Urteil
Aufnahme eines Rollstuhl-Bikes in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 1. Senat


Aktenzeichen:

L 1 KR 61/11


Urteil vom:

08.12.2015


Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 16.12.2010 geändert und die Klage abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen. Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 18.000,- EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufnahme eines von der Klägerin hergestellten Rollstuhl-Bikes in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Die Klägerin ist im Bereich der Entwicklung, Produktion und dem Vertrieb von Rollstuhlzuggeräten und Rollstuhl-Bikes tätig. Das Produkt Speedy-Duo 2 ist ein Vorspann- bzw. Einhängefahrrad für Rollstühle, das mit einem Handkurbelantrieb und einer elektronisch geregelten, elektromotorischen Servounterstützung ausgestattet ist. Diese elektromotorische Servounterstützung unterstützt Geschwindigkeiten von 10 bzw. 14 km/h. Sofern der Nutzer höhere Geschwindigkeiten erreichen möchte, ist er auf seine eigene Körperleistung angewiesen. Das Speedy-Duo 2 kann mittels eines Kupplungssystems selbstständig an einen Rollstuhl an- und abgekoppelt werden.

Am 01.08.2002 beantragte die Klägerin bei den (seinerzeit zuständigen) Spitzenverbänden der Krankenkassen die Aufnahme des (zu diesem Zeitpunkt noch produzierten) Speedy-Duo in das Hilfsmittelverzeichnis. Nach Schriftwechsel zwischen den Beteiligten und zweimaliger Einschaltung des (damaligen) Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände (jetzt: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes - MDS) aktualisierte die Klägerin unter dem 15.02.2007 den Aufnahmeantrag auf die inzwischen hergestellte Produktversion Speedy-Duo 2. Hierbei handelte es sich nach Angaben der Klägerin um eine im Produktionsablauf übliche Weiterentwicklung des Speedy-Duo.

Die Spitzenverbände der Krankenkassen lehnten den Antrag auf Aufnahme des Speedy-Duo 2 in das Hilfsmittelverzeichnis ab. Hierzu führten sie u.a. aus: Das Speedy-Duo 2 stelle ein Produkt dar, das in den bestehenden Produktarten des Hilfsmittelverzeichnisses nicht abgebildet werde. Eine Leistungspflicht komme lediglich für Produkte in Betracht, die für die Nutzung von Kindern bestimmt und geeignet seien. Hierüber habe die Klägerin keine Nachweise vorgelegt. Als Hilfsmittel seien grundsätzlich nur solche Gegenstände und Vorrichtungen zum Ausgleich einer Behinderung anzusehen, die erforderlich seien, damit der Versicherte die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens erfüllen könne. Das Grundbedürfnis nach Fortbewegung und Mobilität umfasse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur die Möglichkeit, Entfernungen zu überwinden, die ein gesunder Mensch üblicherweise zu Fuß zurücklege. Fahrradfahren gehöre grundsätzlich nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Bei Erwachsenen dienten Fahrräder der Überwindung größerer Strecken, der schnelleren Fortbewegung oder dem Einsatz im Freizeitbereich (Bescheid vom 11.05.2007).

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass zum Nachweis der Funktionstauglichkeit und Sicherheit eine ordnungsgemäße CE-Kennzeichnung ausreiche. Hierüber verfüge das streitige Produkt. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die Beschränkung einer etwaigen Zulassung auf bestimmte Personengruppen. Durch die Nichtaufnahme des Speedy-Duo 2 werde der Zugang der Versicherten zu dem Hilfsmittel aufgrund der marktsteuernden Wirkung des Hilfsmittelverzeichnisses erschwert. Dadurch werde auch sie - die Klägerin - in ihren Rechten verletzt.

Den Widerspruch wiesen die Spitzenverbände der Krankenkassen zurück und stützten sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Danach könne eine Leistungspflicht der GKV für Vorspannräder für Rollstühle ebenso wie für behindertengerechte Zwei- und Dreiräder grundsätzlich nur bei Fahrzeugen für Kinder bzw. Jugendliche bestehen. Abgesehen davon habe das BSG die Hilfsmitteleigenschaft von Rollstuhl-Bikes für Erwachsene verneint (Widerspruchsbescheid vom 22.11.2007).

