Urteil
Versorgung mit einem Liegedreirad mit Elektroantrieb

Gericht:

LSG Baden-Württemberg 11. Senat


Aktenzeichen:

L 11 KR 635/20


Urteil vom:

02.02.2021


Grundlage:

Leitsätze:

1. An dem für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alternative SGB V erforderlichen (vorherigen) Antrag auf Versorgung mit einem Liegedreirad fehlt es, wenn sich der gestellte Antrag auf ein anderes Liegedreirad bezog als das später gekaufte Liegedreirad.

2. Ein Liegedreirad mit Elektroantrieb, das seiner Zweckbestimmung nach nicht für die speziellen Bedürfnisse behinderter Menschen entwickelt und hergestellt wurde und das auch nicht ausschließlich oder ganz überwiegend von diesem Personenkreis genutzt wird, ist kein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.

3. Für die Prüfung, ob ein Anspruch auf Kostenerstattung für das selbst beschaffte Liegedreirad als Leistung der Eingliederungshilfe besteht, kommt es auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung des Liegedreirads bzw. der Antragstellung an (BSG 02.02.2012, B 8 SO 9/10 R, SozR 4-5910 § 39 Nr 1, Rn 19; vgl auch LSG Berlin-Brandenburg 12.03.2020, L 15 SO 33/18, Rn 27 - 28 - juris).

4. Wird der Antrag auf die Leistung bei dem erstangegangenen Leistungsträger (hier: die Krankenkasse) erst nach Selbstbeschaffung der Leistung gestellt, scheidet eine Leistung der Eingliederungshilfe nach den §§ 53, 54 SGB XII aF von vornherein aus.

Rechtsweg:

SG Reutlingen, Urteil am 05.12.2019 - S 6 KR 2976/17

Quelle:

Justizportal des Landes Baden-Württemberg

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 05.12.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:


Streitig ist die Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines Liegedreirades mit Elektroantrieb der Marke Hase Kettwiesel 2016 EVO Steps.

Der 1982 geborene Kläger leidet an einem Morbus Ollier mit multiplen Enchondromen (gutartigen Knochentumoren) am linken Arm und linken Bein. Diese haben zur Wachstumsstörungen der Knochen mit daraus resultierenden Verkürzungen (ua Armverkürzung links ca 20 cm, Beugekontraktur linkes Ellenbogengelenk) und massiven Fehlstellungen geführt. Die Beinlängendifferenz wurde operativ korrigiert, doch bestehen weiterhin eine Differenz von 5,5 cm sowie eine Beugekontraktur im linken Kniegelenk. Er verfügt über einen Grad der Behinderung von 80.

Mit Verordnung vom 31.08.2015 verordnete der behandelnde Hausarzt Dr. S. ein Liegedreirad mit Elektromotor der Marke HP Velotech Scorpion FS26 Pedelec. Ergänzend hierzu führte Dr. S. im Schreiben vom 07.08.2015 aus, der Kläger benötige dieses Hilfsmittel zur weiteren Rehabilitation, Mobilitätssteigerung und -erhaltung, zur weiteren Besserung der Beinlängenverkürzung und zum Erreichen der vollen Streckfähigkeit und Durchführung eines adäquaten Ausdauertrainings.

Das Sanitätshaus S. reichte bei der Beklagten den Kostenvoranschlag vom 17.09.2015 über ein entsprechendes Liege-Therapiedreirad mit Zubehör der Marke Scorpion zum Preis von 10.093,33 EUR ein.

Mit Bescheid vom 28.09.2015 lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung ab mit der Begründung, zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehöre der Behinderungsausgleich des Grundbedürfnisses Gehen/Mobilität. Sollten Behinderungen der Fortbewegung in der Wohnung und im näheren örtlichen Umfeld entgegenstehen, seien diese durch mobilisierende Hilfsmittel (zB Rollator, Rollstuhl) zu kompensieren. Dies sei aus den vorliegenden Unterlagen bei dem Kläger nicht ersichtlich. Beweglichkeits- und Muskelkräftigungstherapien sollten unter physiotherapeutischer Anleitung und in anschließender Fortführung zu Hause erfolgen. Sollte der Kläger darüber hinaus Kurbelbewegungen, wie sie beim Fahrradfahren üblich seien, therapeutisch nutzen wollen, könne hier auf den Einsatz handelsüblicher Aktiv-Bewegungstrainer verwiesen werden. Diese seien allerdings als Sportgeräte Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und fielen somit in den Bereich der wirtschaftlichen Eigenverantwortung.

Der Kläger legte hiergegen mit der Begründung Widerspruch ein, er bitte um Finanzierung des Hilfsmittels als Hilfe zur Selbsthilfe, um weiterhin Training machen zu können (statt Physiotherapie und Reha), am normalen Leben teilzunehmen (statt Rollstuhl und Krücken) und nachhaltig seine Gesundheit zu erhalten. Diese Investition sei hilfreicher und sachdienlicher als die kostenintensiven Dinge im Leistungskatalog.

