Urteil
Krankenversicherung - Hilfsmitteleigenschaft - Blindenführhund - Definition Hilfsmittel - Leistungspflicht

Gericht:

SG Aachen 13. Kammer


Aktenzeichen:

S 13 KR 30/02


Urteil vom:

22.10.2002


Orientierungssatz:

1. Der Hilfsmitteleigenschaft eines Blindenführhundes steht nicht die begriffliche Definition von Hilfsmitteln in den gemäß § 92 Abs 1 S 2 Nr 6, Abs 2 SGB 5 erlassenen "Hilfsmittel-Richtlinien" entgegen.

2. Soweit § 90a BGB, eingefügt durch Art 1 Nr 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Recht vom 20.8.1990 bestimmt, dass Tiere keine Sachen sind, begründet dies keinen Ausschluss der Blindenführhunde aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH
Sozialgerichtsbarkeit BRD

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2002 verurteilt, dem Kläger einen Blindenführhund zur Verfügung zu stellen. Sie außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf einen Blindenführhund.

Der am 00.00.1951 geborene Kläger ist aufgrund einer beidseitigen Amaurose erblindet. Er übt keine Berufstätigkeit aus. Vom 09. bis 31.07.2001 nahm er an einem Orientierungs- und Mobilitätstraining (OuM-Training) zwecks selbständiger Fortbewegung mit einem Langstock teil. Der Mobilitätstrainer berichtete unter dem 01.08.2001, der Kläger habe das Trainingsziel erreicht; er sei in der Lage ohne fremde Hilfe Besorgungen und Spaziergänge zu machen, Sicherheit sei bei bewusstem Einsatz der Stocktechniken gegeben.

Am 12.11.2001 beantragte der Kläger die Bewilligung eines Blindenführhundes unter Vorlage einer entsprechenden Hilfsmittelverordnung des Augenarztes Dr. U vom 12.07.2001. In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme vom 20.12. 2001 erklärte Dr. U, der Kläger sei zwar nach dem OuM-Training in der Lage, sich in bekannter Umgebung mit dem Langstock zurecht zu finden; aber in weniger bekannter oder völlig unbekannter Umgebung sei dies nicht möglich. Zu derselben Einschätzung gelangte Frau Dr. X in der von der Beklagten veranlassten Stellungnahme des medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein vom 28.12.2001. Dr. X befürwortete aus sozialmedizinischer Sicht die Kostenübernahme für den beantragten Blindenführhund unter Hinweis darauf, dass eine artgerechte Haltung des Tieres gewährleistet sei.

Durch Bescheid vom 28.01.2002 lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung mit einem Blindenführhund ab mit der Begründung, Hilfsmittel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seien ausschließlich sächliche Mittel; Blindenführhunde seien aber gemäß § 90a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) keine Sachen. Im Übrigen sei der Blindenführhund zur Befriedung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens nicht erforderlich, da der Kläger nach dem OuM-Training in der Lage sei, sich sicher und selbständig fortzubewegen.

Den hiergegen am 06.02.2002 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 25.06.2002 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 09.07.2002 Klage erhoben. Er trägt vor, nach dem OuM-Training im Juli 2001 an keiner weiteren Schulung teilgenommen zu haben. Mit dem Blindenstock könne er sich nur in gewohnter bekannter Umgebung bewegen, in ungewohnter unbekannter Umgebung sei das nur mit hilfe seiner Ehefrau möglich. Da seine Ehefrau tagsüber arbeite, sei er bei plötzlich auftretenden Vorkommnissen gehalten, fremde Personen um Hilfe zu bitten. Ein Blindenführhund könne ihm in großem Maße behilflich sein, seine krankheitsbedingt weggefallene optische Orientierung und Sicherheit zurückzugewinnen. Mit einem Blindenführhund könne er außerhalb der ihm bekannten näheren Umgebung die notwendigen Arztbesuche, anfallende Besorgungen und Einkäufe sowie Spaziergänge alleine durchführen. Darüber hinaus könne ein Blindenführhund ihn auch vor Verletzungen bewahren, da er sich trotz Langstockbenutzung hin und wieder an Gegenständen stoße. Durch die langjährige Medikamenteneinnahme sei seine Haut verhältnismäßig dünn geworden, weshalb sofort offene oder schlecht heilende Wunden, Blutergüsse o.a. auftreten. Schließlich sehe er den Blindenführhund als Gefährten, der ihm eine Aufgabe gebe. Er sei den ganzen Tag alleine und habe keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten. Mit dem Blindenführhund könne er Kontakt zu seinen Mitmenschen finden; der Hund würde ihm helfen, Ängste und Barrieren zu überwinden.


Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2002 zu verurteilen, ihm einen Blindenführhund zur Verfügung zu stellen.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.
Sie verweist erneut auf die Vorschrift des § 90a BGB und meint, Tiere könnten nicht als Hilfsmittel nach dem Recht der GKV gelten, da Tiere keine Sachen seien. Sie verweist darauf, dass der Tierschutz seit Neuestem in Artikel 20a des Grundgesetzes (GG) verankert sei. Unabhängig davon seien die Voraussetzungen für die Anschaffung eines Blindenführhundes als Leistung der Krankenversicherung auch deshalb nicht erfüllt, weil noch ein Restsehvermögen vorhanden sei. Im Übrigen habe nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot eine Abwägung der Kosten und Gebrauchsvorteile zu erfolgen. Da der Kläger erfolgreich an einem OuM-Training teilgenommen habe, sei er in der Lage, sich mittels Langstock selbständig und sicher fortzubewegen. In der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2002 hat die Beklagte erstmals Unterlagen zu einem sogenannten Blindenleitgerät (Ultraschallbrille) vorgelegt.

Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht von dem Augenarzt Dr. U eingeholt. Dieser hat am 30.09.2002 mitgeteilt, der Kläger sei auf dem linken Auge erblindet, auf dem rechten Auge bestehe mit Brille noch ein Restsehvermögen, das jedoch so gering sei, dass man von einer praktischen Erblindung auch des rechten Auges sprechen könne. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Er hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund.

Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Ein Blindenführhund ist nicht nach der Rechtsverordnung gemäß § 34 Abs. 4 SGB V von der Leistung der GKV ausgeschlossen. Auch ist ein Blindenführhund kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da er für die speziellen Bedürfnisse sehbehinderter Menschen gedacht und entsprechend geschult ist; er wird nur von diesem Personenkreis benutzt.

Der Hilfsmitteleigenschaft eines Blindenführhundes steht auch nicht die begriffliche Definition von Hilfsmitteln in den gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, Abs. 2 SGB V erlassenen "Hilfsmittel-Richtlinien" entgegen. Nach deren Ziffer 2 sind Hilfsmittel "sächliche" medizinische Leistungen. Soweit § 90a BGB, eingefügt durch Artikel 1 Nr. 2 des Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Recht vom 20.08.1990 (BGBI. l S. 1762) bestimmt, dass Tiere keine Sachen sind, begründet dies entgegen der Auffassung der Beklagten keinen Ausschluss der Blindenführhunde aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen. Denn ebenso wie die Änderung des Artikel 20a GG durch das Gesetz vom 26. Juli 2002 (BGBI. l S. 2862) dient die Vorschrift des § 90a BGB dem Tierschutz. Tiere sind, wie es § 1 Satz 1 Tierschutzgesetz ausdrückt. Mitgefährten für den Menschen. Sie sollen daher insbesondere artgerecht gehalten und nicht in Tierversuchen unnötig gequält werden.

§ 90a BGB beruht auf dem Gedanken, dass das Tier als Mitgeschöpf nicht der Sache gleichgestellt werden darf (Steding, JuS 96, 863). Daraus folgt aber nicht, dass deshalb der Diebstahl (§ 242 StGB) oder die Beschädigung (§ 303 StGB) von Tieren nicht mehr strafbar sein soll. Und ebenso wenig soll die Vorschrift dazu dienen, die gesetzliche Krankenversicherung von der grundsätzlichen Verpflichtung zu befreien, sehbehinderten Versicherten Blindenführhunde zur Verfügung zu stellen. § 90a Satz 2 BGB bestimmt deshalb auch ausdrücklich, dass auf Tiere die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist. Da insoweit nichts anderes bestimmt ist, gelten die Hilfsmittel-Richtlinien auch für Blindenführhunde.

Der Kläger wohnt in einem Einfamilienhaus mit Grundstück, weshalb die artgerechte Haltung eines Tierhundes gewährleistet werden kann (vgl. MDK-Stellungnahme vom 28.12.2001).

