Urteil
Versorgung mit Inkontinenzhilfen - Übernahme von Kosten

Gericht:

SG Frankfurt 34. Kammer


Aktenzeichen:

S 34 KR 850/21


Urteil vom:

08.03.2024


Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 28. Januar 2021 und 4. Februar 2021 in der Fassung der Bescheide vom 23. und 25. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Oktober 2021 verurteilt, dem Kläger die Kosten der verauslagten Inkontinenzhilfen „Attends Slip Regular M10“, 4 Stück pro Tag, und „Better Dry M10“, 1 Stück pro Nacht, abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung im Zeitraum 1. Mai 2021 bis 31. März 2024 zu erstatten und den Kläger ab April 2024 mit den genannten Produkten abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung zu versorgen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justiz Hessen

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit Inkontinenzhilfen (Windeln bzw. Windelhosen).

Der Kläger ist 1963 geboren.

Er leidet als Folge einer Darmkrebserkrankung unter einer Blasenentleerungsstörung, d.h. der unwillkürlichen vollständigen Blasenentleerung. Aufgrund der dann entstehenden Nässe erkrankt er zudem an häufigen Blasenentzündungen.

Der behandelnde Arzt des Klägers verordnete ihm eine Inkontinenzversorgung mit den Inkontinenzhilfen „Attends Slip Regular 10 medium“, 4 Stück pro Tag, sowie der „Better Dry M10“, ein Stück pro Tag, für das erste Quartal 2021. Seit Februar 2019 nutzte der Kläger Produkte der Attends GmbH.

Aufgrund von Engpässen beim von der Beklagten genannten Leistungserbringer erstatte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 4. Februar 2021 für den Monat Januar 2021 16,60 Euro im Rahmen einer Notversorgung. Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch am 8. Februar 2021 ein. Er teilte mit, dass er immer noch keinen Leistungserbringer gefunden habe, der ihn ausreichend mit den benötigten Inkontinenzmitteln versorgen könne. Er führte weiter aus, dass er die beiden bislang genutzten Windelarten benötige, da er aufgrund der vorangegangenen Darmkrebserkrankung kein Gefühl mehr in der Blase habe. Diese entleere sich unwillkürlich schnell und in großer Menge. Er sei daher auf Windeln mit höchster Saugleistung angewiesen. Auch die Rücknässung müsse möglichst gering sein, da es ansonsten zu Blasenentzündungen aufgrund seines geschwächten Immunsystems komme. Er habe keinen Leistungserbringer finden können, der ihm diese Windeln ausreichend zur Verfügung habe stellen können. Da auch im März 2021 die Situation unverändert blieb, beantragte der Kläger bei der Beklagten die weitere Kostenübernahme. Mit Bescheid vom 17. März 2021 übernahm die Beklagte die Kosten im Rahmen einer Notversorgung für März 2021 in Höhe von wiederrum 16,60 Euro. Der Kläger legte wiederrum Widerspruch ein.

Unter dem Datum 24. März 2021 holte die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Danach fielen die vom Kläger genutzten Produkte unter die Kategorie „Inkontinenzwindeln mit hoher Saugleistung“. Sie seien allerdings nicht von der Vergütungspauschale der Beklagten abgedeckt. Es sei daher zu prüfen, ob gleich wirksame Produkte vorhanden seien, die unter die Pauschale fielen. Der Bedarf des Klägers von vier Windelhosen pro Tag und einer pro Nach erscheine nicht ungewöhnlich. Die Kostenübernahme von Inkontinenzwindeln mit hoher Saugleistung sei sozialmedizinisch zu empfehlen.

Der Kläger besorgte sich die entsprechenden Windeln auch im April 2021.

Mit Bescheid vom 23. August 2021 übernahm die Beklagte weitere Kosten in Höhe von 87,09 Euro für die Notversorgung mit Inkontinenzprodukten für den Monat Januar 2021. Mit weiteren Bescheiden vom 23. August 2021 übernahm die Beklagte die Kosten auch bis einschließlich April 2021 im Rahmen der Notversorgung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2021 lehnte die Beklagte die Übernahme von Mehrkosten für die Versorgung des Klägers mit den Inkontinenzhilfen BetterDry Windelhose Medium und Attends Regular, soweit nicht im Rahmen der Notversorgung erfolgt, ab. Inkontinenzhilfen seien ein festbetragsfähiges Hilfsmittel, das im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sei. Sofern für bestimmte Hilfsmittel Verträge geschlossen seien, habe die Versorgung durch einen Vertragspartner zu erfolgen. Danach hätten sich die Vertragspartner, u.a. die Attends GmbH, verpflichtet, die Versicherten mit einer monatlichen Versorgungspauschale zu versorgen. Die vom Kläger begehrten Produkte fielen nicht unter die Versorgungspauschale.