Die Beklagte holte die Auskunft des Chirurgen Prof. Dr. B. vom 25.02.2016 ein. Dieser führte aus, die Defizite im Bereich des linken Armes und des linken Beines hätten dazu geführt, dass der Kläger in seiner Mobilität eingeschränkt sei. In der Wohnung sei eine Fortbewegung ohne Krücken möglich. Außerhalb des häuslichen Bereichs sei je nach Tagesform eine Strecke zwischen 50 und 500 m möglich. Längere Strecken würden mit einem Fahrrad zurückgelegt. Durch die Verkürzung des linken Armes sei jedoch eine normale Haltung auf dem Fahrrad nicht möglich. Der Kläger sei gezwungen, schräg auf dem Fahrrad zu sitzen, was zu Haltungsschäden, Balanceschwierigkeiten und einer Unfallgefährdung führe. Es bestehe daher die medizinische Indikation zur Versorgung des Klägers mit einem Liegefahrrad mit Elektrounterstützung. Dieses biete ihm die nötige Sicherheit, Flexibilität und Teilhabe am Leben, da hierdurch auch längere Strecken zurückgelegt werden könnten. Zudem könnten weitere Haltungsschäden dauerhaft verhindert werden. Durch die zunehmende Mobilität werde die Rehabilität gefördert, der Kläger könne seine Kraft und Beweglichkeit im linken Bein steigern und damit die Streckfähigkeit im Knie verbessern.

Hierzu holte die Beklagte ein Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK Bayern) vom 12.04.2016 ein, in dem Dr. M.-W. ausführte, es bestehe bei dem Kläger eine medizinische Indikation für regelmäßige physiotherapeutische Maßnahmen. Ergänzend hierzu wäre auch im Rahmen der Eigengesundheitsvorsorge tägliches Training mit handelsüblichen Sportgeräten auch in einem entsprechenden Fitnessstudio. Sofern die Gehfähigkeit mit Gehilfe im näheren Wohnumfeld eingeschränkt sei, solle anstelle der Unterarmgehstützen ein Rollator genutzt werden. Sollte auch dieser nicht ausreichen, die Mobilität im Nahbereich sicherzustellen, wäre ein Krankenfahrzeug indiziert. Es bestehe jedoch keine medizinische Indikation für ein Liegefahrrad mit elektrischer Unterstützung. Nachteile bei dem beantragten Liegefahrrad seien die deutlich eingeschränkte Nutzungsmöglichkeit sowohl durch das Wetter, die Jahreszeit als auch den Straßenverkehr. Das beantragte Produkt sei weder erforderlich zur Sicherung der Krankenbehandlung noch zum Ausgleich oder zur Vorbeugung einer Behinderung und übersteige das Maß des Notwendigen erheblich.

Der Kläger führte hierzu aus, mit Achselgehstöcken zu gehen sei sehr mühsam. Weite Strecken seien nicht machbar. Mit einem Rollstuhl sei aufgrund des verkürzten linken Armes und der bergigen Umgebung auch keine weite Distanz möglich. Einen Elektrorollstuhl lehne er ab. Er wolle seine Einschränkung überwinden und nicht kapitulieren. Er habe 1997 schon einmal ein ähnliches Therapierad verordnet bekommen, das durch die Beihilfe über seinen Vater erstattet worden sei und ihm ganze 15 Jahre gedient habe. Wartung, Pflege und Ersatzteile habe er vollständig übernommen. Für sein Bein sei Radfahren genau das Richtige zur Mobilisierung und Erweiterung der Streckung. Er wolle hier eine weitere Operation mittels externen Fixateurs vermeiden.

Im März 2016 erlitt der Kläger eine Unterschenkelfraktur links, woraufhin die Beklagte den Kläger mit einem Leichtgewichtsrollstuhl versorgte (vgl Bl 44 b Verwaltungsakte Bd I).

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, das Liegedreirad sei nicht erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder einer drohenden Behinderung vorzubeugen, da hierzu Maßnahmen der physikalischen Therapie wie krankengymnastische und ergotherapeutische Behandlungen sowie andere, eigenverantwortliche Aktivitäten zu Verfügung stünden. Das Dreirad sei auch nicht erforderlich, um eine Behinderung auszugleichen, da es zum einen in seiner Nutzungsmöglichkeit deutlich eingeschränkt sei und zum anderen Unterarmgehstützen, ein Rollator bzw ggf ein Krankenfahrzeug genutzt werden könnten.

Im Januar 2017 kaufte sich der Kläger bei der Firma f..com ein Liegedreirad mit Elektrounterstützung der Marke Hase Kettwiesel 2016 EVO Steps zum Preis von 9090,00 EUR (Rechnung vom 13.01.2017) zzgl Zubehör (Schwalbe Marathon Winter 168 Spikes - 95,70 EUR, Rechnung der Firma B.-Discount vom 17.01.217; Gepäckträgerakku - 699 EUR, Rechnung der Firma f..com vom 25.01.2017; Continental Explorer Sport MTB-Drahtreifen, Reifenheber - 55,40 EUR, Rechnung der Firma B. vom 03.03.2017), insgesamt 9.907,75 EUR.

Am 07.04.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten zunächst telefonisch und anschließend mit Schreiben vom 12.05.2017 schriftlich unter Beifügung sämtlicher Rechnungen die Übernahme der Kosten in Höhe von 9.307,35 EUR (Anschaffungskosten abzüglich eines Eigenanteils in Höhe von 600 EUR für die Anschaffung eines handelsüblichen Fahrrades). Er legte hierzu zum einen eine neue Verordnung vom 07.04.2017 des Prof. Dr. B. vor (Verordnung eines therapeutischen Liegedreirads mit Elektrounterstützung) und zum anderen ein ärztliches Attest vom 07.04.2017 des behandelnden Hausarztes Dr. K., wonach ein Rollstuhl oder Rollator nicht möglich seien und ein Elektrorollstuhl durch Passivität zur weiteren Verschlimmerung der Kontrakturen beitrage. Das beantragte Hilfsmittel diene der Sicherung der Therapieziele, insbesondere nach der Unterschenkelfraktur im März 2016, und sei zweckmäßig und wirtschaftlich. Eingereicht wurden zudem ein weiteres Schreiben vom 31.03.2017 des Prof. Dr. B., worin dieser im Wesentlichen seine bisherigen Argumente für die Notwendigkeit der Versorgung mit dem Liegedreirad wiederholte, sowie ein Schreiben des Fahrradgeschäftes f..com, worin dieses die Versorgung des Klägers gerade mit einem Liegedreirad der Firma Hase Kettwiesel begründete (Sitzposition, Lenkerergonomie).

