Ausübung eines entsprechenden Ermessens (vgl. BSG, Urteil vom 08. Dezember 2005 - B 13 RJ 41/04 R -, BeckRS 2006 Rn. 25 ff.) der Aktualität der Sozialleistungen, die im Wesentlichen dem laufenden Unterhalt des Berechtigten dienen sollen, und ihrem Interesse an einer Überschaubarkeit ihrer Leistungsverpflichtungen, mithin dem gleichen Regelungszweck wie § 44 Abs. 4 SGB X Rechnung tragen (vgl. BSG, Urteil vom 09. September 1986 - 11a RA 28/85 -, NJW 1987, 2103). Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung zwar im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 05. Februar 2016 pauschal erhoben, jedoch ohne hierbei die erforderliche pflichtgemäße Ermessensausübung (st. Rspr., vgl. etwa BSG, Urteil vom 08. Dezember 2005 - B 13 RJ 41/04 R -, zitiert nach beck-online Rn. 26 f.) vorzunehmen.

Da sich im Übrigen eine zeitliche Begrenzung der rückwirkenden Geltendmachung des Verletztengeldanspruchs von vornherein nicht begründen lässt, ist die Beklagte auch für die Zeit vom 25. Mai bis zum 31. Oktober 2006 - gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 SGG dem Grunde nach - zur Verletztengeldzahlung zu verurteilen, welche noch mit den in dieser Zeit tatsächlich gewährten Leistungen wie der Verletztenrente höhenmäßig zu verrechnen sein wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision ist zuzulassen, weil die Sache von grundsätzlicher Bedeutung ist, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

Referenznummer:

R/R8379


Informationsstand: 23.03.2020