1. Der Bescheid vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2012 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 7.750,00
EUR Kostenübernahme Augensteuerung zur Kommunikationshilfe zu zahlen.
3. Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit einer Augensteuerung zur Kommunikationshilfe in Höhe von 7.750,00
EUR.
Die 1960 geborene Klägerin leidet unter amyotropher Lateralsklerose (ALS). Sie ist von der privaten Pflegepflichtversicherung ab 28.05.2010 pflegebedürftig nach der Pflegestufe I. Eine der vielen gravierenden Folgen der Erkrankung besteht in der Lähmung der Sprechmuskulatur mit der Folge von Sprechstörungen bis hin zum völligen Verlust der eigenständigen Artikulationsmöglichkeit.
Seit März 2010 kann sich die Klägerin - worüber die Beteiligten nicht streiten - aufgrund ihrer Erkrankung bis auf wenige Worte nicht mehr verständlich äußern. Die Tastatur eines
PC kann die Klägerin nur noch langsam und unter Mühen bedienen. Aufgrund einer ärztlichen Verordnung für eine Kommunikationshilfe gewährte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 20.09.2010 die Übernahme der Kosten für die Neuanschaffung eines Kommunikationsgerätes in Höhe von 7.750,00
EUR. Die Kostenübernahme erfolgte ohne Prüfung von Einkommen und Vermögen als Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation.
Mit E-Mail vom 20.06.2011 teilte der Ehemann der Klägerin dem Beklagten mit, seine Ehefrau könne sich aufgrund des Fortschreitens der Krankheit nicht mehr mitteilen. Zur Erweiterung des bestehenden Kommunikationshilfsmittels übermittelte er einen Kostenvoranschlag für eine Augensteuerung mit Zubehör.
Mit Bescheid vom 17.08.2011 lehnte der Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme für die Augensteuerung wegen Überschreitens der Vermögensfreigrenze ab. Hierbei ging der Beklagte davon aus, dass es sich bei der Augensteuerung um eine einkommens- und vermögensabhängige Leistung der Eingliederungshilfe handele, so dass die Prüfung von Einkommen und Vermögen erfolgen müsse. In diesem Zusammenhang ging der Beklagte zutreffenderweise davon aus, dass die Vermögensfreigrenze in Höhe von 3124,00
EUR im Hinblick auf vorhandenes Vermögen in Höhe von 65.575,39
EUR überschritten wurde.
Gegen den Bescheid vom 17.08.2011 legte der Ehemann der Klägerin am 27.08.2011 Widerspruch ein und machte geltend, dass die beantragte Leistung eine solche der medizinischen Rehabilitation sei. Solche Leistungen seien ohne Rücksicht auf vorhandenes Vermögen zu erbringen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2012 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auf den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.
Dagegen richtet sich die Klage vom 16.07.2012, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, 7.750,00
EUR für die Kostenübernahme einer Augensteuerung zur Kommunikationshilfe zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und bezieht sich zur Begründung seines Antrags auf seinen Schriftsatz vom 21.08.2012, in dem er im Wesentlichen ausführt, die beantragte Augensteuerung sei kein Hilfsmittel der medizinischen Rehabilitation, sondern eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92
SGG).
Sie ist auch begründet.
Der Bescheid vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2012 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 54
Abs. 2
SGG.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit der beantragten Augensteuerung.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist
§ 54 SGB XII i. V. m. § 93
Abs. 2 Satz 1
Nr. 5
SGB XII sowie
§§ 26 Abs. 2 Nr. 6, 31 SGB IX. Nach § 54
Abs. 1 Satz 2
SGB XII entsprechen die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit. Hilfen zur Gesundheit, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfen in anderen Lebenslagen werden nach dem fünften bis neunten Kapitel des
SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des elften Kapitels des
SGB XII nicht zuzumuten ist (
§ 19 Abs. 3 SGB XII). Den in § 19
Abs. 3
SGB XII genannten Personen ist die Aufbringung der Mittel nur für die Kosten des Lebensunterhalts bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 26
SGB IX) zuzumuten (
§ 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB XII).
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfassen insbesondere Hilfsmittel (§ 26
Abs. 2
Nr. 6
SGB IX). Hilfsmittel (Körperersatzstücke sowie orthopädische und andere Hilfsmittel) nach § 26
Abs. 2
Nr. 6
SGB IX umfassen die Hilfen, die von den Leistungsempfängern getragen oder mitgeführt oder bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden können und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich sind, um eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind (
§ 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).