Mit Bescheid vom 01.06.2017 lehnte die Beklagte den Antrag wiederum ab mit der Begründung, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung würden grundsätzlich nach dem Sachleistungsprinzip erbracht, ein Kostenerstattungsverfahren schließe der Gesetzgeber als Regelverfahren aus. Bei einem Therapierad/Liegerad handele es sich bei Erwachsenen um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, welcher keine Leistungsverpflichtung der GKV begründe.

Der Kläger legte hiergegen mit der Begründung Widerspruch ein, es handle sich um ein speziell adaptiertes Therapie-Liegedreirad. Ein Dreirad sei etwas gänzlich anderes als ein Fahrrad. Er beantrage ausdrücklich eine persönliche Untersuchung durch den MDK. Er leide an einem seltenen Krankheitsbild.

In seinem Beschwerdeschreiben vom 09.06.2017 an das Bundesversicherungsamt (seit 01.01.2020: Bundesamt für Soziale Sicherung) und die Beklagte führte der Kläger ua aus, er halte die erste Ablehnung aus formalen und inhaltlichen Gründen für falsch. Nach der Beantragung am 17.09.2015 habe die Beklagte erst am 12.04.2016 ein Gutachten eingeholt. Er gehe allein deswegen von einer Genehmigungsfiktion aus. Außerdem diene das Therapiedreirad in seinem Fall auch der Vorbeugung einer weiteren Behinderung. Zur weiteren Begründung legte der Kläger verschiedene Rechtsvorschriften und Auszüge aus der Rechtsprechung vor und trug vor, das Hilfsmittel sei zweckmäßig und notwendig, weil der Therapieeffekt anderer Maßnahmen nicht ausreiche und andere Hilfsmittel wie der vorgeschlagene Elektrorollstuhl die Distanzen an seinem Wohnort im Nahbereich nicht überwinden könnten. Das Hilfsmittel sei auch wirtschaftlich. Er legte dazu eine Aufstellung vor, wonach die Anschaffung eines Elektrorollstuhls sowie die Fahrtkosten zur Physiotherapie einmal in der Woche die Anschaffungskosten des Liegedreirades weit übersteigen würden. Er habe bei vorliegender Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen aG Anspruch auf einen Krankentransport zur Physiotherapie. Mit dem Rad könne er die örtliche Praxis gut eigenständig erreichen.

Die Beklagte holte daraufhin ein weiteres Gutachten beim MDK Baden-Württemberg (MDK) vom 31.08.2017 ein. Darin wird ausgeführt, laut Leistungsauszug der Kasse seien bisher keine Heilmittelverordnungen erfolgt. Der Kläger sei im April 2016 mit einem Leichtgewicht-Rollstuhl versorgt worden, außerdem seien Achselstützen genehmigt worden. Hierdurch sei der Anspruch auf Basisausgleich erfüllt. Die Wohnsituation könnte als Argumentation für die Kostenübernahme nicht berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung sei die Kasse nicht für solche Hilfsmittel zuständig, die ein dauerhaft behinderter Versicherter allein wegen seiner individuellen Wohnsituation benötige.

Der Kläger kündigte seine Mitgliedschaft bei der Beklagten mit Wirkung zum 31.10.2017. Mit Schreiben vom 12.09.2017 wies er darauf hin, er habe den Rollstuhl, seit er nicht mehr in M. wohne, zurückgegeben, weil mit diesem im bergigen F. eine Fortbewegung nicht möglich sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2017 wies die Beklagte aus den vom MDK genannten Gründen den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde außerdem ausgeführt, für das selbst beschaffte Liege-Therapierad könne der Kläger schon aus Rechtsgründen keine Erstattung verlangen, da die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht vorliegen würden.

Hiergegen hat der Kläger am 12.12.2017 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben.

Das SG hat die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Prof. Dr. B. hat mit Schreiben vom 20.11.2018 über die Behandlung des Klägers seit 2006, zuletzt am 23.02.2018, berichtet und ausgeführt, es seien im Verlauf zahlreiche Operationen durchgeführt worden. Derzeit seien bis auf das Therapie-Liegedreirad keine weiteren Hilfsmittel erforderlich. Mit Schreiben vom 04.12.2018 hat Dr. K. als Hausarzt des Klägers dargelegt, nach Verordnung des Therapiedreirades seien dem Kläger im Jahr 2018 Stockkapseln für die vorhandenen Gehstöcke und manuelle Therapie verordnet worden. Außerdem sei eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt worden. Durch das regelmäßige Durchführen der erlernten Übungen in der Reha sowie das regelmäßige Trainieren der Beinmuskulatur am Therapierad sei ein deutlicher Fortschritt der Mobilität entstanden, die Gangsicherheit habe sich verbessert, eine bessere Stabilität und Koordination beim Gehen seien erreicht worden. Das Therapierad sei Bestandteil der Therapie. Dr. K. hat einen Rehaentlassungsbericht vom 27.07.2018 über eine vom Rentenversicherungsträger finanzierte Rehabilitationsmaßnahme im Reha-Zentrum S. vom 22.06.2018 bis 19.07.2018 vorgelegt (Bl 46 ff SG-Akte).

