Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Verletztenrente.
Der im Jahr 1961 geborene Kläger erlitt am 7. August 1995 einen privaten Verkehrsunfall, der nach einem Gutachten von
Prof. Dr. S. zu einer Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule (HWS) mit verzögertem Heilungsverlauf führte (letzte längere Arbeitsunfähigkeit vom 24. September bis 26. Oktober 1996). Am 9. Oktober 1997 erlitt der Kläger einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall, als er beim Besteigen eines ca 1,8 bis 2 m hohen Gerüstes abstürzte und auf den Rücken fiel. Der Durchgangsarzt diagnostizierte insbesondere eine Distorsion der HWS und eine Prellung der linken Schulter. Während
Prof. Dr. J., Direktor der chirurgischen Klinik und Poliklinik III der Universitätsklinik L., eine HWS-Operation vorschlug, meinte
Prof. Dr. S., Leiter der Poliklinik für Neurochirurgie der Universitätsklinik L., es bestehe keine Operationsindikation. Weitere Vorstellungen und Behandlungen bei beiden Ärzten schlossen sich an. Ende März 1998 holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten bei
Dr. T. und ein neurologisches Gutachten bei
Prof. Dr. M. ein, die fortbestehende Unfallfolgen auf ihren Fachgebieten verneinten. Letzterer diagnostizierte aber eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und Anpassungsstörung beim Kläger, woraufhin die Beklagte ihm ein stationäres Heilverfahren vom 12. Mai bis 7. Juli 1998 gewährte. Im Entlassungsbericht von
Dr. D. wurde das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, die aber nicht unfallbedingt sei, bestätigt, während
Prof. Dr. S. den Zustand des Klägers als unfallbedingt ansah. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Verletztenrente sowie die Erbringung von Leistungen nach dem 7. Juli 1998 aufgrund des Arbeitsunfalls ab (Bescheid vom 2. September 1998) und wies den Widerspruch des Klägers nach Einholung weiterer ärztlicher Stellungnahmen zurück ( Widerspruchsbescheid vom 13. August 1999).
Das angerufene Sozialgericht Leipzig (SG) hat ein Gutachten bei der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Sozialmedizin
Dr. Sch. eingeholt, die einen krankhaften neurologischen Befund verneinte, aber eine durch den Arbeitsunfall verursachte somatoforme Schmerzstörung bejahte, die nicht durch den Unfall selbst, sondern die unklare Behandlungssituation im Spannungsfeld der Meinungen von
Prof. Dr. J. und
Prof. Dr. S. verursacht worden sei. Die Beklagte ist dem Gutachten unter Vorlage einer Stellungnahme von
Dr. B. entgegengetreten. Das SG hat die Beklagte verurteilt, als Unfallfolge "somatoforme Schmerzstörung mit depressiver Fehlverarbeitung" festzustellen und dem Kläger Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auch über den 7. Juli 1998 hinaus zu erbringen, einschließlich einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (
MdE) von 30 vH (Urteil vom 29. März 2001).
Das Sächsische Landessozialgericht (
LSG) hat nach Einholung eines Gutachtens bei dem Chirurgen
Prof. Dr. K. die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte dem Kläger ab dem 8. Juli 1998 eine Verletztenrente nach einer
MdE von 20 vH zu gewähren habe (Urteil vom 16. September 2004). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Da der Kläger die Zurückweisung der Berufung der Beklagten nur hinsichtlich einer Verletztenrente nach einer
MdE von 20 vH beantragt habe, habe er im Übrigen die Klage zurückgenommen. Der Kläger leide an einer somatoformen Schmerzstörung mit depressiver Fehlverarbeitung, die von der durch den Arbeitsunfall unmittelbar eingetretenen Zerrung des linksseitigen Plexus brachialis wesentlich mitverursacht worden sei. Ausgehend von der Theorie der wesentlichen Bedingung sei dem 9. Senats des Bundessozialgerichts (
BSG) zum Ursachenzusammenhang bei psychischen Erkrankungen (ua Hinweis auf
BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 3, 4) nicht zu folgen, weil nicht deutlich werde, inwieweit individuelle Umstände zu berücksichtigen seien. Vielmehr sei jede durch einen Arbeitsunfall wesentlich verursachte psy chische Unfallfolge zu entschädigen. Aufgrund des Gutachtens von
Dr. Sch. und weiterer ärztlicher Aussagen sei der Senat davon überzeugt, dass der Kläger im linken Schulterarmbereich an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (
ICD-10 F45.4) leide. Eine organische Ursache für das Schmerzerlebnis des Klägers sei nicht vorhanden. Ob die Verletzung des Plexus brachialis beim Kläger eine psychische Reaktion ausgelöst habe, sei zwischen den Ärzten umstritten. Die anfängliche unterschiedliche Beurteilung über dessen richtige Behandlung habe aber eine erhebliche Verunsicherung des Klägers ausgelöst, mit der die Entstehung der somatoformen Schmerzstörung erklärt werden könne, wie sich aus dem Gutachten von