Am 28.11.2007 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht (SG) Detmold Klage erhoben und vorgetragen:

Das Speedy-Duo 2 stelle ein Hilfsmittel der GKV dar, weil es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen entwickelt worden sei. Entgegen der vom Beklagten vertretenen Ansicht handele es sich keineswegs um ein Fahrrad mit Motorunterstützung. Durch das Speedy-Duo 2 seien behinderte Menschen in der Lage, sich den Nahbereich zu erschließen. Dies gelte völlig altersunabhängig. Die Funktionstauglichkeit, die Sicherheit und die Qualität des Produktes seien durch die - vorhandene - CE-Kennzeichnung nachgewiesen. Der Beklagte könne nicht damit gehört werden, es fehle eine passende Produktgruppe. Denn es sei gerade ihre Aufgabe, eine geeignete Produktgruppe zu schaffen, wenn das Produkt in keine der bestehenden Gruppen aufgenommen werden könne. Zwar müsse berücksichtigt werden, dass das Speedy-Duo 2 über einen motorgestützten Zusatzantrieb verfüge. Dieser diene jedoch allein der leichteren - aber immer noch zwingend händischen - Fortbewegung. Es sei grundsätzlich unschädlich, wenn ein Hilfsmittel auch für weitere Strecken oder höhere Geschwindigkeiten geeignet sei, weil dies lediglich einen positiven Nebeneffekt darstelle. Folgte man der Auffassung des Beklagten, dass der Unterstützungsantrieb dazu diene, längere Strecken zu überwinden und den Nahbereich zu Gunsten des Freizeitbereichs zu verlassen, so dürften Elektrorollstühle mit einer durchschnittlichen Reichweite von 32 km ebenfalls nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet werden.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 11.05.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Produkt "Speedy-Duo 2" in das Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmen und dies im Bundesanzeiger bekannt zu machen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides gestützt und erwidert: Es bestehe kein Anspruch auf Listung von Produkten im Hilfsmittelverzeichnis, die wie Rollstuhl-Fahrrad-Kombinationen ihrer Zweckbestimmung nach in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens dienten, sondern der Erfüllung weitergehender Bedürfnisse. Dies habe das BSG in mehreren Entscheidungen bestätigt. Die Ermöglichung der Fahrradnutzung für einen behinderten Menschen falle nicht in die Leistungspflicht der GKV. Eine Listung des Speedy-Duo 2 komme auch deshalb nicht in Betracht, weil die notwendige Geschwindigkeitsbegrenzung des Unterstützungsantriebs auf 6 km/h nicht eingehalten sei. Das Grundbedürfnis auf Mobilität bzw. Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes umfasse nur die Fähigkeit, Entfernungen überwinden zu können, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklege. Die durchschnittliche Geschwindigkeit eines nicht behinderten Menschen liege bei 3 km/h bis 4 km/h. Eine Geschwindigkeit von 6 km/h bei Kranken- und Behindertenfahrzeugen entspreche bereits einem schnelleren Gehtempo, sodass eine Fortbewegungsmöglichkeit mit einer Geschwindigkeit von mehr als 6 km/h kein vom Basisausgleich umfasstes Grundbedürfnis mehr darstelle.

Durch Urteil vom 16.12.2010 hat das SG den Beklagten antragsgemäß verurteilt und im Wesentlichen ausgeführt: Das Speedy-Duo 2 sei ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Es stelle keinen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar, weil es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konzipiert worden sei. Der Versicherte werde durch das Speedy-Duo 2 in die Lage versetzt, Einkäufe, Post- und Bankgeschäfte zu erledigen sowie Apotheken, Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Damit diene das Speedy-Duo 2 der Befriedigung von Grundbedürfnissen im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Etwas anderes ergebe sich nicht aus der Rechtsprechung des BSG. Dieser Rechtsprechung lasse sich nicht zuverlässig entnehmen, dass die Versorgung eines Erwachsenen mit einer Rollstuhl-Fahrrad-Kombination zu Lasten der GKV grundsätzlich ausgeschlossen sei. Die Frage, ob ein Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich sei, spiele für die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis keine Rolle. Ebenso wenig sei ausschlaggebend, ob das Hilfsmittel im Verhältnis zu anderen Hilfsmitteln wirtschaftlich sei. Dem Beklagten stehe es überdies nicht zu, mit dem Instrument des Hilfsmittelverzeichnisses mittelbar in den Wettbewerb der Hilfsmittelhersteller einzugreifen und die Entwicklung neuer Produkte zu behindern. Zwar hätten die Hersteller die Möglichkeit, die von ihnen entwickelten Produkte auf den Markt zu bringen, auch wenn diese nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet seien. Die Entscheidung über die Aufnahme habe jedoch vor dem Hintergrund, dass der verordnende Arzt für seine Auswahl auf das Hilfsmittelverzeichnis zurückgreife, berufsregelnde Tendenz im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und müsse sich daher an der verfassungsrechtlich geschützten Berufsfreiheit messen lassen. Der Nachweis der Funktionstauglichkeit und Sicherheit des Speedy-Duo 2 sei durch das vorhandene CE-Kennzeichen erbracht. Die von dem Beklagten geforderte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 6 km/h sei keine Frage des Wirtschaftlichkeitsgebots, sondern der Erforderlichkeit des Hilfsmittels im Einzelfall.