Die Beklagte hat ein weiteres Gutachten des MDK (A. R.) vom 22.05.2019/15.07.2019 nach Aktenlage eingeholt, wonach sich in den Unterlagen eine gute individuelle Nutzung sowie Zunahme der Selbständigkeit und Teilhabe am sozialen Leben durch das Therapiedreirad darstelle. Eine medizinische Notwendigkeit zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung oder Bestandteil eines ärztlichen Behandlungsplanes könne gutachterlicherseits indes nicht nachvollzogen werden.

Der Kläger hat vorgetragen, seine Mobilität werde primär durch das streitgegenständliche Therapiedreirad sichergestellt. Ein Rollstuhl komme für ihn nicht in Betracht. Das Therapiedreirad sei auch Bestandteil der Krankenbehandlung, wie Dr. K. bestätigt habe. Der Kläger sei seit 2016 nicht mehr mit einem Rollstuhl versorgt, weil er diesen mit einem Arm nicht bedienen könne. Er hat hierzu noch die ärztliche Bescheinigung von Dr. K. vom 30.08.2019 vorgelegt, wonach es zum Erhalt der bisher erreichten Beweglichkeit des linken Beines notwendig sei, dass der Kläger täglich mindestens 30 Minuten lang mit dem Liegerad trainiere und außerdem selbständig seine erlernten Übungen durchführe sowie intermittierend Physiotherapie. Aus psychologischer Sicht sei die Bewegung in der Natur notwendig als Pendant zur achtstündigen Arbeit zu Hause. Weiterhin hat der Kläger eine Bescheinigung der Physiotherapeutin B. vorgelegt, worin diese ausgeführt hat, den Kläger seit 2019 zu behandeln. Es komme nach längerem Gehen ab ca. 1,5 km zu Verhärtungen der Muskulatur im Oberschenkel. Die Fortbewegung mit einem speziell adoptierten Liegedreirad mit Elektrounterstützung sei gegenüber einem Elektrorollstuhl die deutlich bessere Alternative. Das Hilfsmittel sei aus Sicht der Physiotherapie ein wichtiger Baustein des ganzheitlichen Therapiekonzeptes, das den Erfolg der Behandlung sichere. Die Benutzung führe zum Tonusaufbau der atrophierten Bein- und Rumpfmuskulatur, Gleichgewicht und Koordination würden gefördert, ebenso wie Ausdauer, Sozialkontakt und Eigenversorgung. Durch die maximale Extension und Flexionsbewegung des Kniegelenkes werde eine Versorgung mit einer Knieschiene hinfällig. In einem konventionellen Fitnessstudio zu trainieren, sei dem Kläger wegen der Bein- und Armlängendifferenz nicht möglich, doch sei Sport enorm wichtig, um einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes entgegenzuwirken, gerade bei einem Beruf im Sitzen.

Mit Urteil vom 05.12.2019 hat das SG die Klage, die sich zuletzt nur noch auf Kostenerstattung in Höhe von 6.500 EUR (Abzug für die Anschaffung eines üblichen Fahrrades in Höhe von 2.500 EUR) richtete, abgewiesen. Nach der Rechtsprechung sei die Versorgung des Klägers mit dem Dreirad zum Behinderungsausgleich nicht zu Lasten der GKV erforderlich. Die Versorgung sei auch nicht zur Sicherung der Krankenbehandlung erforderlich, da sich aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen und Auskünften kein enger Bezug zur Krankenbehandlung im Sinne der Rechtsprechung ergebe. Die Beklagte habe die Rücknahme des Bescheides vom 28.09.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.07.2016 gem § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu Recht abgelehnt. Eine Genehmigungsfiktion sei nicht eingetreten. Die Beklagte habe über den Antrag des Klägers innerhalb von drei Wochen entschieden. § 13 Abs 3a SGB V gelte nicht im Widerspruchsverfahren. An der vom Kläger gewünschten Einzelfallentscheidung sehe sich das Gericht durch die ständige sozialgerichtliche Rechtsprechung gehindert.

Gegen das seinem Bevollmächtigtem am 23.01.2020 zugestellte Urteil richtet sich die am 21.02.2020 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingereichte Berufung mit der Begründung, ein gegen die Beklagte gerichteter Anspruch auf Versorgung mit einem Therapie-Dreirad als Hilfsmittel der GKV bestehe unter dem Gesichtspunkt des Behinderungsausgleichs. Ein Therapie-Dreirad sei in Bezug auf erwachsene Versicherte ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs 1 SGB V, denn Hilfsmittel seien alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sicherten, einer drohenden Behinderung vorbeugten oder eine bestehende Behinderung ausglichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicherzustellen sei. Diese Voraussetzungen erfülle ein Therapie-Dreirad, denn die Hilfsmitteleigenschaft werde allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale - wie zB das Alter des Versicherten - seien hierfür nicht maßgeblich. Bei dem Kläger solle das Therapie-Dreirad die bestehende Behinderung ausgleichen. Die medizinische Komponente für das Therapieliegedreirad sei gegeben, da es Teil eines Behandlungsplanes sei; es würde ohne das Therapieliegedreirad die Verschlimmerung der Behinderung drohen. Außerdem könne der Kläger mit dem Therapie-Dreirad jedenfalls Strecken zurücklegen, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegen könne. Das Therapie-Dreirad seit auch nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (§ 33 SGB V) von der Sachleistungspflicht der GKV ausgenommen, da es sich um ein speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen entwickeltes Fahrzeug handele. Neben dem Anspruch aus dem SGB V bestehe zudem auch ein Anspruch gemäß §§ 53, 54 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), denn danach erhielten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht seien, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht bestehe, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden könne. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe sei es gemäß § 53 Abs 3 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehöre insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Da der Kläger aufgrund seiner Bewegungseinschränkungen in seiner Fähigkeit, sich auch ohne fremde Hilfe außerhalb seiner Wohnung fortzubewegen und am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben, begrenzt sei, stünden ihm Leistungen zur Eingliederung in die Gesellschaft nach §§ 53, 54 SGB XII iVm § 55 SGB IX zu. Das Sozialgericht habe außer Acht gelassen, dass dann, wenn von anderen Sozialleistungssystemen das beantragte Therapieliegedreirad hätte gewährt werden müssen, gemäß § 14 SGB IX die Beklagte den Leistungsantrag hätte weitergeben müssen. Da die Beklagte den Antrag nicht etwa an den Leistungsträger für Eingliederungshilfe weitergegeben habe, sei sie zur Leistung verpflichtet geblieben nach den Regelungen des SGB XII iVm § 14 Abs 2 SGB IX. Eine Leistungspflicht im Rahmen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft komme grundsätzlich immer in Betracht, wenn das beantragte Hilfsmittel nicht als Leistung der medizinischen Rehabilitation bewilligt werden könne. Die Anschaffung des Therapiedreirades müsse auch im Rahmen der Hilfeplanung mit geeigneten Maßnahmen unterstützt werden, damit die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft hierdurch auch tatsächlich gefördert werde.