Dr. Sch. ergebe. Ein Versicherter, der sich wegen eines unfallbedingten Primärschadens in ärztliche Behandlung begebe, sei auch gegen ärztliche Behandlungsfehler geschützt, selbst wenn diese in einem Diagnosefehler, einem daraus abgeleiteten unzutreffenden belastenden Therapievorschlag und widerstreitenden Behandlungskonzepten bestehen würden. Den gegenteiligen Auffassungen könne nicht gefolgt werden. Selbst wenn von prätraumatischen pathogenen Persönlichkeitsmerkmalen beim Kläger ausgegangen werde, könnten diese nicht derart konkretisiert werden, dass sie die anderen versicherten Ursachen als rechtlich nicht wesentlich in den Hintergrund drängen würden.
Mit der - vom
LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend: Das
LSG habe die kausalrechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung psychischer Unfallreaktionen verkannt. Psychische Erkrankungen könnten nur dann als Unfallfolge anerkannt werden, wenn nach der herrschenden Meinung in der psychiatrischen und psychologischen Wissenschaft ein derartiges Krankheitsbild schon definitionsgemäß nicht teilweise als Reaktion auf äußere Einflüsse einzustufen sei, sondern allein auf einer eigengesetzlichen endogenen psychischen Entwicklung des Betroffenen beruhe. Die Auffassung des
LSG, jede wesentlich durch einen Arbeitsunfall verursachte psychische Unfallfolge sei zu entschädigen, sei unzutreffend. Es sei nicht hinnehmbar, dass unterschiedliche medizinische Beurteilungen über die richtige Behandlung körperlicher Beschwerden zur Entstehung einer somatoformen Schmerzstörung führten, die eine
MdE nach sich ziehe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. September 2004 und des Sozialgerichts Leipzig vom 29. März 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des
LSG und der Zurückverweisung der Sache begründet. Denn nach den derzeitigen Feststellungen des
LSG kann nicht beurteilt werden, ob der Kläger aufgrund seines Arbeitsunfalls am 9. Oktober 1997 einen Anspruch auf Verletztenrente gegen die Beklagte hat.
Versicherte haben Anspruch auf eine Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist (§ 56 Abs 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII)).
Die erste Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente - das Vorliegen eines Versicherungsfalles, hier: eines Arbeitsunfalls - ist erfüllt. Für einen Arbeitsunfall ist nach § 8 Abs 1
SGB VII in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang, vgl BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92 S 257;
BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 19), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat ( Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat ( haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von längerandauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens ( haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente (
BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14 jeweils RdNr 5;
BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 5).
Die vom Kläger zur Zeit des Unfalls ausgeübte Verrichtung - das Klettern auf das Gerüst - ist Teil seiner versicherten Tätigkeit als
Kfz-Schlosser in seinem Beschäftigungsunternehmen gewesen (sachlicher Zusammenhang). Diese Verrichtung führte auch zu dem Unfallereignis - dem Absturz des Klägers - (Unfallkausalität). Aufgrund dieses Absturzes erlitt der Kläger Gesundheitserstschäden, ua eine Distorsion der HWS und eine Prellung der linken Schulter (haftungsbegründende Kausalität). Dies ergibt sich aus den für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen des
LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -
SGG).
Ob die zweite Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Folge dieses Versicherungsfalles, erfüllt ist, kann aufgrund der Feststellungen des
LSG nicht beurteilt werden. Diese Voraussetzung erfordert zunächst, dass überhaupt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch eine Beeinträchtigung seines körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens gegeben ist und dass diese Beeinträchtigung in Folge des festgestellten Versicherungsfalles - hier des Arbeitsunfalls - eingetreten ist, also über einen längeren Zeitraum andauernde Unfallfolgen vorliegen. Zur Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Folge eines Versicherungsfalles muss zwischen dem Unfallereignis und den geltend gemachten Unfallfolgen entweder mittels des Gesundheitserstschadens, zB bei einem Sprunggelenksbruch, der zu einer Versteifung führt, oder direkt, zB bei einer Amputationsverletzung, ein Ursachenzusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen.
1. Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie (vgl dazu nur Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl 2006, Vorb v § 249 RdNr 57 ff mwN sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele ( conditio-sine-qua-non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.
Da Verschulden bei der Prüfung eines Versicherungsfalles in der gesetzlichen Unfallversicherung unbeachtlich ist, weil verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließt (§ 7 Abs 2
SGB VII), erfolgt im Sozialrecht diese Unterscheidung und Zurechnung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Nach dieser werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (grundlegend: Reichsversicherungsamt, AN 1912, S 930 f; übernommen vom
BSG in BSGE 1, 72, 76; BSGE 1, 150, 156 f; stRspr vgl zuletzt
BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15, jeweils RdNr 11) . Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76) .
Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet: Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache( n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (
BSG SozR Nr 69 zu § 542
aF RVO;
BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO; vgl Krasney in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2006, § 8 RdNr 314, Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl 2003, Kap 1.3.6.1, S 80 f).
Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr 27 zu § 542 RVO;
BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr 10;
BSG SozR 2200 § 548 Nr 75;
BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 11). Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr 10;
BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 11; ähnlich Schönberger/ Mehrtens/Valentin, aaO). Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen. Dass der Begriff der Gelegenheitsursache durch die Austauschbarkeit der versicherten Einwirkung gegen andere alltäglich vorkommende Ereignisse gekennzeichnet ist, berechtigt jedoch nicht zu dem vom
LSG offenbar gezogenen Umkehrschluss, dass bei einem gravierenden, nicht alltäglichen Unfallgeschehen oder besonderen Problemen in der anschließenden Heilbehandlung, wie sie vom
LSG im Fall des Klägers angenommen wurden, ein gegenüber einer Krankheitsanlage rechtlich wesentlicher Ursachenbeitrag ohne weiteres zu unterstellen ist.
Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache bzw dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens - aber eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war -, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein (vgl BSGE 38, 127, 129 = SozR 2200 § 548 Nr 4;
BSG SozR 4-2200 § 589 Nr 1).
Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt (vgl zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr 91; Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 312), bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht zu berücksichtigen oder bei ihr entbehrlich wären ( vgl schon
BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen. Soweit das
LSG die bei psychischen Erkrankungen zuletzt insbesondere vom 9. Senat des
BSG (BSGE 74, 51, 53 = SozR 3-3800 § 1 Nr 3; BSGE 77, 1, 3 = SozR 3-3800 § 1 Nr 4) erhobene Forderung nach einer generellen, durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauerten Plausibilität der behaupteten Ursache-Wirkungs-Beziehung ablehnt, weil darin eine verdeckte Rückkehr zur Adäquanztheorie des Zivilrechts zu sehen sei, verkennt es Inhalt und Zielrichtung dieser Rechtsprechung. Es geht dabei nicht um die Ablösung der für das Sozialrecht kennzeichnenden individualisierenden und konkretisierenden Kausalitätsbetrachtung durch einen generalisierenden, besondere Umstände des Einzelfalls außer Betracht lassenden Maßstab, sondern um die Bekräftigung des allgemeinen beweisrechtlichen Grundsatzes, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aufbauen muss (
BSG SozR 3850 § 51 Nr 9;
BSG SozR 1500 § 128 Nr 31 = SGb 1988, 506 mit Anmerkung von K. Müller;
BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, III RdNr 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 2.3.4.3, S 146).
Dies erfordert nicht, dass es zu jedem Ursachenzusammenhang statistisch-epidemiologische Forschungen geben muss (so wohl Stevens/ Foerster, MedSach 2003, 104, 107), weil dies nur eine Methode zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist und sie im Übrigen nicht auf alle denkbaren Ursachenzusammenhänge angewandt werden kann und braucht, zB nicht bei einem Treppensturz und anschließendem Beinbruch ohne erkennbare Besonderheiten (vgl Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 312). Gibt es keinen aktuellen allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu einer bestimmten Fragestellung, kann in Abwägung der verschiedenen Auffassungen einer nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung gefolgt werden (
BSG SozR Nr 33 zu § 128
SGG; ähnlich Kopp / Schenke,
VwGO, 14. Aufl 2005, § 108 RdNr 9).