Gegen das ihm am 14.01.2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 14.02.2011 Berufung eingelegt.

Er hält an seiner Auffassung fest und macht geltend, dass es nicht seine Aufgabe sei, im Rahmen der Prüfung auf Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis sämtliche denkbaren Einzelfälle zu antizipieren, in denen ein grundsätzlich nicht von der Leistungspflicht der GKV erfasstes Hilfsmittel doch einmal einem allgemeinen Grundbedürfnis des täglichen Lebens dienen könnte. Zu berücksichtigen sei ferner, dass das Speedy-Duo 2 Höchstgeschwindigkeiten von deutlich mehr als 6 km/h erlaube und vor diesem Hintergrund nicht mehr der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums im Sinne der Rechtsprechung des BSG diene. Die angebotenen Ausstattungsvarianten dienten letztlich dem Erzielen höherer Geschwindigkeiten und dem Zurücklegen größerer Strecken.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 16.12.2010 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und erwidert: Die Frage, ob ein Hilfsmittel im Einzelfall für die Versorgung von behinderten Menschen erforderlich sei, spiele für die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis keine Rolle. Einer Listung stehe auch nicht entgegen, dass mit der elektrisch betriebenen Restkraftunterstützung Höchstgeschwindigkeiten von mehr als 6 km/h erreicht werden könnten. Selbst mit einem händisch zu nutzenden Greifreifenrollstuhl seien Geschwindigkeiten von weit mehr als 6 km/h möglich. Letztlich seien bei beiden Hilfsmitteln die zu erzielenden Geschwindigkeiten abhängig von der eingesetzten Kraft der Nutzer.

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte.

Rechtsweg:

SG Detmold, Urteil vom 16.10.2010 - S 3 KR 89/07
BSG, Urteil vom 30.11.2017 - B 3 KR 3/16 R

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil des SG Detmold war zu ändern und die Klage abzuweisen, weil die Klägerin keinen Anspruch auf Aufnahme des Speedy-Duo 2 in das Hilfsmittelverzeichnis der GKV hat. Dies gilt sowohl für die 10 km/h- als auch für die 14 km/h Ausstattungsvariante. Die Beklagte wird demzufolge durch den Bescheid vom 11.05.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2007 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert.

I. Gegenstand des Rechtsstreits ist - wie sich auch aus den Erklärungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ergibt - ausschließlich die Aufnahme des Speedy-Duo 2 sowohl in der 10 km/h - als auch in der 14 km/h-Variante in das vom Beklagten geführte Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V. Soweit während des Klage- und Berufungsverfahrens von einer "Vorgängerversion" die Rede war, die Versicherte in die Lage versetzen sollte, Höchstgeschwindigkeiten von 12 km/h zu erreichen, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt, dass die Klägerin stets nur Ausstattungsvarianten mit einer Beschränkung von 10 bzw. 14 km/h hergestellt und eine Variante mit einer Begrenzung auf 12 km/h zu keinem Zeitpunkt produziert hat.

II. Der so konkretisierte Anspruch besteht nicht.

Nach § 139 Abs. 1 SGB V erstellt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelverzeichnis (Satz 1). In dem Verzeichnis sind von der Leistungspflicht umfasste Hilfsmittel aufzuführen (Satz 2). Das Hilfsmittelverzeichnis ist im Bundesanzeiger bekannt zu machen (Satz 3). Ein Hilfsmittel ist von der Leistungspflicht umfasst, soweit es den gesetzlichen Anforderungen entspricht und daher zu Lasten der GKV verordnungsfähig ist (vgl. BSG, Urteil v. 12.08.2009 - B 3 KR 10/07 R, Rn. 15 m.w.N.). Die Regelung nimmt Bezug auf die Vorschriften des § 33 SGB V, des § 23 SGB V und des § 31 SGB IX, die den Leistungsanspruch eines Versicherten gegen die Krankenkassen auf die Versorgung mit Hilfsmitteln in der GKV sowie bei der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen regeln (BSG, Urteil v. 22.04.2009 - B 3 KR 11/07 R, Rn. 20). Die Frage, ob die Eintragungsvoraussetzungen erfüllt sind, bestimmt sich damit nach weiterer Maßgabe der §§ 33 (bzw. 31 SGB IX), 23, 139 SGB V, deren Voraussetzungen hier nicht erfüllt sind. Denn das Speedy-Duo 2 ist grundsätzlich nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähig.

1. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh-, Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Hilfsmittel im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, einer drohenden Behinderung vorbeugen oder eine bestehende Behinderung ausgleichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicherzustellen ist (BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 12/10 R, Rn. 10 - Rollstuhl-Bike).

a) Zwar handelt es sich bei dem streitigen Speedy-Duo 2 um ein Hilfsmittel, da es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konzipiert wurde (vgl. BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 26 - Rollstuhl-Bike). Es wurde auch nicht durch die auf § 34 Abs. 4 SGB V beruhende Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 13.12.1989 (BGBl. I 2237) von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen.

b) Das Speedy-Duo 2 dient jedoch nicht dem Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V. Der Behinderungsausgleich im Sinne dieser Regelung erfasst nach ständiger Rechtsprechung des BSG zwei Zielrichtungen:

aa) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Prüfung, ob mit der vorgesehenen Verwendung ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt in den Fällen der Erst- und Ersatzausstattung, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht (vgl. z.B. BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 31 - Rollstuhl-Bike m.w.N. aus der Rspr. des BSG).

bb) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses sog. mittelbaren Behinderungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl § 1 SGB V, § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (vgl. § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Bei der Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Gegebenheiten des Wohnorts unabhängiger Maßstab, sodass es nicht darauf ankommt, welche Entfernungen der behinderte Mensch tatsächlich zu den jeweiligen Einrichtungen und Stellen zurückzulegen hat (zum Ganzen vgl. z.B. BSG, Urteil v. 25.02.2015 - B 3 KR 13/13 R, Rn. 20 ff. - schwenkbarer Autositz; Urteil v. 21.03.2013 - B 3 KR 3/12 R, Rn. 13 - Unterschenkelsportprothese; Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 32 ff. - Rollstuhl-Bike, jeweils m.w.N.).

(1) Das Speedy-Duo 2 wird nach Maßgabe dieser Grundsätze im mittelbaren Behinderungsausgleich eingesetzt. Es soll nicht die verlorene Körperfunktion "Gehfähigkeit" als solche ausgleichen, sondern vielmehr die Auswirkungen der verlorenen Gehfähigkeit (vgl. auch BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 32 ff. - Rollstuhl-Bike).

(2) Das Speedy-Duo 2 geht über die im mittelbaren Behinderungsausgleich verfolgten Ziele hinaus, weil es seiner Zweckbestimmung nach darauf angelegt ist, größere Reichweiten, als im Nahbereich üblich, zu erzielen. Vergleichsmaßstab ist im mittelbaren Behinderungsausgleich hinsichtlich des Grundbedürfnisses "Mobilität" der nichtbehinderte Mensch, der, wie bereits dargelegt, die Wohnung verlässt, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um (zu Fuß) die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. auch BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 37, 41 - Rollstuhl-Bike). Das Speedy-Duo 2 mit seinen (elektromotorisch) unterstützten Geschwindigkeiten von 10 bzw. 14 km/h eröffnet jedoch dem behinderten Menschen dem Grunde nach eine dem Radfahren vergleichbare und somit über den Nahbereich hinausgehende Mobilität. Denn mit dem Speedy-Duo 2 können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art bewältigt werden. Daher betrifft es grundsätzlich nicht ein in die Leistungszuständigkeit der GKV im Rahmen der medizinischen Rehabilitation fallendes allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens, sondern die anderen Sozialleistungsträgern - z.B. dem Träger der Eingliederungshilfe - obliegende soziale Rehabilitation (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XII] i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX).

Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, sind zwar im Einzelfall gleichwohl zu Lasten der GKV verordnungsfähig, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern (BSG, Urteil v. 18.05.2011 - B 3 KR 7/10 R, Rn. 41 - Rollstuhl-Bike). Besondere qualitative Momente liegen z.B. vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (BSG, Urteil v. 12.08.2009 - B 3 KR 8/08 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 27, Rn. 24 - Elektrorollstuhl) oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, hat das BSG in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger (BSG, Urteil v. 10.11.2005 - B 3 KR 31/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 10, Rn. 16 - Reha-Kinderwagen; BSG, Urteil v. 23.07.2002 - B 3 KR 2/02 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 S. 258 f. - Therapiedreirad; BSG, Urteil v. 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 158 f. - Rollstuhl-Bike) sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation (BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, juris Rn. 19 ff. - schwenkbarer Autositz) gesehen. Zur Beantwortung der Frage, ob besondere qualitative Umstände ausnahmsweise die Gewährung eines Rollstuhl-Bikes erfordern, sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls maßgebend (BSG, Urteil v. 10.11.2005 - B 3 KR 31/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 10, Rn. 16 - Reha-Kinderwagen).

Daran anknüpfend erscheint es zwar nicht als von vornherein völlig ausgeschlossen, dass Versicherte ausnahmsweise ein Speedy-Duo 2 benötigen könnten, um auf diese Weise den Nahbereich zu erschließen (vgl. z.B. LSG für das Saarland, Urteil v. 21.10.2015 - L 2 KR 92/14; Thüringer LSG, Urteil v. 30.04.2013 - L 6 KR 568/08; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil v. 15.12.2011 - L 5 KR 31/10 - in diesen Entscheidungen wurde jedoch nicht thematisiert, dass das Speedy-Duo 2 Versicherte durch die vorhandene Motorunterstützung in die Lage versetzt, Geschwindigkeiten von deutlich mehr als 6 km/h zu erzielen, das Erreichen dieser Geschwindigkeiten jedoch von der GKV im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nicht geschuldet wird). Allerdings obliegt es zum einen nicht dem Beklagten im Rahmen der Prüfung auf Aufnahme eines grundsätzlich nicht von der Leistungspflicht erfassten Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis, sämtliche - auch nur ansatzweise denkbaren - besonderen qualitativen Gesichtspunkte vorwegzunehmen und ein Hilfsmittel auf dieser Grundlage einzutragen.

Das Speedy-Duo 2 ist zum anderen nicht auf dieses "qualitative Mehr" ausgelegt, sondern hat typischerweise - gemessen am Maßstab des mittelbaren Behinderungsausgleichs - eine überschießende Funktion: Es handelt sich um ein Hilfsmittel, das in generalisierender Betrachtungsweise darauf abzielt, für behinderte Menschen eine Mobilität zu ermöglichen für die die GKV nicht einstehen muss und die die Leistungspflicht der GKV überschreitet. Angesichts dieser überschießenden Tendenz wäre im Übrigen eine Aufnahme des Speedy-Duo 2 in das Hilfsmittelverzeichnis mit dem Charakter und der Funktion des Verzeichnisses nicht zu vereinbaren. Das Hilfsmittelverzeichnis ist eine Auslegungs- und Orientierungshilfe für die Krankenkassen und die Leistungserbringer (BSG, Urteil v. 24.01.2013 - B 3 KR 22/11 R, Rn. 13), ohne dass die fehlende Aufnahme in das Verzeichnis die Gewährung eines Hilfsmittels im Einzelfall auf Lasten der GKV ausschließt. Die Aufnahme eines Hilfsmittels mit der beschriebenen, überschießenden Tendenz würde jedoch die Auslegungs- und Orientierungshilfe verfälschen, weil der unzutreffende Eindruck entsteht, dass das Mittel regelmäßig von der Leistungspflicht der GKV umfasst ist.

2. Etwas anderes folgt nicht aus § 31 Abs. 1 SGB IX. Die Vorschrift regelt vielmehr in Nr. 3 ausdrücklich, dass die Gewährung von Hilfsmitteln lediglich zum Ausgleich einer Behinderung "bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens" in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil v. 25.02.2015 - B 3 KR 13/13 R, Rn. 30 - schwenkbarer Autositz). Diese Voraussetzungen sind jedoch, wie dargelegt, nicht erfüllt.

3. Anhaltspunkte dafür, dass Versicherte einen Anspruch auf Gewährung eines Speedy-Duo 2 als medizinische Vorsorgeleistung nach weiterer Maßgabe der in § 23 Abs. 1 SGB V geregelten Voraussetzungen haben können, sind nicht ersichtlich und wurden auch nicht geltend gemacht.

4. Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob die weiteren in § 139 SGB V genannten Eintragungsvoraussetzungen erfüllt sind.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 HS 3 i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

IV. Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

V. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 HS 1 i.V.m. § 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3 sowie § 47 Abs. 1 GKG.

Referenznummer:

R/R7329


Informationsstand: 27.06.2017