Mit Beschluss vom 05.10.2020 hat der Senat den Landkreis Tuttlingen als für die Eingliederungshilfe zuständigen Träger zum Verfahren beigeladen.


Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts vom 05.12.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 01.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 28.09.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2016 zurückzunehmen und ihm für die Anschaffung des Therapie-Liegedreirads Kosten in Höhe von 6.500,- Euro zu erstatten.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat ausgeführt, sich den Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie im angefochtenen Urteil des SG anzuschließen. Radfahren gehöre grundsätzlich nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Das Bundessozialgericht (BSG) führe aus, unter der Erschließung eines "gewissen körperlichen Freiraums" sei lediglich ein Basisausgleich der Behinderung selbst zu verstehen und nicht das vollständige Gleichziehen mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten eines Gesunden. Im Hinblick auf die Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen habe das BSG die dargestellten Grundsätze jedoch eingeschränkt, soweit das die Funktion eines Fahrrades ersetzende Hilfsmittel zur sozialen Einbindung in eine Gruppe gleichaltriger gesunder Kinder benötigt werde. Auch diene das Liege-/Therapiedreirad mit Elektrounterstützung nicht der Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung. Zur Erreichung therapeutischer Ziele stünden vor allem Maßnahmen der physikalischen Therapie zur Verfügung, wodurch eine ausreichende und sogar zielgerichtetere Behandlung möglich sei. Die beantragte Versorgung sei nicht geeignet und nicht erforderlich, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Ein Leistungsanspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung bestehe demnach nicht. Ergänzend hat die Beklagte dargelegt, der Antrag auf Kostenerstattung des Liege-/Therapiedreirades mit Elektrounterstützung sei vom Kläger und Berufungskläger nicht zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gestellt worden, sondern explizit zum Ausgleich der Behinderung, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Hierzu werde auf das bei Antragstellung beigefügte ärztliche Attest vom 07.04.2018 verwiesen (Blatt 13 und 14 der VA). Auf Nachfrage des Senats hat die Beklagte ausgeführt, der Kläger habe von 2015 bis zur Beendigung der Mitgliedschaft keine Heilmittelleistungen in Anspruch genommen.


Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Er hat dargelegt, bis zum 31.12.2019 habe gem § 18 Abs 1 SGB XII Sozialhilfe nur eingesetzt, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt werde, dass die Voraussetzungen für die Leistungen vorlägen. Dem Beigeladenen sei der Antrag des Klägers bis zum Beiladungsbeschluss vom 05.10.2020 nicht bekannt gewesen. Deshalb gebe es bis zum 31.12.2019 keine Möglichkeit, die begehrte Leistung des Liegedreirades im Rahmen der Eingliederungshilfe zu gewähren. Seit dem 01.01.2020 würden mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 108 Abs 1 SGB IX nur auf Antrag erbracht. Eines Antrages bedürfe es gemäß § 108 Abs 2 SGB IX nicht für Leistungen, deren Bedarf in einem Gesamtplanverfahren nach Kapitel 7 des SGB IX ermittelt worden sei. Weder ein Antrag noch ein Gesamtplan lägen der Beigeladenen vor. Selbst bei gestelltem Antrag komme nach § 18 Abs 7 SGB IX eine Erstattung nach neuem Recht nicht in Betracht.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:


Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG), ist zulässig, aber unbegründet, da das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten 01.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2017, worin die Beklagte es abgelehnt hat, die Kosten für die Anschaffung des Liegedreirades der Marke Hase zu übernehmen. Diese Ablehnung erfolgte zu Recht. Die hiergegen gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig, aber nicht begründet.

Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 Satz 1, 1. Alt SGB V des bei der Beklagten versicherten Klägers scheidet aus. Nach § 13 Abs 3 Satz 1, 1. Alt SGB V sind von den Krankenkassen die Kosten für eine selbst beschaffte Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte. Unaufschiebbar ist eine Leistung allerdings nur dann, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich war, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr bestand, um vor der Beschaffung eine Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten (BSG 24.04.2018, B 1 KR 29/17 R, Rn 22 - juris). Für eine derartige Dringlichkeit sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.

Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs 3 Satz 1, 2. Alt SGB V. Danach sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung, soweit die Leistung notwendig war, zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Eine Ablehnung "zu Unrecht" liegt nur vor, wenn ein entsprechender Naturalleistungsanspruch auf die beschaffte Leistung besteht, da ein Kostenerstattungsanspruch nicht weiterreicht als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch (vgl BSG 17.12.2019, B 1 KR 18/19 R, Rn 8 - juris). Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers ist somit, dass das selbstbesorgte Liegedreirad der Firma Hase zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben, und dass die Beklagte seinen Antrag auf Versorgung mit diesem Hilfsmittel zuvor zu Unrecht abgelehnt hat, somit Kausalität zwischen Ablehnung und Selbstbeschaffung vorliegt. Beide Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Zum einen fehlt es bereits an einem vorherigen Antrag auf Versorgung mit dem Liegedreirad der Firma H. und damit an der fehlenden Kausalität zwischen Antragsablehnung und Selbstbeschaffung. Der Kläger hat es versäumt, die Versorgung gerade mit diesem Liegedreirad zuvor bei der Beklagten zu beantragen. Vielmehr hat er sich das Liegedreirad im Januar 2017 besorgt und erst am 20.04.2017 telefonisch bzw am 12.05.2017 einen Antrag auf Kostenerstattung gestellt. In der Beantragung der Versorgung mit dem Liegedreirad der Marke Scorpion FS 26 im Jahr 2015 liegt nicht zugleich die Beantragung der Versorgung mit dem tatsächlich gekauften Liegedreirad der Firma H., da es sich um Liegedreiräder verschiedener Fabrikate handelt. Es kann auch nicht argumentiert werden, Gegenstand des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens im Jahr 2015/2016 sei die Versorgung mit einem Liegedreirad als solchem gewesen - unabhängig von einer speziellen Marke. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass sich die Argumentation der Beklagten im Verwaltungsverfahren in 2015/2016 und auch die Ausführungen des MDK zumeist auf die allgemeine Versorgung mit Liegedreirädern beziehen und nicht immer einen Bezug zu einer speziellen Fahrradmarke herstellen. Jedoch hatte der Kläger nicht nur eine Verordnung mit konkreter Benennung des Liegedreirades Velotech Scorpion FS 26 Pedelec vom 07.08.2015 vorgelegt, sondern auch ausdrücklich einen entsprechenden Kostenvoranschlag der Firma S. über eben dieses spezielle Liegedreirad bei der Beklagten eingereicht. Dementsprechend war auch nur genau dieses Liegedreirad Gegenstand des Verwaltungsfahrens in 2015/2016 und findet sich auch im Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 28.09.2015 der Name ebendieses Gerätes. Die Beklagte hat somit zwar die Versorgung mit dem Liegedreirad des Herstellers Scorpion abgelehnt, nicht aber zugleich auch die Versorgung mit allen anderen Liegedreirädern bzw speziell mit dem des Herstellers H.. Vor dem Kauf des Liegedreirades der Firma H. unterließ es der Kläger, sich (erneut) an die Beklagte zu wenden und das nun begehrte Hilfsmittel zu beantragen. Insofern scheitert die Erstattung der Kosten an der fehlenden Kausalität.

Zum anderen fehlt es - jedenfalls überwiegend - auch an einem Sachleistungsanspruch gem § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Ein Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln besteht nur, soweit das begehrte Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V gelistet ist, denn es handelt sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste (BSG 07.10.2010, B 3 KR 5/10 R, Rn 11 - juris).

Vorliegend handelt es sich bei dem angeschafften Liegedreirad mit Elektroantrieb der Firma H. um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V schon von Gesetzes wegen von der Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen ist. Die Einordnung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens hängt davon ab, ob ein Gegenstand seiner Konzeption nach den Zwecken des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V dienen soll oder - falls dies nicht so ist - den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommt und von körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird (BSG 07.10.2010, B 3 KR 5/10 R, Rn 25 - juris). Die Krankenversicherung deckt nur den Sonderbedarf von Kranken und Behinderten. Hingegen ist ein Gegenstand, mag er auch Kranken und/oder Behinderten in hohem Maße helfen, nicht als Hilfsmittel der Krankenversicherung zu gewähren, wenn er bereits von seiner Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und/oder Behinderte gedacht ist (BSG 24.09.2002, B 3 P 125/01 R, Rn 14 - juris). Abzustellen ist für die Unterscheidung nach der bundessozialgerichtlichen Rechtsprechung auf die Zweckbestimmung des Gegenstandes, die einerseits aus der Sicht der Hersteller, andererseits aus der Sicht der tatsächlichen Benutzer zu bestimmen ist: Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker und behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden sind und die ausschließlich oder ganz überwiegend auch von diesem Personenkreis benutzt werden, sind danach nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen, selbst wenn sie, wie zB Brillen oder Hörgeräte, millionenfach verbreitet sind; umgekehrt ist ein Gegenstand auch bei geringer Verbreitung in der Bevölkerung und trotz eines hohen Verkaufspreises nach der Rechtsprechung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen, wenn er schon von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht ist (Ursula Waßer, in: Horst Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Loseblatt, Stand der Bearbeitung: Mai 2017, § 33 SGB V Rn 148 mwN auf die Rechtsprechung). Handelt es sich hingegen um einen Gegenstand, der zwar allgemein als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens angesehen wird, in seiner konkret zu beurteilenden Form und Gestaltung aber so erheblich von diesem abweicht, weil er für die Zwecke behinderter Menschen weiterentwickelt oder umgewandelt und deshalb nicht mehr ebenso benutzbar ist wie im Alltag nicht behinderter Menschen, dann liegt ein Hilfsmittel vor (BSG 15.11.2007, B 3 P 9/06 R, Rn 18 - juris).