Dieser wissenschaftliche Erkenntnisstand ist jedoch kein eigener Prüfungspunkt bei der Prüfung des Ursachenzusammenhangs, sondern nur die wissenschaftliche Grundlage, auf der die geltend gemachten Gesundheitsstörungen des konkreten Versicherten zu bewerten sind (vgl BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO). Bei dieser einzelfallbezogenen Bewertung kann entgegen der Auffassung der Beklagten nur auf das individuelle Ausmaß der Beeinträchtigung des Versicherten abgestellt werden, aber nicht so wie er es subjektiv bewertet, sondern wie es objektiv ist. Die Aussage, der Versicherte ist so geschützt, wie er die Arbeit antritt, ist ebenfalls diesem Verhältnis von individueller Bewertung auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage zuzuordnen: Die Ursachenbeurteilung im Einzelfall hat "anhand" des konkreten individuellen Versicherten unter Berücksichtigung seiner Krankheiten und Vorschäden zu erfolgen, aber auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes.
Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Dies wird häufig bei einem klar erkennbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, vor allem wenn es keine feststellbare konkurrierende Ursache gibt, kein Problem sein. Aber es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542
aF RVO;
BSG Urteil vom 7. September 2004 -
B 2 U 34/03 R; zu Berufskrankheiten vgl § 9 Abs 3
SGB VII). Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (stRspr BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542
aF RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr 15 zu § 1263
aF RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (
BSG SozR Nr 41 zu § 128
SGG;
BSG SozR Nr 20 zu § 542
aF RVO; BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542
aF RVO;
BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 67; Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, Kap 1.8.2, S 119 f; Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, § 128 RdNr 3c).
2. Diese Grundlagen der Theorie der wesentlichen Bedingung gelten für alle als Unfallfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen und damit auch für psychische Störungen. Die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente für sie ist ebenso wie für andere Gesundheitsstörungen möglich. Denn auch psychische Reaktionen können rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis verursacht werden (vgl schon Reichsversicherungsamt, AN 1926, 480;
BSG vom 18. Dezember 1962, BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO;
BSG vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84 -;
BSG vom 18. Dezember 1986, BSGE 61, 113 = SozR 2200 § 1252 Nr 6;
BSG vom 18. Januar 1990 - 8 RKnU 1/89 -; vgl im Übrigen Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 5.1, S 227 ff; ebenso zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 277 f = SozR Nr 174 zu § 162
SGG). Für die gegenteilige nicht begründete Auffassung der Beklagten ist kein rechtlicher Ansatzpunkt zu erkennen. Aus dem Ausschluss so genannter Schockschäden aus dem Kreis der versicherten Risiken in der privaten Unfallversicherung ist für die gesetzliche Unfallversicherung ebenso wenig herleitbar wie für das zivilrechtliche Schadensersatzrecht (vgl BGHZ 132, 341, 343 f; BGHZ 137, 142, 145; Heinrichs in Palandt, aaO, Vorb v § 249 RdNr 69 ff). Psychische Gesundheitsstörungen können nach einem Arbeitsunfall in vielfältiger Weise auftreten: Sie können unmittelbare Folge eines Schädel-Hirn-Traumas mit hirnorganischer Wesensänderung sein, sie können aber auch ohne physische Verletzungen, zB nach einem Banküberfall, entstehen, sie können die Folge eines erlittenen Körperschadens, zB einer Amputation, sein, sie können sich in Folge der Behandlung des gesundheitlichen Erstschadens erst herausbilden (vgl nur Schönberger/Mehrtens/Va lentin, aaO).
a) Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von ihnen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern (
BSG Urteil vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84; vgl
BSG Urteil vom 19. August 2003 -
B 2 U 50/02 R -). Angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglicher Schulenstreite sollte diese Feststellung nicht nur begründet sein, sondern aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (zB
ICD-10 = Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der
WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt; DSM-
IV = Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahre 1994, deutsche Bearbeitung herausgegeben von Saß/Wittchen/Zaudig, 3. Aufl 2001). Denn je genauer und klarer die bei dem Versicherten bestehenden Gesundheitsstörungen bestimmt sind, um so einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen sowie letztlich die
MdE zu bewerten. Begründete Abweichungen von diesen Diagnosesystemen aufgrund ihres Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts sind damit nicht ausgeschlossen.