Der Kläger hat am 10. November 2021 Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Nur die von ihm bereits genutzten Produkte gewährleisteten eine höchstmögliche Saugleistung und glichen damit seine Behinderung aus. Er habe verschiedentlich Produkte getestet, die aber den erforderlichen Zweck nicht erfüllt hätten.


Der Kläger beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 28. Januar 2021 und 4. Februar 2021 in der Fassung der Bescheide vom 23. und 25. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Oktober 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für die bereits selbst beschafften Inkontinenzhilfen „Attends Slip Regular“ vier pro Tag und „Better Dry Medium M10“ eine pro Nacht ab Mai 2021 bis 31. März 2024 zu erstatten und den Kläger ab 1. April 2024 mit den genannten Inkontinenzhilfen zu versorgen. Dabei erfolgt jeweils noch der Abzug der gesetzlichen Zuzahlung.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes Befundberichte eingeholt bei Herrn Dr. med. D. (Bl. 28 der Gerichtsakte (GA)) und Herrn Dr. med. H. (Bl. 52 ff. d. GA). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Befundberichte ausdrücklich Bezug genommen.

Am 21. August 2023 ist ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Hinsichtlich des weiteren dortigen Vortrags wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 21. August 2023 verwiesen.

Die Beklagte hat im Nachgang zum Erörterungstermin mitgeteilt, dass der Kläger mit keinem der zur Verfügung gestellten Produkte aus der anwendbaren Untergruppe zufrieden gewesen sei. Es bestünde nur ein Anspruch auf eine wirtschaftliche Versorgung, nicht aber auf eine optimale Versorgung.

Der Kläger hat hierzu geantwortet, dass ihm lediglich zuzahlungspflichtige und nicht ausreichend saugfähige Inkontinenzhilfen zugesandt worden seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Klägers bei der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2021 und 4. Februar 2021 in der Fassung der Bescheide vom 23. und 25. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Oktober 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Versorgung mit Inkontinenzhilfen „Attends Slip Regular“ vier pro Tag und „Better Dry Medium M10“ eine pro Nacht ab Mai 2021 bis 31. März 2024 sowie einer Versorgung mit diesen Produkten ab 1. April 2024.

Die Kosten für die Inkontinenzhilfen sind dem Kläger gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu erstatten. Dieser regelt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Die Beklagte hat die Versorgung des Klägers mit den begehrten Inkontinenzhilfen zu Unrecht abgelehnt i.S.d. § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V. Eine Ablehnung „zu Unrecht“ liegt vor, wenn ein entsprechender Naturalleistungsanspruch auf die beschaffte Leistung besteht, da ein Kostenerstattungsanspruch nicht weiterreicht als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2019, B 1 KR 18/19 R, juris). Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers ist somit, dass die selbstbeschafften Inkontinenzartikel zu den Leistungen gehören, welche die Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben, und dass die Beklagte seinen Antrag auf Versorgung mit diesen Artikeln zu Unrecht abgelehnt hat, somit Kausalität zwischen Ablehnung und Selbstbeschaffung vorliegt. Dies war der Fall.

Gemäß § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Der Kläger leidet als Folge einer Darmkrebserkrankung an einer sehr starken Inkontinenz, was für den Kläger eine Behinderung darstellt. Aus § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V ergibt sich ein Anspruch auf passgerechte und mängelfreie Inkontinenzhilfen in der ausreichenden Stückzahl.

Windeln sind Hilfsmittel, die eine Behinderung einer körperlichen Grundfunktion -die bestehende Inkontinenz – ausgleichen (als sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). Für Erwachsene sind Windeln kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Sie sind auch nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. November 2012 – L 1 KR 263/11, juris). Die begehrten Inkontinenzhilfen sind im Hilfsmittelverzeichnis gelistet.

