I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 24. November 2015 wird abgeändert. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für die Dauer seines Studiums im Studiengang Informatik (Bachelor) für sämtliche schriftlichen Prüfungsarbeiten und Klausuren als Nachteilsausgleich für die bei ihm vorliegende Lese- und Rechtschreibstörung eine Verlängerung der Bearbeitungszeit von 40% zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Verfahrenskosten in beiden Rechtszügen trägt der Kläger ein Viertel und die Beklagte drei Viertel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt, ihm zum Ausgleich seiner Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) für alle Prüfungen im Rahmen seines Studiums der Fachrichtung Informatik (Bachelor) an der Beklagten eine Prüfungszeitverlängerung von insgesamt 50% je Prüfung zu gewähren.
Er hat das Studium im Wintersemester 2011/2012 aufgenommen und war bis zum Sommersemester 2015 wegen Kindererziehung beurlaubt. Auf einen ersten Antrag auf Nachteilsausgleich vom 6. Oktober 2011 gewährte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 19. Oktober 2011 Nachteilsausgleich in Form der Verlängerung der Bearbeitungszeit um 10%.
Mit Antrag vom 12. Februar 2012 beantragte der Kläger eine weitergehende Verlängerung der Bearbeitungszeit von 50 bis 75%. Die Beklagte hat diesen Antrag mit Bescheid vom 19. April 2012 abgelehnt.
Nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens im ersten Rechtszug hat ihm die Beklagte eine Verlängerung der Bearbeitungszeit für schriftliche Prüfungsleistungen von 25% zugestanden. Ferner sagte sie zu, dass die Aufgabentexte klar gegliedert und strukturiert auf weißem Papier mit der Schriftgröße 16 Pt. erstellt und die Prüfungen jeweils in einem gesonderten Raum durchgeführt werden. Unter dem 9. Dezember 2015 hat sie einen Abhilfebescheid dieses Inhalts erlassen.
Im Gutachten wurde ausgeführt, dass der Kläger an einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibstörung leide. Es wurde eine deutliche Erhöhung der Lesezeit um mindestens 40% empfohlen, bei umfangreichen Texten mit entsprechender Schwierigkeit bis zu 50%. Der Sachverständige wies auf die massive Rechtschreibstörung des Klägers hin, ging jedoch auf Maßnahmen zum Nachteilsausgleich insoweit nicht ein, weil die Rechtschreibstörung nicht Gegenstand der im Beweisbeschluss formulierten Fragestellung war.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs hätten sich an der konkreten Behinderung und der jeweiligen Prüfung zu orientieren. Sie dürften nicht zu einer Überkompensation führen. Die von der Beklagten bewilligten Maßnahmen genügten, um die Chancengleichheit des Klägers mit den übrigen Prüfungsteilnehmern herzustellen. Die Prüfungen seien in ganz unterschiedlicher Weise textorientiert. Praktisch durchführbar sei nur die Gewährung eines einheitlichen Zeitzuschlags für sämtliche Prüfungen im Rahmen des Studiums. Prüfungszeit sei nicht mit Lesezeit gleichzusetzen. Vielmehr erhöhe sich die Lesezeit bei einer Verlängerung der Prüfungszeit um 25% ihrerseits um 50%. Dies entspreche der Empfehlung des Sachverständigen. Dadurch entstehende Kompensationsdefizite und Überkompensationen würden sich je nach Art der Aufgabenstellung ausgleichen und seien hinzunehmen.
Eine Rechtschreibstörung in Form der Schreibverzögerung habe der Sachverständige nicht festgestellt. Eine weitere Sachaufklärung hinsichtlich der Auswirkungen der festgestellten Rechtschreibstörung sei nicht notwendig. Die vorgelegten Aufgaben zeigten, dass ein Schreiben von Texten in nennenswertem Umfang nicht erforderlich sei. Der Nachteilsausgleich dürfe sich gerade nicht auf mögliche Fehler in der Anwendung mathematischer Formeln oder einer Programmiersprache beziehen.
Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzziel, einen Zeitzuschlag von 50% für schriftliche Prüfungsarbeiten zu bekommen, weiter. Der von der Beklagten gewährte Nachteilsausgleich sei nicht ausreichend. Das werde ein ergänzendes Sachverständigengutachten - nach Möglichkeit eine ergänzende Stellungnahme des in der ersten Instanz bestimmten Gutachters - ergeben.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 24. November 2015 und des Bescheids der Beklagten vom 19. April 2012 dem Kläger über den Abhilfebescheid vom 9. Dezember 2015 hinaus für schriftliche Prüfungsarbeiten und Klausuren auf die Dauer seines Studiums einen Zeitzuschlag von 50% zu gewähren.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
In der mündlichen Verhandlung am 6. Juli 2017 wurde für den Fall der Ablehnung des vom Verwaltungsgerichtshof vorzuschlagenden Vergleichs (Beschluss vom 21. September 2017), der vom Kläger abgelehnt worden ist, von allen Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung verzichtet.
Im Hinblick auf die mündliche Verhandlung am 19. Oktober 2017 und unter dem 2. Oktober 2018 hat der Sachverständige zu seinem im ersten Rechtszug eingeholten Gutachten ergänzend Stellung genommen. Auf die ergänzenden Stellungnahmen wird verwiesen.
Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich als Vertreter des öffentlichen Interesses - ohne einen eigenen Antrag zu stellen - beteiligt.
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Rechtszügen sowie die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Der Verwaltungsgerichtshof entscheidet gemäß § 101
Abs. 2
VwGO ohne weitere mündliche Verhandlung.