Derart klar definierte Gesundheitsstörungen des Klägers sind vom
LSG nicht widerspruchsfrei festgestellt worden. Das
LSG hat einerseits die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, ohne die vom SG im seinem Urteilstenor festgestellte Unfallfolge "somatoforme Schmerzstörung mit depressiver Fehlverarbeitung" abzuändern, sondern das Vorliegen dieser Gesundheitsstörung auf S 13 seines Urteils bekräftigt. Andererseits hat es auf S 20 seines Urteils ausgeführt, der Kläger leide an einer "anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.4.
ICD-10)". Schon der rein sprachliche Vergleich zeigt, dass diese beiden Feststellungen nicht übereinstimmen, denn es ist ein - auch für einen Laien erkennbarer - Unterschied, ob eine depressive Fehlverarbeitung vorliegt oder nicht. Im Übrigen wird in der Beschreibung der
ICD-10 zu F45.4 "Anhaltende somatoforme Schmerzstörung" ausgeführt: "Schmerzzustände mit vermutlich psychogenem Ursprung, die im Verlauf depressiver Störungen ... auftreten, sollten hier nicht berücksichtigt werden." Dies verstärkt den Widerspruch zwischen den zwei vom
LSG angeführten Gesundheitsstörungen.
b) Für die im nächsten Schritt erforderliche Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den festgestellten psychischen Gesundheitsstörungen gelten die obigen allgemeinen Grundsätze (so schon
BSG vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84). Zunächst muss geprüft werden, welche Ursachen für die festgestellte(n) psychische(n) Gesundheitsstörung( en) nach der Bedingungstheorie gegeben sind, und dann in einem zweiten Schritt, ob die versicherte Ursache - das Unfallereignis - direkt oder mittelbar für diese Gesundheitsstörungen wesentlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung war.
Basis dieser Beurteilung müssen zum einen der konkrete Versicherte mit seinem Unfallereignis und seinen Erkrankungen und zum anderen der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und psychischen Gesundheitsstörungen sein.
Die Feststellung des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes mag gerade auf Gebieten, die derart in der Entwicklung begriffen sind, wie die Psychiatrie und Psychologie (vgl aktuell nur MedSach 2006, Heft 2, S 49 ff zu neuen Aspekten bei der Beurteilung psychoreaktiver und neuropsychologischer Störungen) schwierig sein, ist aber für eine objektive Urteilsfindung unerlässlich. Ausgangsbasis müssen die Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich sein (vgl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Fritze, Ärztliche Begutachtung, 6. Aufl 2001, Mehrhoff/ Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl 2005; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO; vgl speziell Venzlaff/ Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl 2004). Außerdem sind, soweit sie vorliegen und einschlägig sind, die jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften ( AWMF) zu berücksichtigen (vgl Leitlinie Somatoforme Störungen 1, AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/001; Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung,
ICD-10: F 43.1, AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/010; die nicht aktualisierte Leitlinie Ärztliche Begutachtung in der Psychosomatik und Psychotherapeutischen Medizin - Sozialrechtsfragen AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/022, jeweils im Internet unter: www. uni-duesseldorf.de/awmf). Hinzu kommen andere aktuelle Veröffentlichungen (vgl nur die Beiträge in: MedSach 2006, 49 ff sowie M. Fabra, MedSach 2006, 26 ff; V. Kaiser,
BG 2005, 679 ff; E. Wehking, MedSach 2004, 164 ff; zu ähnlichen Anforderungen bei der Beurteilung psychischer Störungen im Rentenrecht:
BSG Beschluss vom 9. April 2003 - B 5 RJ 80/02 B -). Diese verschiedenen Veröffentlichungen sind jedoch jeweils kritisch zu würdigen, zumal ein Teil der Autoren aktive oder ehemalige Bedienstete von Versicherungsträgern sind oder diesen in anderer Weise nahe stehen.
Eine bloße Literaturauswertung seitens des Gerichts dürfte zur Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in der Regel nicht genügen, weil dessen Beurteilung zumeist medizinische Fachkunde voraussetzt. Vielmehr wird die Klärung des der Ursachenbeurteilung zugrunde zu legenden, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes im Rahmen des für die Einzelfallbeurteilung ohnehin benötigten Gutachtens erfolgen können oder, wenn der Ursache-Wirkungs- Zusammenhang umstritten ist, wird ggf über ihn ein besonderes Sachverständigengutachten einzuholen sein. Andererseits wird, wenn eine bestimmte Diagnose ein Ereignis einer bestimmten Schwere voraussetzt, von einem entsprechenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auszugehen sein.