Im Hinblick auf den in § 54
Abs. 1 Satz 2
SGB XII ausgesprochenen Verweis auf die gesetzliche Krankenversicherung müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können die behinderten Menschen nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (
vgl. § 12 Abs. 1 SGB V).
Da mit der Augensteuerung der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem das geschädigte, nicht mehr funktionstüchtige Sprachorgan (
vgl. hierzu Schriftsatz des Beklagten vom 21.08.2012 Umdruck
S. 2, 3. Absatz) einschließlich der verloren gegangenen eigenen, individuellen Stimme durch technisch vermittelte Augensteuerung künstlich ersetzt wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 31
Abs. 1
Nr. 3
SGB IX zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion "Stimmgebrauch" selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung oder Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiter entwickelten Hilfsmittel nicht mit der - mittelbaren - Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Vermögensstandard sei ausreichend und es fehle an der Unmittelbarkeit des Ausgleichs der Folgen der Behinderung, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Geeignetheit und Notwendigkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleichs dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (
vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2009,
B 3 KR 2/08 R). Im vorliegenden Fall kann dieser Aspekt jedoch dahinstehen, weil nach Aktenlage ein Preisvergleich zwischen zwei Hilfsmitteln nicht in Rede steht.
Hieran gemessen hat die Klägerin Anspruch auf Versorgung mit der Augensteuerung, denn nur so erfolgt ein weitestgehender Ausgleich des bestehenden Funktionsdefizits, das nicht nur im Verlust der sprachvermittelten Kommunikationsmöglichkeit besteht, sondern gerade auch im Verlust der individuellen Stimme, die im Rahmen des Sprachgebrauchs einen eigenen messbaren Wert und Nutzen hat. Der Einwand des Beklagten, die Augensteuerung sei ein Zubehör für die bewilligte Kommunikationshilfe, vergleichbar mit Batterien für ein Hörgerät und auch kein Hilfsmittel, greift demgegenüber nach Auffassung des erkennenden Gerichts nicht. Das Gericht kann insofern keinen Unterschied zur mit Bescheid vom 20.09.2010 bewilligten Kostenübernahme für die Kommunikationshilfe selbst erkennen. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung zum Hilfsmittelbegriff: Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung - hierauf stellt der Beklagte im Schriftsatz vom 21.08.2012, Umdruck
S. 6, letzter Absatz zu Recht ab - immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Bei der Klägerin ist das elementare Grundbedürfnis der "Kommunikation" betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Sprechens, Schreibens,
PC-Bedienens
usw. sichergestellt wird. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch die Kommunikation in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise erreicht. Dazu ist der behinderte Mensch nach Möglichkeit zu befähigen, in der eigenen Wohnung einen
PC - wenn auch nicht mittels Tastatur - zu bedienen. Hieraus folgt der Hilfsmittelstatus im Sinne von § 26
Abs. 2
Nr. 5
i. V. m. § 31
SGB IX.
Hinzu kommt folgender Aspekt: Es ist ein wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung, dass behinderte Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig, zumindest aber deutlich weniger abhängig werden (
vgl. BSG, Urteil vom 24.05.2006,
B 3 KR 12/05 R). Diese qualitative Erweiterung ihres persönlichen Freiraums und des Umfangs ihrer selbständigen Lebensführung zählt zu den Grundbedürfnissen. Die Klägerin mag zwar in geschlossenen Räumen an ihren Platz gebunden sein. Sie kann aber nur mit Hilfe der Augensteuerung im Rahmen ihrer sehr eingeschränkten Möglichkeiten kommunizieren, was ihren im weitestenden Sinne verstandenen Bewegungsspielraum spürbar erweitert. Es geht vorliegend auch nicht um die Erhöhung der Bequemlichkeit oder um einen bloß besseren Komfort im Gebrauch, was einen Versorgungsanspruch ausschließen könnte. Die Klägerin benötigt die Augensteuerung, um ihre persönliche Bewegungsfreiheit zu erweitern. Denn die Klägerin kann aufgrund ihrer Erkrankung die mit Bescheid vom 20.09.2010 gewährte Kommunikationshilfe nicht mehr nutzen und benötigt zur Kommunikation mit anderen Menschen die Augensteuerung. Auch dies dürfte zwischen den Beteiligten im Übrigen unstreitig sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.