Das hier streitige Liegedreirad des Typs "Hase Kettwiesel 2016 EVO Steps" wird vom Unternehmer H. für den Gebrauch durch Jedermann hergestellt und auch so beworben ("Hightech-Trike zum Asphaltsurfen", "vollgefederte Spaßmaschine", https://h.com/files/ _b_kettwieselevosteps_de_final.pdf; "seit Jahren Inbegriff für sportliche Trikes der Extraklasse", https://h.com/143-0-L.html; ebenso auch BSG, 24.05.2006, B 3 KR 16/05 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 12, Rn 17). Die Benutzung vorwiegend durch Gesunde zeigen auch die Fotos auf der Homepage des Herstellers (vgl https://h.com/143-0-Liegerad-.html). Dementsprechend hat der Kläger dieses Fahrrad auch nicht bei einem Hilfsmittelanbieter, etwa einem Sanitätshaus, gekauft, sondern in einem Fahrradgeschäft mit dem Namen "f..com", das nach der Homepage (vgl https://f..com/fahrrad-typen.html) Fahrräder zwar auch ausdrücklich anbietet für den Bereich "Reha Kinder" und "Reha Erwachsene", aber ebenso für die Bereiche "Familie + Kinder", "Alltag + Pendeln", "Senioren", "Sport", "Warentransport", "Hundetransport" und damit hauptsächlich für nichtbehinderte Menschen. Dieses hier im Streit stehende Liegedreirad unterscheidet sich damit wesentlich von Dreirädern, die entweder individuell im Hinblick auf die auszugleichenden Behinderungen des Nutzers konstruiert werden (vgl BSG 07.10.2010, B 3 KR 5/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 32, Rn 25) oder die ihrer Art nach tatsächlich nur von behinderten Menschen benutzt zu werden pflegen, etwa weil sie von vornherein als Behindertenfahrrad zu erkennen sind und nicht den sportlichen Charakter des hier streitigen Trikes bieten (vgl BSG 07.10.2010, B 3 KR 5/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 32, Rn 25, zum Dreirad "Easy Rider 2"). Insofern handelt es sich nach Überzeugung des Senats bei dem hier ausgewählten Liegedreirad um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Gleiches gilt für den Großteil des Zubehörs (zB Regenponcho, Rücklicht, Reifen, vgl Rechnung vom 13.01.2017 der Firma f..com, sowie weitere Rechnungen über Zubehör der Firma B.-Discount vom 17.01.2017 und B. GmbH vom 03.03.2017). Lediglich das Reha-Zubehör in Form zweier Halter für die Gehhilfen (Kosten 173,80 EUR) sowie einer Lenkerverlängerung (Kosten 39 EUR) ist nicht als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens zu qualifizieren, da es tatsächlich nicht von Gesunden verwendet wird. Diesbezüglich scheitert eine Kostenerstattung allerdings wie dargelegt an der fehlenden vorherigen Antragstellung.

Ein Anspruch auf Kostenerstattung gem § 13 Abs 3 SGB V besteht somit nicht.

Auch ein Anspruch nach § 13 Abs 3a SGB V kommt ebenfalls nicht in Betracht. Danach ist die Krankenkasse zur Erstattung der entstandenen Kosten verpflichtet, wenn sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist des Abs 3a eine erforderliche Leistung selbst beschaffen. Bereits dem Wortlaut nach sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt, da sich der Kläger die Leistung nicht nach Ablauf einer Frist, sondern schon vor Antragstellung selbst beschafft hat. Im Übrigen ist diese Vorschrift auf Geldleistungen einschließlich solcher aus sachleistungsersetzender Kostenerstattung nach Leistungsinanspruchnahme ohnehin nicht anwendbar (Noftz in: Hauck/Noftz, SGB, 07/19, § 13 SGB V, Rn 58d unter Verweis auf Rieker, NZS 2015, 294, 295, li. Sp. und BSG 08.03. 2016, B 1 KR 25/15 R, BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33 = SGb 2016, 592 = NZS 2016, 464, jew Rn 11).

Die Anwendung von § 44 SGB X hilft hier nicht weiter. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Da die Beklagte - wie ausgeführt - mit Bescheid vom 28.09.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2016 lediglich über die Versorgung mit dem Liegedreirad der Marke Scorpion entschieden hat, dieses Rad aber nicht Gegenstand des jetzigen Antrags ist, kommt es auf eine Prüfung des § 44 SGB X hier nicht an.

