Urteil
Kein Anspruch auf Versorgung mit einem Elektromobil anstelle eines Elektrorollstuhls als Hilfsmittel - Grundbedürfnis einkaufen

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 5. Senat


Aktenzeichen:

L 5 KR 74/98


Urteil vom:

18.05.1999


Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18.06.1998 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Versorgung der Klägerin mit einem Elektromobil als Hilfsmittel.

Bei der 1944 geborenen Klägerin besteht ein Zustand nach Poliomyelitis im Kindesalter, wobei die unteren Extremitäten weitgehend gebrauchsunfähig sind. Zudem sind Funktionsdefizite an den oberen Extremitäten zu verzeichnen, die Beweglichkeit im Bereich beider Schultergelenke ist eingeschränkt. Wegen der weitgehenden Gebrauchsunfähigkeit der unteren Extremitäten ist die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen, wobei sie wegen der deutlichen Minderbelastbarkeit von Armen und Händen häufig nicht in der Lage ist, Wege innerhalb der Wohnung selbständig zurückzulegen. Von Seiten des Versorgungsamtes ist ein GdB von 100 anerkannt mit den Nachteilsmerkmalen "aG, RF, H, G". Die Klägerin erhält seit dem 01.07.1996 Pflegeleistungen nach dem SGB XI, nach eigener Angabe ist sie inzwischen in Pflegestufe II eingestuft.

Am 19.08.1996 beantragte die Klägerin unter Übersendung eines Angebots eines Hilfsmittellieferanten die Versorgung mit einem Elektromobil (Scooter) "Eurostar". Beigefügt war eine ärztliche Bescheinigung des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. M. vom 05.08.1996, in der er ausführt, aufgrund ihrer Erkrankungen sei die Klägerin auf einen elektrischen Rollstuhl mit Verladerampe angewiesen. Mit Schreiben vom 09.09.1996 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dem Antrag könne nicht entsprochen werden, da es sich bei dem beantragten Fahrzeug nicht um ein Krankenfahrzeug handele. Die beantragte Fahrzeugart sei nicht an die individuelle Behinderung anpassbar, ein solches Fahrzeug sei aufgrund des fehlenden Baukastensystems nicht für den Wiedereinsatz geeignet. Auf den Widerspruch der Klägerin führte die Beklagte mit Schreiben vom 31.10.1996 aus, das Schreiben vom 09.09.1996 stelle nicht einen ablehnenden Bescheid dar, es handele sich lediglich um eine Information, aus welchen Gründen die begehrte Versorgung mit einem Elektromobil ausscheide. Sie sei bereit, die Klägerin mit einem Elektrokrankenfahrzeug zu versorgen und habe einen Hilfsmittellieferanten mit der Anpassung und ggf. Lieferung beauftragt. Ein Mitarbeiter des beauftragten Lieferanten suchte die Klägerin auf, in einem Bericht vom 20.11.1996 heißt es dazu, nach Prüfung der Behinderung und der äußeren Umgebung habe der Außendienstmitarbeiter einen Elektrofahrer der Firma M. für ausreichend gehalten. Die Klägerin habe bei dem Gespräch jedoch darauf bestanden, ausschließlich mit einem 4-Rad der Firma O. oder der Firma I. versorgt zu werden.

Mit Bescheid vom 02.11.1996 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab, da ein Elektromobil nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt werde. Die Klägerin legte telefonisch Widerspruch ein, über den ein Aktenvermerk gefertigt wurde. Mit Schreiben vom 15.01.1997 hielt sie ihren Widerspruch aufrecht. Sie machte geltend, die Firma M. führe keine Rollstühle in ihrem Sortiment, die über einen Einkaufskorb vorn verfügten. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Versorgung mit einem Elektromobil verlangt, das mit einem Einkaufskorb ausgestattet ist, der sich in ihrem Zugriffs- und Sichtbereich befindet. Sie hat dazu vorgetragen, ein solches Fahrzeug sei für ihre eigene unabhängige Lebensführung notwendig, da sie nicht in der Lage sei, einen Transportbehälter, der sich hinter ihr befinde, zu beschicken. Außerdem bestehe in diesem Fall eine Diebstahlsgefahr. Das Hilfsmittel stehe ihr unabhängig davon zu, dass bei den von ihr bezogenen Leistungen nach dem SGB XI im Rahmen der hauswirtschaftlichen Versorgung auch das Einkaufen berücksichtigt werde. Die begehrte Versorgung sei notwendig, um unabhängig von der Pflegekraft selbständig einkaufen zu können.