Auf die zulässige Berufung hin war das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 24. November 2015 abzuändern. Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache teilweise Erfolg. Der Kläger hat wegen der Lese- und Rechtschreibstörung, unter der er leidet, einen Anspruch auf Nachteilsausgleich in Form der Verlängerung der Bearbeitungszeit für die bei sämtlichen schriftlichen Prüfungen und Klausuren gestellten Aufgaben in Höhe von 40%.
Der Kläger hat wegen der Lese- und Rechtschreibstörung, die ihm in dem im ersten Rechtszug eingeholten Sachverständigen-Gutachten attestiert worden ist, gemäß § 5
Abs. 1 Satz 1 der Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen (RaPO) vom 17. Oktober 2001 (GVBl
S. 686, BayRS 2210-4-1-4-1-WFK), zuletzt geändert durch Verordnung vom 6. August 2010 (GVBl
S. 688), Anspruch auf Gewährung von Nachteilsausgleich, soweit dies zur Herstellung der Chancengleichheit erforderlich ist. Der Nachteilsausgleich darf jedoch nicht zu einer Überkompensierung von Prüfungsbehinderungen und damit zu einer Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer führen. Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs haben sich an der konkreten Behinderung und der jeweiligen Prüfung zu orientieren (BayVGH, B.v. 28.6.2012 -
7 CE 12.1324 - juris Rn. 25).
Aufgrund der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen vom 2. Oktober 2018 steht zur Überzeugung des Senats fest, dass zum Ausgleich der beim Kläger bestehenden Lese- und Rechtschreibstörung eine Verlängerung der Bearbeitungszeit von schriftlichen Prüfungen und Klausuren von 40% erforderlich, aber auch ausreichend ist. Dies trifft auf alle Prüfungs- und Klausurtypen zu, unabhängig von weiteren Maßnahmen zum Ausgleich des Nachteils. In der Antwort auf Frage
Nr. 4 führt der Sachverständige aus, dass andere Ausgleichsmaßnahmen die Verlängerung der Bearbeitungszeit nicht kompensieren könnten.
Die Erhöhung der Bearbeitungszeit um 40% ist aber auch hinreichend.
Auf die Frage des Senats, ob eine Bearbeitungszeitverlängerung von 50% unabdingbar zum Ausgleich des Nachteils erforderlich ist, ist der Sachverständige bei seiner Empfehlung in der ergänzenden Stellungnahme vom 19. Oktober 2017, die Bearbeitungszeit um mindestens 40% zu verlängern, geblieben. Auch wenn er meint, dass eine höhere Verlängerung in Betracht zu ziehen sei, hat er die Frage des Senats, ob die beantragte Prüfungszeitverlängerung von 50% erforderlich sei, nicht bejahen können, auch nicht im Hinblick auf Besonderheiten der Aufgabenstellung. Auf weitere Frage, ob eine geringere (als 50%) Verlängerung der Bearbeitungszeit gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Maßnahmen unabdingbar erforderlich ist, hat er ausgeführt, dass eine geringere Verlängerung der Arbeitszeit als 40% in keinem Fall gerechtfertigt sei. Er hat aber auch keine höhere Verlängerung der Bearbeitungszeit gefordert.
Auch seine Antwort auf Frage
Nr. 4 in der ergänzenden Stellungnahme vom 2. Oktober 2018, dass andere Ausgleichsmaßnahmen die Verlängerung der Bearbeitungszeit von mindestens 40%
bzw. wie beantragt 50% nicht zu kompensieren vermögen, lässt nicht darauf schließen, dass eine höhere Arbeitszeitverlängerung als 40% erforderlich ist. Die Erwähnung der 50%igen Bearbeitungszeitverlängerung ist der Fragestellung geschuldet, die dahin ging, ob alternativ zu der beantragten Verlängerung der Bearbeitungszeit von 50% oder
ggf. einer geringeren Bearbeitungszeitverlängerung andere Ausgleichsmaßnahmen hinreichend sein könnten. Indem er auch hier auf seinen Vorschlag einer Verlängerung um 40% Bezug nimmt und nur im Hinblick auf die Fragestellung die vom Kläger beantragte Verlängerung um 50% erwähnt, zeigt sich, dass er eine Bearbeitungszeitverlängerung von 40% für die geeignete Ausgleichsmaßnahme hält.
Insgesamt lässt sich der Stellungnahme entnehmen, dass eine Arbeitszeitverlängerung um 50% nicht erforderlich ist, vielmehr eine wie vom Sachverständigen schon früher vorgeschlagene Verlängerung der Bearbeitungszeit um 40% ausreicht. Eine für alle Fälle exakt zutreffende Verlängerung der Bearbeitungszeit lässt sich nicht bestimmen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in Einzelfällen bestehende Kompensationsdefizite ebenso wie Überkompensationen möglich sind. In Anbetracht der unterschiedlichen Aufgabenstellungen werden sie sich jedoch ausgleichen und sind hinzunehmen.
Weil der Klageantrag allein auf eine Verlängerung der Bearbeitungszeit um 50% gerichtet ist, war auf weitere Maßnahmen zum Nachteilsausgleich nicht einzugehen. Insoweit ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Abhilfebescheid vom 9. Dezember 2015 mit Ausnahme der dort gewährten Verlängerung der Bearbeitungszeit um 25% weiter in Kraft ist und dem Kläger eine klare Gliederung und Strukturierung der Aufgabentexte auf weißem Papier mit der Schriftgröße 16 Pt. zugesteht sowie, dass er jeweils in einem gesonderten Raum die Prüfung ablegen kann.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155
Abs. 1 Satz 1
VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167
VwGO i.V.m. § 709
ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132
Abs. 2
VwGO nicht vorliegen.