Urteil
Krankenversicherung - Hilfsmittel - Kein Anspruch auf Kostenübernahme für ein Elektromobil zusätzlich zum bereits vorhandenen Elektrorollstuhl - Grundbedürfnis Einkaufen - Transport des Einkaufs

Gericht:

LSG Essen 5. Senat


Aktenzeichen:

L 5 KR 47/98


Urteil vom:

18.05.1999


Grundlage:

Orientierungssatz:

1. Das selbständige Einkaufenkönnen mittels eines Elektromobils gehört nicht zu den im Rahmen des § 33 SGB V relevanten Grundbedürfnissen.

Rechtsweg:

SG Dortmund, Urteil vom 31.03.1998 - S 26/12 KR 77/97
BSG, Urteil vom 03.11.1999 - B 3 KR 15/99 R

Quelle:

JURIS-GmbH
Justizportal des Landes NRW

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 31.03.1998 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Versorgung des Klägers mit einem Elektromobil als Hilfsmittel.

Der ... geborene Kläger bezieht wegen zahlreicher Gesundheitsstörungen von Seiten des Stütz- und Bewegungsapparates sowie internistischer Leiden (u.a. Unterlappenresektion links, Herzleistungsschwäche) bereits seit Oktober 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Versorgungsamt hat einen GdB von 100 festgestellt. Aufgrund einer Verordnung des als Vertragsarzt zugelassenen Arztes für Allgemeinmedizin Dr. M. bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 23.08.1996 die Versorgung des Klägers mit einem Elektrorollstuhl durch leihweise Überlassung eines Rollstuhls der Firma O. Unter dem 05.09.1996 verordnete Dr. M. einen "Elektrorollstuhl" Euro-Star von M. mit dem Zusatz "für selbständigen Einkauf erforderlich". Der Kläger führte insoweit gegenüber der Beklagten (Schreiben vom 24.09.1996) aus, für den ihm zur Verfügung gestellten Rollstuhl der Firma O. gebe es keine Anbauteile. Um ein selbständiges Leben führen zu können, habe er sich daher den Euro-Star verordnen lassen, da er mit dem zur Verfügung stehenden Rollstuhl keinen Kasten Sprudel holen könne. Dem Kläger wurde telefonisch erklärt, das das begehrte Fahrzeug nicht zur Verfügung gestellt werden könne und man den Vorgang an den Sozialhilfeträger abgebe. Mit Bescheid vom 13.01.1997 lehnte der Beigeladene als überörtlicher Träger der Sozialhilfe die begehrte Versorgung ab, da die Krankenkasse verpflichtet sei, einen Rollstuhl zur Verfügung zu stellen, der den notwendigen Bedarf in vollem Umfang abdecke. Der hiergegen eingelegte Widerspruch des Klägers ist mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 15.07.1997 zurückgewiesen worden.

Mit Schreiben vom 17.01.1997 wandte sich der Kläger erneut an die Beklagte und wies auf den ablehnenden Bescheid des Sozialhilfeträgers hin. Er übersandte ein Prospekt der Firma G. zu Elektromobilen, wobei er das von ihm gewünschte Modell Vital-Komfort bezeichnete. Mit Bescheid vom 23.01.1997 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Versorgung des Klägers sei mit dem zur Verfügung gestellten Rollstuhl sichergestellt. Der in der Verordnung von Dr. M. angegebene "Elektrorollstuhl" sei nicht als Hilfsmittel im Sinne der GKV anerkannt. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er benötige das verlangte Elektromobil zur Beförderung von Gütern wie beispielsweise eingekauften Lebensmitteln, wozu auch ein Kasten Mineralwasser zähle. Deren Beförderung sei mit einem Rollstuhl nicht möglich. Außerdem habe er durch eine Einkaufsvorrichtung vorne die Ware ständig unter Kontrolle. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Eine Einkaufsvorrichtung sei keine Leistung der Krankenversicherung, da das Nichteinkaufenkönnen infolge einer Behinderung kein von den Krankenkassen auszugleichender Nachteil sei.