Die Klärung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes macht die Einholung von Sachverständigengutachten und die eigenständige verantwortliche Beurteilung des konkreten Einzelfalls durch einen Sachverständigen nicht entbehrlich. Dieser Erkenntnisstand ist aber die Basis für die Beurteilung des Sachverständigen, von der er nur wissenschaftlich begründet abweichen kann, und macht sein Gutachten für die Beteiligten und das Gericht transparent und nachvollziehbar. Denn auch für die Beurteilung des Einzelfalles kommt es nicht auf die allgemeine wissenschaftliche Auffassung des einzelnen Sachverständigen an, sondern den aktuellen medizinischen Erkenntnisstand.
Eine wissenschaftlich begründete Ursachenbeurteilung sowohl nach der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als auch nach der Theorie der wesentlichen Bedingung erfordert, dass neben der Feststellung der vorliegenden Gesundheitsstörungen klar festgestellt wird, worin das oder die schädigenden Ereignisse lagen: In dem Unfallereignis - vorliegend der Absturz aus 1,8 bis 2 m Höhe -, dem Gesundheitserstschaden - vorliegend die Distorsion der HWS, die Prellung der linken Schulter, die Zerrung des linken Plexus brachialis - oder der nachfolgenden Behandlung - vorliegend die unklare Behandlungssituation hinsichtlich der HWS-Operation - oder in dem Fortbestehen physischer Einschränkungen, die durch das Unfallereignis verursacht wurden. Ohne klare Feststellung des oder der schädigenden Ereignisse und der naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge hinsichtlich der geltend gemachten Gesundheitsstörung kann eine zuverlässige Ursachenbeurteilung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und in Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache nicht erfolgen. Andernfalls können die Ereignisse und Ursachen nicht zueinander in Verhältnis gesetzt und nicht in die Krankheitsgeschichte des Verletzten eingeordnet werden. Die Annahme einer Verschlimmerung ggf vorbestehender Gesundheitsstörungen durch das Unfallereignis setzt zudem voraus, dass der Vorschaden und der unfallbedingte Verschlimmerungsanteil abgrenzbar sind (BSGE 7, 53, 56;
BSG SozR 3-3100 § 10 Nr 6; Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 383; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 1.3.7.2 S 84 ff).
Diesen Anforderungen werden das Urteil des
LSG und die ihm zugrunde liegenden Gutachten nicht gerecht. Das
LSG stellt einerseits fest, dass beim Kläger keine organische Ursache für sein Schmerzerleben vorhanden sei (Urteil S 19 f); ob die Verletzung des Plexus brachialis eine psychische Reaktion ausgelöst habe, die wesentlich auf die organische Verletzung zurückzuführen sei oder ihren Grund in der allgemeinen prätraumatischen Verfasstheit des Klägers habe, wird offen gelassen ( Urteil S 21); die anfängliche unterschiedliche Beurteilung über die richtige Behandlung der Plexus brachialis-Beschwerden habe eine erhebliche - für das
LSG gesicherte - Verunsicherung des Klägers "ausgelöst", mit der die Entstehung der Schmerzstörung erklärt werden könne ( Urteil S 21). Schließlich führt das
LSG aus, es teile die "Einschätzung" von
Dr. Sch., dass die somatoforme Schmerzstörung nicht durch eine psychische Reaktion auf das unmittelbare Erleben des Unfallereignisses, sondern durch die nachfolgende, den Kläger zutiefst verunsichernde Behandlung entstanden sei (Urteil S 23).
Zwar können, wie schon ausgeführt, auch mittelbare psychische Unfallfolgen entstehen und sind entgegen der Auffassung der Beklagten, wenn sie durch den Arbeitsunfall wesentlich verursacht wurden, zu entschädigen (vgl auch § 11 Abs 1
SGB VII). Dies setzt jedoch voraus, dass jeder Teil der Ursachenkette nach den obigen Maßstäben herausgearbeitet und festgestellt wird. Vorliegend wären dies der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der vom
LSG als unmittelbar durch den Arbeitsunfall verursacht festgestellten Zerrung des linken Plexus brachialis. Der nächste Ursachenzusammenhang wäre der von der Zerrung zu den andauernden Plexus brachialis-Beschwerden. Hinsichtlich des - wie sich aus einer Gesamtschau des
LSG- Urteils ergibt - wohl folgenden Ursachenzusammenhangs zwischen diesen Beschwerden und der umstrittenen HWS-Operation fehlen jegliche Feststellungen des
LSG, sowohl bezogen auf die versicherten Ursachen als auch den ebenfalls die HWS betreffenden früheren Unfall vom 7. August 1995, der noch vom 24. September bis zum 26 Oktober 1996 zu einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers geführt hatte, als mögliche konkurrierende Ursache. Die Ausführungen des
LSG zu den weiteren Ursachenzusammenhängen von der umstrittenen HWS-Operation zu der vom
LSG festgestellten "Verunsicherung" des Klägers und schließlich der hierdurch nach Auffassung des
LSG entstandenen, nicht genau definierten somatoformen Schmerzstörung werden den aufgezeigten Anforderungen ebenfalls nicht gerecht.