Der Blindenführhund ist als Hilfsmittel der GKV auch erforderlich, um eine Behinderung des Klägers auszugleichen. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung (BSG SozR-3 2500 § 33 Nrn. 3 und 5) dann "erforderlich", wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfasst. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder der behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation oder mithilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (vgl. BSGE 66, 245, 246 = SozR 3- 2500 § 33 Nr. 1; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 7, 13 und 16 sowie die , Rechtsprechung zur Reichsversicherungsordnung: BSG SozR 2200 § 182b Nrn. 29, 34 und 37). Blindheit bedeutet u.a. den Verlust der Orientierungsfähigkeit und als Folge davon der Mobilität. Durch einen Blindenführhund wird die zur Umweltkontrolle erforderliche Sehfähigkeit ausgeglichen. In diesem Sinne ermöglicht der Führhund allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens - so insbesondere die Teilnahme des Blinden am Straßenverkehr - und dient damit elementaren Grundbedürfnissen (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 19).

Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Krankenkasse zur Befriedigung dieses Grundbedürfnisses jegliche Hilfsmittel zur Verfügung stellen muss, die den Behinderten in die Lage versetzen, Wegstrecken jeder Art und Länge zurückzulegen. Die Leistungspflicht der GKV beschränkt sich auf einen Basisausgleich (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 2/99 R). Zu den vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens gehört die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen erreichen zu können, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteile vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R, B 3 KR 13/98 R und B 3 KR 2/99 R). Dementsprechend hat das Bundessozialgericht in den vorgenannten Entscheidungen einen Anspruch auf ein "Rollstuhl-Bike" neben einem Rollstuhl oder anstelle eines solchen für nicht erforderlich gehalten.
Diese Rechtsprechung kann jedoch auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden. Der Kläger kann sich zwar innerhalb seiner Wohnung und in der näheren ihm bekannten Umgebung mittels des Blindenlangstocks sicher bewegen. In anderer ihm unbekannter Umgebung kann er jedoch den Langstock nicht mehr sicher einsetzen und ist ohne Blindenführhund auf die Hilfe seiner Ehefrau oder anderer Personen angewiesen. Insofern unterscheidet er sich von dem Rollstuhlfahrer, der seinen Rollstuhl auch in fremde ihm unbekannte Umgebungen (z.B. in den Urlaub) mitnehmen und sich an diesen neuen Orten dann wieder mit dem Rollstuhl im Nahbereich bewegen kann. Beim Kläger kommt hinzu, dass er, da seine Frau berufstätig ist, tagsüber alleine ist und allein mithilfe des Langstocks kaum Gelegenheit hat, in Kommunikation mit anderen zu treten und so seiner Vereinsamung vorzubeugen. Dementsprechend hat nicht nur der Augenarzt Dr. U, sondern auch der von der Beklagten zur Beurteilung der Erforderlichkeit des Hilfsmittels herangezogene MDK (vgl. § 275 Abs. 3 Nr. 2 SGB V) durch Frau Dr. X die Erforderlichkeit eines Blindenführhundes für den Kläger bejaht und die Bewilligung dieses Hilfsmittels befürwortet. Dem schließt sich die Kammer an.

Soweit die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung ein "Blindenleitgerät (Ultraschallbrille)" angesprochen hat, ist der Kammer nicht ersichtlich, inwieweit dies im Hinblick auf die besonderen beim Kläger vorliegenden Umstände eine Alternative zum Blindenführhund sein sollte. Bereits aus von der Beklagten vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass der zweckentsprechende Gebrauch des Blindengerätes (Brille) einige Anforderungen an den Benutzer stellt und die Eignung zunächst in einem Test zu erfolgen hat, dem sich sodann die Ausbildung im Gebrauch anschließen muss. Auch zur Wirtschaftlichkeit dieses Hilfsmittels im Vergleich zu einem Blindenführhund hat die Beklagte keine Unterlagen vorgelegt. Selbst wenn die Geeignetheit und die Wirtschaftlichkeit eines Blindenleitgerätes beim, Kläger zu bejahen wäre, ist zu berücksichtigten, dass der Versicherte gemäß § 33 SGB I auch beim Sachleistungsprinzip unter verschiedenartigen, aber gleichermaßen geeigneten und wirtschaftlichen Hilfsmitteln die Wahl hat (BSG Urteil vom 03.11.1999 - B 3 KR 16/99 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

KSRE073280817


Informationsstand: 10.03.2003