Vor dem Sozialgericht hat der Kläger unter Wiederholung seines Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren die Auffassung vertreten, auch das selbständige Einkaufen zähle zu den im Rahmen des § 33 SGB V zu berücksichtigenden Grundbedürfnissen.

Mit Urteil vom 31.03.1998 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß zur Versorgung mit dem von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung beantragten Modell "Shoprider 4-Rad" verurteilt. Es hat die Auffassung vertreten, auch die Beschaffung von Lebensmitteln zähle zu den allgemeinen Grundbedürfnissen, die von den Krankenkassen sicherzustellen seien.

Mit ihrer Berufung tritt die Beklagte dieser Auffassung des Sozialgerichts entgegen. Ferner meint sie, Elektromobile seien grundsätzlich kein geeignetes Hilfsmittel. Sie hat insoweit auf Kriterien des MDS zur Abgrenzung von Elektrorollstühlen und Elektromobilen verwiesen.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 31.03.1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass ein Elektromobil für Gehbehinderte in vollem Umfang die Funktion als Mobilitätshilfe erfülle. In seinem Fall sei ein solches Hilfsmittel sogar billiger als ein Elektrorollstuhl. Das Einkaufen zähle entgegen der Auffassung der Beklagten zu den im Rahmen der GKV zu befriedigenden Grundbedürfnissen.

Der Beigeladene, der keinen Antrag gestellt hat, verweist auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Der Senat hat eine Auskunft des IKK-Bundesverbandes zur Aufnahme von Elektromobilen in das Hilfsmittelverzeichnis eingeholt; insoweit wird auf Bl. 120 bis 139 GA verwiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Elektromobil zu Lasten der Beklagten bejaht.

Das begehrte Elektromobil ist nicht als Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 SGB V von der Beklagten zur Verfügung zu stellen. Nach dieser Norm haben Versicherte als Teil der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V wegen geringen Abgabepreises oder geringem oder umstrittenem therapeutischem Nutzen ausgeschlossen sind. Für den hier allein in Betracht kommenden Bereich des Behinderungsausgleiches ist der Hilfsmittelbegriff erfüllt, wenn fehlende Körperteile ersetzt oder beeinträchtigte bzw. ausgefallene Körperfunktionen ganz oder teilweise wiederhergestellt, ermöglicht, ersetzt, ergänzt oder wesentlich erleichtert werden. Dabei muss die ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion nicht unmittelbar ersetzt oder verbessert werden, es genügt auch der indirekte Ausgleich über eine andere Körperfunktion (siehe etwa BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26; eingehend Berstermann in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 33 Rdnrn. 47 ff.). Soweit das in Frage stehende Mittel die Organfunktion nur mittelbar oder teilweise ersetzt, ist es als Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung nur erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Diese Grundbedürfnisse umfassen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG neben der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse auch die geistige Betätigung, so dass im Rahmen der GKV Mittel zur Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zur Verfügung zu stellen sind (vgl. zuletzt BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 27, 29, 30; siehe auch Berstermann, a.a.O. Rdnrn. 52 ff.).

Somit gehört zwar grundsätzlich die Möglichkeit, Wegstrecken ohne Hilfe Dritter zurücklegen zu können, zu den Grundbedürfnissen. Das BSG hat insoweit in den Urteilen vom 06.08.1998 (u.a. SozR 3-2500 § 33 Nr. 29) klargestellt, dass das Grundbedürfnis der "Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums" nicht im Sinne der vollständigen Gleichstellung mit den Mobilitätsmöglichkeiten eines Gesunden zu verstehen ist. Die Krankenkassen müssen einerseits nicht die Zurücklegung von Entfernungen ermöglichen, die über zu Fuß erreichbare Strecken hinausgehen (so jetzt wohl BSG, a.a.O.; offengelassen in SozR 3-2500 § 33 Nrn. 7, 27). Auf der anderen Seite müssen sie auch nicht alle Betätigungen ermöglichen, für die die Mobilität Voraussetzung ist.

