Die Farbe spielt im täglichen Leben, insbesondere bei der Haushaltsführung, eine große Rolle. Denken wir nur an die Auswahl und Zusammenstellung von Kleidungsstücken, an das Sortieren der Wäsche oder das Identifizieren verpackter Lebensmittel. Die Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Für viele blinde Menschen bedeutete deshalb ein Farberkennungsgerät eine große Hilfe. Weil dieses Gerät die Folgen der gegebenen Behinderung in einem wesentlichen Bereich ausgleicht, lag es nahe, die Kostenübernahme bei den gesetzlichen Krankenkassen zu beantragen. Diese stellten sich jedoch auf den Standpunkt, daß es sich bei einem Farberkennungsgerät um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelte, so daß ihre Zuständigkeit nicht gegeben sei. Das Sozialgericht Köln bejahte in seinem Urteil vom 16. Novembert 1992 - Az.: S 19 Kr 78/92 - die Hilfsmitteleigenschaft und gab wegen der vielseitigen Verwendbarkeit der Klage einer blinden Hausfrau statt. Die Krankenkasse legte Berufung ein. Zur Begründung führte sie aus, daß das Erkennen von Farben kein elementares Grundbedürfnis sei. Außerdem könne die 16jährige sehende Tochter im Haushalt helfen. Hier sei daran erinnert, daß die Krankenkassen auch in den Streitigkeiten um die Versorgung Blinder mit Lesegeräten immer wieder auf die Hilfe durch Angehörige verwiesen hatten.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hob mit Urteil vom 10. November 1994 - Az.: L 16 Kr 30/93 - das Urteil des Sozialgerichts Köln auf, weil es die einzelnen Anwendungsmöglichkeiten für sich betrachtet für unwesentlich hielt. Die Richter hielten es nicht für so schlimm, wenn ein Blinder mit verschiedenfarbigen Strümpfen durch die Gegend laufe oder wenn sich falsch sortierte Wäsche in der Waschmaschine verfärbt.
Das Bundessozialgericht (
BSG) bejahte in seinem Urteil vom 17. Januar 1996 die Leistungspflicht der Krankenkassen. Es hat auf die Revision der Klägerin hin das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein- Westfalen vom 10. November 1994 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 16. November 1992 zurückgewiesen. Das ursprüngliche positive Urteil war damit wiederhergestellt.
Maßgebend für die Anerkennung als Hilfsmittel war, daß das Farberkennungsgerät der Befriedigung von Grundbedürfnissen dient. Zu den Grundbedürfnissen gehört, wie das
BSG ausführt, "ganz allgemein die Schaffung eines körperlichen und geistigen Freiraums ... Zu diesem Freiraum zählt auch die Fähigkeit, sich selbständig und möglichst ohne fremde Hilfe im eigenen Umfeld orientieren, zurechtfinden und bewegen zu können." Weil ein Blinder in diesen Bereichen wesentlich behindert ist und das Farberkennungsgerät hilft, diese Einschränkungen wenigstens teilweise auszugleichen, dient es der Gewinnung des geistigen und körperlichen Freiraums.
Das Bundessozialgericht bejaht wegen der vielseitigen Einsatzmöglichkeit für das Farberkennungsgerät die Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit im Sinne von § 12
SGB V. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hatte in seinem negativen Urteil die einzelnen Anwendungen,
z. B. das Wäschesortieren, betrachtet und den Nutzen bei dieser Sichtweise für gering erachtet. Dazu stellt das Bundessozialgericht fest: "Die vom Sozialgericht und Landessozialgericht aufgezeigten vielfältigen Anwendungsfälle ... mögen jeweils für sich genommen die Einstufung des Farberkennungsgerätes als für einen blinden Menschen möglicherweise nur zweckmäßig, aber nicht notwendig rechtfertigen. Maßgeblich kann hierbei aber nur eine Gesamtschau, eine Würdigung der Gesamtheit der Anwendungsmöglichkeiten sein. In der Gesamtschau muß das Farberkennungsgerät als notwendiges Hilfsmittel angesehen werden."
Damit wurde anerkannt, daß ein Hilfsmittel, das in vielen kleinen Dingen und bei unterschiedlichsten Gelegenheiten hilft, dadurch zu einer großen Hilfe wird. Eine wesentliche Erleichterung für Blinde sah das Bundessozialgericht darin, daß eine an die Grenze des Unzumutbaren reichende Belastung des Gedächtnisses durch den Einsatz des Farberkennungsgerätes entfallen kann.
Der Verweisung auf Angehörige, hier auf die 16jährige Tochter, tritt das Bundessozialgericht entgegen. Eine Verpflichtung Angehöriger zur unentgeltlichen Mithilfe ist im Krankenversicherungsrecht nur eingeschränkt möglich,
z.B. wenn eine beitragsfreie Mitversicherung besteht. Selbst die sich aus der familienrechtlichen Mitwirkungspflicht im Haushalt nach § 1619 ergebende Verpflichtung zur Hilfe reicht zur Verweisung auf Angehörige nicht aus, "denn eine solche Heranziehung kann grundsätzlich ... nur für jene Zeiten gelten, in denen die Tochter anwesend ist. Der Hilfebedarf der Klägerin bei der Erkennung und Unterscheidung von Gegenständen ist potentiell aber immer vorhanden; er kann jederzeit akut werden und läßt sich bei Abwesenheit der Tochter nur in wenigen Fällen auf Zeiten verschieben, in denen die Tochter wieder anwesend ist und zur Hilfestellung bereitsteht."
Schließlich und endlich bejaht das Bundessozialgericht die Wirtschaftlichkeit des Farberkennungsgerätes, weil die gewonnenen Informationen über die Farbe von Gegenständen und die dadurch erzielte Erleichterung bedeutsam wird, wenn das Hilfsmittel täglich 5 bis 10 mal benutzt wird.
Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat die auch in den Urteilen zum Lese-Sprech-Gerät vom 23. August 1995 ( Az.: 3 RK 6/ 95, 3 RK 7/95 und 3 RK 8/95) enthaltenen Grundsätze erfreulicherweise konsequent auf das Farberkennungsgerät, das ja auch Information vermittelt und damit hilft, geistigen Freiraum zu gewinnen, angewandt. Vor allem für Blinde, die selbständig ihren Haushalt bewältigen müssen, ist diese Entscheidung sehr zu begrüßen.
Herbert Demmel, horus 4/96,
S. 152-153