Zu diesem letzten Ursachenzusammenhang fehlen im Urteil und dem ihm zugrunde liegenden Gutachten von
Dr. Sch. nähere Angaben zunächst auf der Ebene der allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen ärztlichen Behandlungen, unterschiedlichen Diagnosen sowie Behandlungsempfehlungen und dem Auftreten von psychischen Gesundheitsstörungen bei den Patienten, zumal unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaftlern bei der Beurteilung desselben Sachverhaltes - auch in der Medizin, wie nicht zuletzt zahlreiche Gutachterstreitigkeiten in Gerichtsverfahren belegen - nicht ungewöhnlich sind. Des Weiteren fehlen konkret bezogen auf den Einzelfall des Klägers Feststellungen zB zum Ausmaß seiner "Verunsicherung", zumal der Kläger nach den Feststellungen des
LSG zu einem der beiden streitenden Professoren aufgrund des früheren Unfalls ein besonderes Vertrauensverhältnis hatte, den besonderen, dem Unfallereignis zuzurechnenden Umständen, die zu dieser "Verunsicherung" führten, zum Ausmaß der "somatoformen Schmerzstörung" - war sie auf die Schulter, die HWS oder den ganzen Körper des Klägers bezogen ? - und letztlich zum individuellen konkreten Ursachenzusammenhang im vorliegenden Einzelfall.
c) Zu den vom
LSG und den Beteiligten erörterten weiteren Gesichtspunkten ist ausgehend von den aufgezeigten Grundlagen auf Folgendes hinzuweisen:
Es kann dahingestellt bleiben, ob und in welchen Konstellationen die Forderung nach einem geeigneten Unfallereignis, bei dessen Nichtvorliegen die wesentliche Verursachung einer psychischen Unfallfolge generell ausgeschlossen wird und die letztlich auf die Festlegung eines ungeeigneten Unfallereignisses abzielt, derzeit wissenschaftlich begründbar ist. Sie setzt voraus, dass es möglich ist, in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu bestimmen, bis zu welcher Intensität ein Unfall bei keinem Versicherten eine (bestimmte) psychische Unfallfolge wesentlich verursachen kann. Derartiges ist den genannten Standardwerken in dieser Absolutheit für kein Unfallgeschehen zu entnehmen (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 5.1. 9.2.2, 5.1.10, S 236 ff; M. Benz, NZS 2002, 8, 14; vgl zum Zivilrecht BGHZ 137, 142, 146 ff). Die ihr zugrunde liegende Auffassung unterscheidet außerdem nicht zwischen den zwei Prüfungsstufen Bedingungstheorie sowie Theorie der wesentlichen Bedingung und führt gegebenenfalls bei der wertenden Entscheidung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu einem Zirkelschluss.
Dies bedeutet andererseits nicht, dass die Schwere des Unfallereignisses ohne Bedeutung wäre. Vielmehr ergibt sich dessen Gewicht zunächst schon aus den oben aufgezeigten allgemeinen Grundsätzen (zum Missverhältnis zwischen Unfallereignis, Krankheitsverlauf und psychischen Reaktionen vgl
S. Brandenburg, MedSach 1997, 40, 41 f). Hinzu kommt, dass bestimmte Diagnosen ein entsprechend schweres Ereignis voraussetzen, zB erfordert das vom
LSG kurz angesprochene posttraumatische Belastungssyndrom nach der
ICD-10 F 43.1 "ein belastendes außergewöhnliches Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde".