Der Kläger kann die streitige Kostenerstattung auch nicht als Leistung der Eingliederungshilfe verlangen. Nach § 14 Abs 2 SGB IX in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung (vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 33 Rn 9) ist die Beklagte als unzuständiger Leistungsträger auch für die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuständig, denn sie hat den Antrag nicht innerhalb der Fristen des Abs 1 weitergeleitet (BSG 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 35 Rn 20). Damit verliert der materiell-rechtlich - eigentlich - zuständige Rehabilitationsträger im Außenverhältnis zum Versicherten oder Leistungsempfänger seine Leistungszuständigkeit für eine Teilhabeleistung, sobald der zuerst angegangene Rehabilitationsträger (hier: die beklagte Krankenkasse) eine iS von § 14 Abs 1 SGB IX fristgerechte Zuständigkeitsklärung versäumt hat und demzufolge die Zuständigkeit nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen auf ihn übergegangen ist. Sinn dieser Regelung ist es, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit schnell und dauerhaft zu klären und so Nachteilen des gegliederten Systems entgegenzuwirken (BSG 20.11.2008, B 3 KN 4/07 KR R, BSGE 102, 90-101, SozR 4-2500 § 33 Nr 21, Rn 23 unter Verweis auf BT-Drucks 14/5074, S 95 zu Nr 5 und S 102 f, zu § 14). Insofern ist zu prüfen, ob eine Kostenerstattung durch die Beklagte unter Eingliederungsgesichtspunkten in Betracht kommt. Grundsätzlich ist für die materiell-rechtliche Beurteilung einer auf Anfechtung der Leistungsablehnung in Verbindung mit einem konkreten Leistungsbegehren gerichteten Klage die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz maßgebend (vgl stRspr; zB BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 Rn 13 mwN) mit der Folge, dass in Bezug auf Leistungen der Eingliederungshilfe auch die Rechtsänderungen durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG vom 23.12.2016) zu beachten sind. Hierdurch wurde das Recht der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff SGB XII zum 01.01.2020 durch das BTHG aus dem SGB XII herausgelöst und in das neugefasste SGB IX integriert. Vorliegend besteht jedoch die Besonderheit, dass der Kläger von vornherein einen Antrag auf Kostenerstattung gestellt hat (s hierzu ausführlich LSG Berlin-Brandenburg 07.02.2019, L 15 SO 183/15, Rn 87 - juris) und damit eine Leistung für die Vergangenheit geltend macht. In einem solchen Fall kommt es auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung des Liegedreirades bzw seiner Antragstellung an (BSG 02.02.2012, B 8 SO 9/10 R, SozR 4-5910 § 39 Nr 1, Rn 19; vgl auch LSG Berlin-Brandenburg 12.03.2020, L 15 SO 33/18, Rn 27 - 28 - juris). Der Anspruch des Klägers richtet sich deshalb nach den §§ 53, 54 SGB XII (in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 55 Abs 2 Nr 1 und Nr 7 SGB IX (in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung). Der Senat kann offenlassen, ob vorliegend die Versorgung mit dem Liegedreirad notwendig ist, um die in § 53 Abs 1, Abs 3 SGB XII aF genannten Ziele zu erreichen. Jedenfalls scheitert ein Anspruch des Klägers auch hier an der fehlenden vorherigen Antragstellung. Anders als im Recht der Krankenversicherung ist zwar nicht ein Abwarten der Leistungsablehnung erforderlich, wenn sich der Anspruch von vornherein auf eine Geldleistung richtet und § 15 Abs 1 Satz 4 SGB IX (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung) nicht in Betracht kommt (BSG 02.02.2012, B 8 SO 9/10 R, SozR 4-5910 § 39 Nr 1, Rn 21; LSG Berlin-Brandenburg 12.03.2012 aaO). Allerdings setzen Leistungen nach dem SGB XII gemäß § 18 Abs 1 SGB XII - mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - erst ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Kenntnis iSv § 18 Abs 1 SGB XII setzt die positive Kenntnis aller Tatsachen voraus, die den Leistungsträger in die Lage versetzen, die Leistung - gegebenenfalls nach Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen und etwaigen Ermittlungen durch den Sozialhilfeträger - zu erbringen. Für Zeiten vor einer entsprechenden Kenntniserlangung kann ein Anspruch auf Sozialhilfe nicht (mehr) geltend gemacht werden (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl, § 18 SGB XII (Stand: 01.02.2020), Rn 16). Vorliegend hat der Kläger die Kostenerstattung erst im April/Mai 2017 gegenüber der Beklagten beantragt und damit Monate nach Anschaffung des Liegedreirades im Januar 2017. Die Beigeladene erfuhr sogar erst im Rahmen der Beiladung vor dem LSG von der Versorgung des Klägers mit dem hier streitigen Liegedreirad, mithin mehr als drei Jahre nach dem Kauf desselben.

Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass es grundsätzlich bei Anwendung des § 14 SGB IX aF nicht mehr auf die Vorschrift des § 18 SGB XII ankommt. Zwar spielt es wegen der im Außenverhältnis zum Versicherten neubegründeten Zuständigkeit des erstangegangenen Leistungsträgers (hier der Krankenversicherung) naturgemäß keine Rolle, wenn der Träger der Sozialhilfe nichts von einem Antrag des Versicherten bzw ggf von dessen Hilfebedarf wusste (BSG 14.05.2014, B 11 AL 6/13 R, SozR 4-3500 § 14 Nr 1, Rn 21), da anderenfalls die Vorschrift des § 14 SGB IX nicht die erwünschte Wirkung hätte. Dies ist jedoch anders, wenn auch der Antrag bei dem erstangegangenen Leistungsträger erst nach Selbstbeschaffung der Leistung gestellt wird. Anderenfalls wäre derjenige, der sich verspätet an den falschen Leistungsträger - hier die Krankenversicherung - wendet, besser gestellt als derjenige, der seinen Antrag - ebenfalls verspätet - direkt an den Sozialhilfeträger richtet.

Im Ergebnis kommt daher weder eine Kostenerstattung nach dem SGB V noch nach dem Recht der Eingliederungshilfe in Betracht. Ein Anspruch auf Teilhabeleistungen der Rentenversicherung (§ 16 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI] iVm § 49 SGB IX), auf Leistungen nach dem Arbeitsförderungsrecht in Form von Teilhabeleistungen am Arbeitsleben (§§ 112 ff Sozialgesetzbuch Drittes Buch [SGB III]) sowie ein Anspruch nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (Pflegeversicherung, § 40 Abs 1, Abs 5 SGB XI) werden vom Kläger nicht verfolgt und sind auch für den Senat nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R8749


Informationsstand: 27.08.2021