Nach Auffassung des Senats zählt das selbständige Einkaufenkönnen nicht zu den im Rahmen des § 33 SGB V relevanten Grundbedürfnissen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Nahrungsbeschaffung von dem Grundbedürfnis Nahrungsaufnahme zu unterscheiden. Der Einkauf von Lebensmitteln ist keineswegs notwendige Voraussetzung der Befriedigung des Grundbedürfnisses Nahrungsaufnahme. Dies zeigt schon die Überlegung, dass fertige Mahlzeiten in die Wohnung geliefert werden ("Essen auf Rädern") und die Hauslieferung eingekaufter Ware von manchen Geschäften als Service angeboten wird.

Soweit überhaupt das Einkaufen des täglichen Bedarfs als (eigenes) Grundbedürfnis anzuerkennen ist (in diesem Sinne offenbar BSG, Urteil vom 06.08.1998 - B 3 KR 8/97 R, S. 7 des Urteils; anders wohl LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.06.1997 - L 1 KR 85/96, S. 9 des Urteils) kann es nur darum gehen, dass die entsprechenden Geschäfte erreicht werden könnten. Das Bewerkstelligen des Einkaufes selbst zählt dagegen nicht zu diesem Grundbedürfnis. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die Wiederherstellung der Gesundheit einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges. Die Körperfunktion muss insoweit wiederhergestellt werden, um dem Versicherten ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Soweit es um den Ausgleich der Nachteile auf beruflichem, gesellschaftlichem oder auch nur privatem Bereich geht, ist die Zuständigkeit anderer Sozialleistungsträger bzw. der Sozialhilfeträger gegeben (ständige Rechtsprechung, zuletzt BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29, 30). Die Hilfsmittelversorgung im Rahmen des § 33 SGB V ist daher auf die elementare Lebensbetätigung im Rahmen der Grundbedürfnisse beschränkt. Dies wird bei der Forderung, der (Ab)transport gekaufter Ware müsse von den Krankenkassen ermöglicht werden, verkannt. Wie der Behinderte seine Einkäufe erledigt, ob in Geschäften mit Selbstbedienung, die das Herausnehmen von Waren aus den Regalen und deren Transport im Geschäft erfordern, oder in Geschäften mit Bedienung, in denen das Personal nicht nur die Ware reicht, sondern auch beim Einpacken behilflich sein kann, oder ob der Behinderte sogar die von manchen Geschäften angebotene Möglichkeit nutzt, sich gekaufte Ware nach Hause liefern zu lassen, betrifft die eigene Gestaltung der Lebensführung. Die Krankenkassen können nicht verpflichtet sein, insoweit den individuellen Wünschen der Versicherten nach speziellen Ausstattungen Rechnung zu tragen, zumal dabei eine sachliche begründbare Grenzziehung nicht möglich erscheint.

Der Kläger besitzt einen von der Beklagten zur Verfügung gestellten Elektrorollstuhl, so dass auch das Grundbedürfnis Einkaufen im oben genannten Sinne sichergestellt ist. Für eine über das Einkaufen hinausgehende Nutzungsmöglichkeit benötigt der Kläger nach seinem eigenen Vortrag das Elektromobil nicht. Soweit er mit dem zur Verfügung gestellten Rollstuhl unzufrieden ist, hat ihm die Beklagte angeboten, gegebenenfalls ein besser geeignetes Modell auswählen zu können. Da somit der Versorgungsanspruch des Klägers jedenfalls an der Erforderlichkeit des Elektromobils scheitert, kann dahinstehen, ob Elektromobile wegen ihrer Bauart entsprechend der Auffassung der Spitzenverbände grundsätzlich nicht als Hilfsmittel in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Frage nach der Reichweite der Grundbedürfnisse grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Referenznummer:

KSRE076510318


Informationsstand: 06.01.2015