Windeln sind zum Ausgleich der Inkontinenz ungeeignet, wenn sie trotz ordnungsgemäßen Anlegens nicht so passen, dass sie dichthalten. Der MDK hat in seinem Gutachten vom 24. März 2021 ausgeführt, dass bei dem Kläger eine komplizierte Blasenentleerungsstörung mit Resturinbildung und plötzlicher Entleerung hoher Urinvolumina vorliege. Die Versorgung mit Inkontinenzwindelhosen „hoher Saugleistung“ sei nachvollziehbar. Auch böten Inkontinenzwindelhosen bei dem mobilen und berufstätigen Kläger Vorteile gegenüber Windeln mit Klebestreifen, da sie sich nicht lösen würden. Der Bedarf erscheine nicht ungewöhnlich. Für die Kammer erscheint es aufgrund des Gutachtens nachvollziehbar, dass entsprechende Inkontinenzhilfen benötigt werden. Auch hat der Kläger im Verfahrensverlauf ausführlich dargelegt, dass die streitgegenständliche Versorgung zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich ist. Der Kläger hat im Erörterungstermin am 21. August 2023 mehrere Modelle verschiedener Inkontinenzhilfen mitgebracht und demonstriert, welche Unterschiede bestehen. Dabei ist besonders von Bedeutung, dass der Kläger mobil und berufstätig ist und im Kontakt mit Kunden und Geschäftspartnern nicht erkennbar sein soll, dass Inkontinenzhilfen verwendet werden. Die begehrten Produkte für den Tag, „Attends Slip Regular M10“, sind deutlich weniger „dick“ als vergleichbare Produkte anderer Hersteller und damit unter der Kleidung nicht erkennbar. Verständlich ist auch, dass bei unwillkürlicher vollständiger Blasenentleerung Produkte mit höchster Dichtigkeit benötigt werden. So hat der Kläger erläutert, dass ein Nässeschutz häufige Blasenentzündungen verhindern könne, die sonst weitere gesundheitliche Probleme mit sich bringen könnten. Dabei ist auch nachvollziehbar, dass für die Nacht aufgrund der längeren Tragezeit auch ein noch stärkerer Schutz benötigt wird.

Der Beklagten ist es nicht gelungen, den Kläger auf andere Produkte zu verweisen, die die Behinderung des Klägers ausreichend ausgleichen. So war der Kläger nicht gemäß § 33 Abs. 6 Satz 2 SGB V auf eine Windellieferung durch den Vertragspartner der Beklagten beschränkt, weil die angebotenen Produkte von Qualität und Menge unzureichend waren.

Die „Versorgung“ im Sinne des § 33 Abs. 6 S. 2 SGB V ist nämlich nur die ausreichende Versorgung nach §§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Wie sich aus der innergesetzlichen Systematik und dem Zweck der Vorschrift des § 33 Abs. 6 ergibt, soll der Versicherte gegen Tragung der Mehrkosten andere Leistungserbringer wählen können, wenn ein berechtigtes Interesse besteht. „Verweist die Krankenkasse (…) den Versicherten auf die vertragsgebundenen Hilfsmittelerbringer, ist der Versicherte dann nicht auf diese beschränkt, wenn er dort das Hilfsmittel nicht zu gleichen (oder gar besseren) Bedingungen, wie sie ein nichtvertragsgebundener Leistungserbringer bietet, beziehen kann. Dies folgt einerseits aus den von den Krankenkassen stets zu beachteten Gebot der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung (§ 12 SGB V) und andererseits aus dem Gebot Wünschen des Berechtigten bei der Leistungserbringung zu entsprechen, soweit sie angemessen sind. Das ist immer der Fall, wenn der Versicherte dadurch seine Eigenbeteiligung vermeiden oder reduzieren kann (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. November 2012 – L 1 KR 263/11, juris). Der Kläger hat dargelegt, dass er mehrfach versucht hat, von den Leistungserbringen der Beklagten eine vergleichbare Versorgung zu erhalten. So hat er eine Tabelle vorgelegt (Bl. 64 der Gerichtsakte), aus der hervorgeht, dass ihm nur ein kostenloses (also aufzahlungsfreies) Produkt angeboten wurde, allerdings in geringerer Menge als benötigt und ohne Nachtwindel. Teils boten die Produkte keinen Nässeschutz, teilweise erfolgte keine Musterzusendung und oft wurden Aufpreise verlangt. Die Beklagte hat sich auf die Aussage beschränkt, insoweit seien ihre Leistungserbringer in der Pflicht, dem Kläger entsprechende Alternativprodukte vorzuschlagen. Nach Durchführung des Erörterungstermins hatte der Kläger nochmals Produkte des Leistungserbringers S. erhalten, wobei jedoch die Menge reduziert wurde und eine hohe Rücknässung bestand. Der MDK hatte in seinem Gutachten vom 24. März 2021 jedoch darauf hingewiesen, dass eine hohe Saugleistung aufgrund der komplexen Blasenentleerungsstörung notwendig sei. Der Kläger hat aus Sicht der Kammer seine notwendige Mitwirkungspflicht erfüllt und die Gründe für die begehrte Versorgung mit den begehrten Inkontinenzhilfen ausführlich und nachvollziehbar dargelegt. Letztlich ist es der Beklagten nicht gelungen darzulegen, dass eine wirtschaftlichere Versorgung des Klägers zum Ausgleich seiner Behinderung möglich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Referenznummer:

R/R9749


Informationsstand: 04.09.2024