Mit Urteil vom 18.06.1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat zwar den selbständigen Einkauf zu den im Rahmen des § 33 SGB V zu befriedigenden Grundbedürfnissen gezählt, aber gemeint, die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses sei durch die Zahlung des Pflegegeldes sichergestellt.

Im Berufungsverfahren wiederholt die Klägerin ihren bisherigen Vortrag. Sie meint weiterhin, ihr müsse das selbständige Einkaufen unabhängig von Dritten ermöglicht werden. Da sie an einer schweren Schultergelenkarthrose leide, sei sie insoweit auf einen Einkaufskorb im Frontbereich des Fahrzeugs angewiesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18.06.1998 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 09.09.1996 und 02.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.1997 zu verurteilen, ihr - der Klägerin - ein Elektromobil Shoprider 4-Rad zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat ein Gutachten des MDK (Dr. H.) vom 08.03.1999 vorgelegt, in dem Dr. H. zu dem Ergebnis kommt, dass die Klägerin ein fremdkraftbetriebenes Hilfsmittel benötige, wobei aus medizinischer Sicht die Versorgung mit einem Elektromobil nicht sinnvoller oder zweckmäßiger sei als ein Elektrorollstuhl.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten und der beigezogenen Streitakte SG Dortmund S 22 P 46/96 verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Dortmund, Urteil vom 18.06.1998 - S 26 (12) KR 19/97
BSG, Urteil vom 03.11.1999 - B 3 KR 16/99 R

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Elektromobil zu Lasten der Beklagten.

Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass die telefonische Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 02.12.1996 nicht der von § 84 Abs. 1 SGG vorgeschriebenen Form entsprochen hat (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 84 Rd.-Nr. 3 a). Der Einlegung eines Widerspruchs gegen diesen Bescheid bedurfte es nämlich nicht, da bereits das Schreiben der Beklagten vom 09.09.1996 als Bescheid im Sinne des § 31 SGB X zu qualifizieren war. Die Beklagte hat schon in diesem Schreiben eindeutig und unmissverständlich die beantragte Versorgung mit einem Elektromobil abgelehnt. Diesen Bescheid hat die Klägerin rechtzeitig angefochten. Der Bescheid vom 02.12.1996 war somit gemäß § 86 Abs. 1 SGG Gegenstand des bereits anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden, der erneuten Einlegung eines Widerspruchs bedurfte es somit nicht.

Das begehrte Elektromobil ist nicht als Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 SGB V von der Beklagten zur Verfügung zu stellen. Nach dieser Norm haben Versicherte als Teil der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V wegen geringen Abgabepreises oder geringem oder umstrittenem therapeutischem Nutzen ausgeschlossen sind. Für den hier allein in Betracht kommenden Bereich des Behinderungsausgleiches ist der Hilfsmittelbegriff erfüllt, wenn fehlende Körperteile ersetzt oder beeinträchtigte bzw. ausgefallene Körperfunktionen ganz oder teilweise wiederhergestellt, ermöglicht, ersetzt, ergänzt oder wesentlich erleichtert werden. Dabei muss die ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion nicht unmittelbar ersetzt oder verbessert werden, es genügt auch der indirekte Ausgleich über eine andere Körperfunktion (siehe etwa BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26; eingehend Berstermann in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 33 Rdnrn. 47 ff.). Soweit das in Frage stehende Mittel die Organfunktion nur mittelbar oder teilweise ersetzt, ist es als Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung nur erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Diese Grundbedürfnisse umfassen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG neben der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse auch die geistige Betätigung, so dass im Rahmen der GKV Mittel zur Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zur Verfügung zu stellen sind (vgl. zuletzt BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 27, 29, 30; siehe auch Berstermann, a.a.O. Rdnrn. 52 ff.).

Somit gehört zwar grundsätzlich die Möglichkeit, Wegstrecken ohne Hilfe Dritter zurücklegen zu können, zu den Grundbedürfnissen. Das BSG hat insoweit in den Urteilen vom 06.08.1998 (u.a. SozR 3-2500 § 33 Nr. 29) klargestellt, dass das Grundbedürfnis der "Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums" nicht im Sinne der vollständigen Gleichstellung mit den Mobilitätsmöglichkeiten eines Gesunden zu verstehen ist. Die Krankenkassen müssen einerseits nicht die Zurücklegung von Entfernungen ermöglichen, die über zu Fuß erreichbare Strecken hinausgehen (so jetzt wohl BSG, a.a.O.; offengelassen in SozR 3-2500 § 33 Nrn. 7, 27). Auf der anderen Seite müssen sie auch nicht alle Betätigungen ermöglichen, für die die Mobilität Voraussetzung ist.