Eine Ursachenbeurteilung auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes setzt - wie ausgeführt - voraus, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang zwischen bestimmten traumatischen Ereignissen und bestimmten psychischen Erkrankungen gibt (ebenso zum Sozialen Entschädigungsrecht der 9. Senat des
BSG in BSGE 74, 51, 53 = SozR 3-3800 § 1 Nr 3; BSGE 77, 1, 3 = SozR 3-3800 § 1 Nr 4). Dies beinhaltet entgegen der am 9. Senat geäußerten Kritik (
S. Brandenburg MedSach 1997, 40, 42; W. Keller, SGb 1997, 10, 12 f) keine Ausnahme von der Theorie der wesentlichen Bedingung oder Übernahme der Adäquanztheorie. Denn die wissenschaftlichen Erkenntnisse, aufgrund deren die Beurteilung im Einzelfall erfolgt, können nur allgemeine oder generelle sein (M. Benz, NZS 2002, 8, 12). Auch die Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache bei psychischen Gesundheitsstörungen kann keine von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen unabhängige Wertentscheidung im Einzelfall sein, sondern muss, wie auch aus den oben aufgezeigten allgemeinen Kriterien folgt, wissenschaftlich begründet sein.
Die auf der Basis dieses aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes durchzuführende Beurteilung des Einzelfalls hat in Würdigung des konkreten Versicherten zu erfolgen und darf nicht von einem fiktiven Durchschnittsmenschen ausgehen. Daher schließt eine "abnorme seelische Bereitschaft" die Annahme einer psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus (BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO;
BSG vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84 -;
BSG vom 5. August 1987 - 9b RU 36/86 - SozR 2200 § 581 Nr 26; vgl zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 278 = SozR Nr 174 zu § 162
SGG; zum Zivilrecht: BGHZ 132, 341, 345 f; BGHZ 137, 142, 145 f).
Andererseits liegt es auf der Hand, dass wunschbedingte Vorstellungen seitens des Versicherten nach einem Unfall, zB allgemein nach einem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ("Unfall als Regressionsangebot") oder konkret auf eine Verletztenrente, einen wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und nun bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen nicht zu begründen vermögen. Soweit diese Vorstellungen neben das als naturwissenschaftliche Ursache der bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen anzusehende Unfallereignis treten, sind sie als konkurrierende Ursache zu würdigen und können nach dem oben Gesagten der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der versicherten Ursache Unfallereignis und den psychischen Gesundheitsstörungen entgegenstehen (BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO;
BSG vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84 -;
BSG vom 5. August 1987 - 9b RU 36/86 - SozR 2200 § 581 Nr 26; vgl zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 278 = Nr 174 zu § 162
SGG; zum Zivilrecht: BGHZ 137, 142, 148 ff).
Aus dem rein zeitlichen Aufeinanderfolgen des Absturzunfalls, dem Ärzte-Streit über die HWS-Operation und der später auftretenden psychischen Gesundheitsstörung sowie der mangelnden Feststellung konkurrierender Ursachen kann nicht gefolgert werden, dass die psychischen Gesundheitsstörungen des Klägers wesentlich durch den Unfall verursacht wurden. Denn - wie in den Grundlagen ausgeführt - kann aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der Abwesenheit konkurrierender Ursachen bei komplexen Gesundheitsstörungen nicht automatisch auf die Wesentlichkeit der einen festgestellten naturwissenschaftlich-philosophischen Ursache geschlossen werden. Angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge und des Zusammenwirkens gegebenenfalls lange Zeit zurückliegender Faktoren, die unter Umständen noch nicht einmal dem Kläger bewusst sind, würde dies zu einer Beweislastumkehr führen, für die keine rechtliche Grundlage zu erkennen ist.
Da das
BSG die aufgezeigten notwendigen Feststellungen nicht selbst nachholen kann, ist das Urteil des
LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2
SGG). Das
LSG wird auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu ermitteln haben, an welchen Gesundheitsstörungen der Kläger, insbesondere auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet leidet und wodurch diese nach der naturwissenschaftlichen Bedingungstheorie verursacht wurden. Wenn das Unfallereignis vom 9. Oktober 1997 direkt oder vermittels eines bestimmten Erstschadens oder einer bestimmten Behandlung eine solche naturwissenschaftliche Ursache für eine bestimmte Gesundheitsstörung war, ist zu klären, ob es auch eine wesentliche Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand war. Abschließend ist für die als Unfallfolge anzuerkennende(n), durch das Unfallereignis wesentlich verursachte(n) Gesundheitsstörung(en) zu schätzen, in welcher Höhe und für welche Zeit sie zu einer
MdE im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung geführt haben.
Das
LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.