Nach Auffassung des Senats zählt das selbständige Einkaufenkönnen nicht zu den im Rahmen des § 33 SGB V relevanten Grundbedürfnissen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Nahrungsbeschaffung von dem Grundbedürfnis Nahrungsaufnahme zu unterscheiden. Der Einkauf von Lebensmitteln ist keineswegs notwendige Voraussetzung der Befriedigung des Grundbedürfnisses Nahrungsaufnahme. Dies zeigt schon die Überlegung, dass fertige Mahlzeiten in die Wohnung geliefert werden ("Essen auf Rädern") und die Hauslieferung eingekaufter Ware von manchen Geschäften als Service angeboten wird.

Soweit überhaupt das Einkaufen des täglichen Bedarfs als (eigenes) Grundbedürfnis anzuerkennen ist (in diesem Sinne offenbar BSG, Urteil vom 06.08.1998 - B 3 KR 8/97 R, S. 7 des Urteils; anders wohl LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.06.1997 - L 1 KR 85/96, S. 9 des Urteils) kann es nur darum gehen, dass die entsprechenden Geschäfte erreicht werden können. Das Bewerkstelligen des Einkaufes selbst zählt dagegen nicht zu diesem Grundbedürfnis. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die Wiederherstellung der Gesundheit einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges. Die Körperfunktion muss insoweit wiederhergestellt werden, um dem Versicherten ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Soweit es um den Ausgleich der Nachteile auf beruflichem, gesellschaftlichem oder auch nur privatem Bereich geht, ist die Zuständigkeit anderer Sozialleistungsträger bzw. der Sozialhilfeträger gegeben (ständige Rechtsprechung, zuletzt BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29, 30). Die Hilfsmittelversorgung im Rahmen des § 33 SGB V ist daher auf die elementare Lebensbetätigung im Rahmen der Grundbedürfnisse beschränkt. Dies wird bei der Forderung, der (Ab)transport gekaufter Ware müsse von den Krankenkassen ermöglicht werden, verkannt. Wie der Behinderte seine Einkäufe erledigt, ob in Geschäften mit Selbstbedienung, die das Herausnehmen von Waren aus den Regalen und deren Transport im Geschäft erfordern, oder in Geschäften mit Bedienung, in denen das Personal nicht nur die Ware reicht, sondern auch beim Einpacken behilflich sein kann, oder ob der Behinderte sogar die von manchen Geschäften angebotene Möglichkeit nutzt, sich gekaufte Ware nach Hause liefern zu lassen, betrifft die eigene Gestaltung der Lebensführung. Die Krankenkassen können nicht verpflichtet sein, insoweit den individuellen Wünschen der Versicherten nach speziellen Ausstattungen Rechnung zu tragen, zumal dabei eine sachliche begründbare Grenzziehung nicht möglich erscheint.

Die Klägerin verfügt zwar derzeit nicht über einen Elektrorollstuhl. Die Beklagte hat der Klägerin aber die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl angeboten, den die Klägerin abgelehnt hat. Im Gutachten des MDK wird bestätigt, dass aus ärztlicher Sicht ein Elektromobil im Hinblick auf die vorliegenden Behinderungen keine Vorteile bietet. Mit dem angebotenen Krankenfahrzeug ist auch das Grundbedürfnis Einkaufen im oben genannten Sinne sichergestellt. Somit scheitert der Versorgungsanspruch der Klägerin jedenfalls an der Erforderlichkeit des Elektromobils, so dass dahinstehen kann, ob Elektromobile wegen ihrer Bauart grundsätzlich nicht als Hilfsmittel in Betracht kommen. Ebenso bedarf keiner Entscheidung, ob entsprechend der Auffassung des Sozialgerichts aufgrund der Leistungen nach dem SGB XI die Befriedigung des Grundbedürfnisses Einkaufen anzunehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Frage nach der Reichweite der Grundbedürfnisse grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Referenznummer:

R/R6394


Informationsstand: 06.01.2015